Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten 2008, 2008

6. Passionsandacht über Mk. 15,2-15, verfasst von Ulrike Wagner-Rau

Liebe Gemeinde,

 

die erzählte Welt hat ihre eigene Wirklichkeit, die sich von der Welt der Ereignisse selbst unterscheidet. Von dem, was vor der Kreuzigung Jesus geschah, kennen wir wenig historisch zuverlässige Einzelheiten. Aber wir haben die Erzählungen darüber, wie es gewesen sein könnte. In der Erzählung des Markus sind wir heute angelangt beim Prozess Jesu vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus. Es geht um das Todesurteil und damit die Frage: Wer ist schuld am Tod dieses Unschuldigen?

Das Markus-Evangelium erzählt diese Geschichte auf eine besondere Weise. Man kann mit guten Gründen vermuten, dass die Ereignisse nicht genauso abgelaufen sind, wie erzählt wird.

Nach allem, was wir wissen, fehlte den Juden damals die Möglichkeit, jemanden zum Tode zu verurteilen, und so wurde Jesus nach römischem Recht verurteilt, und zwar zum Tod durch Kreuzigung, die sich als römische Form der Todesstrafe von der jüdischen Strafe der Steinigung unterschied. Es ist möglich und wahrscheinlich, dass Mitglieder der jüdischen Oberschicht daran mitgewirkt haben, dass es so kam. Sicher aber war es nicht das jüdische Volk insgesamt.

In der Geschichte über die Ereignisse fällt die Differenz zwischen dem „römischen" Prozess und dem „jüdischen" Begehren nach einem Todesurteil auf. Die faktischen Vollzüge geben auf die Frage, wer die Verantwortung für das Todesurteil trägt, eine klare Antwort: Es ist der römische Statthalter, der durch sein Wort die Ereignisse einleitet. Die Erzählung aber lässt diese Klarheit verschwimmen. Wenn wir sie hören, werden wir zu einer anderen Parteinahme gedrängt.

Ist Pilatus nicht eigentlich überzeugt von der Unschuld dieses Angeklagten? So kann es uns jedenfalls erscheinen, wenn wir die Geschichte hören. Und zeigt sich nicht, dass er die Motive der Anklage für unlauter hält? Läge es ihm nicht näher, Jesus freizugeben? Das Volk hingegen wird uns als aufgewühlte Menge präsentiert, die sich den Einflüsterungen ihrer Anführer ausliefert. Liegt nicht in der Entscheidung der Vielen und ihrer Hysterie die eigentliche Schuld verborgen? Und ist nicht der doppelte Aufschrei, der die Kreuzigung Jesu fordert, schrecklicher und böser als die feinsinnigen Skrupel des römischen Beamten?

Kein Zweifel: Die Erzählung hat Interessen. Sie bleibt zwar in der Nähe der Ereignisse, aber sie erzählt sie so ins Ohr der Hörerinnen und Hörer, dass sie verlockt werden, Pontius Pilatus zu entlasten, die jüdische Menge aber als die eigentlichen Schuldigen anzusehen.

Heute, viele Jahrhunderte später, wissen wir, dass diese Akzente im Erzählen immer wieder dazu beigetragen haben, Gewalttaten gegen jüdische Menschen zu motivieren. Die, denen die Schuld am Tod Jesu „anerzählt" wurde, sind selbst zu Opfern geworden, und andere sind an ihnen schuldig geworden - viele Male. Es ist die Geschichte über eine behauptete Schuld, die ihrerseits eine schreckliche Schuldgeschichte hervorgebracht hat.

Nach dem Holocaust haben sich Theologie und die Kirche mit dieser Schuldgeschichte auseinander gesetzt. Dadurch sind wir empfindlich geworden für die Differenz zwischen den Ereignissen selbst und die Art, wie darüber erzählt wird.

Aber warum wurde so und nicht anders erzählt? Wir können nur Vermutungen anstellen. Indem Menschen Geschichten erzählen, verarbeiten sie, was sie erlebt haben. Was sich ereignet, wird geordnet durch Sinn und Struktur des Erzählens.

Hinter der Geschichte über den Prozess Jesu lassen sich die Konflikte in der Anfangszeit des Christentums erahnen. Nur eine kleine Zahl von Menschen hatte ja in Jesus den Christus erkannt. Schmerzhafte Auseinandersetzungen und Unterscheidungen innerhalb des Judentums sind die Folge. Die Situation ist aufgeladen, von Konflikten und wechselseitiger Verunsicherung bestimmt. Man kann sich gut vorstellen, dass dadurch die Frage „Wer ist schuld?" auf eine umfassendere, neue Weise gestellt wurde. Es ging nicht mehr nur um die Verantwortung für den Tod Jesu, sondern auch darum, dass sich in der Folgezeit gerade an der Bedeutung dieses Todes für Leben und Glauben die Geister schieden.

Wie erzählen wir selber Geschichten über die Schuld, in die wir persönlich direkt oder indirekt verwickelt sind? Welches Maß an Klarheit ist dafür nötig? Welche Zwischentöne und Differenzierungen können wir zulassen? Und schließlich: Können wir uns die Trauer erlauben über das, was immer wieder nicht gelingt zwischen uns Menschen?  Darüber, dass Trennungen und Konflikte, Verletzungen und Gewalt eben kein Ende haben, sondern sich fortsetzen?

Wenn es schwierig wird, sich zu verstehen und zu verständigen, greifen Menschen leicht zu der Lösung, Geschichten so zu erzählen, dass die anderen schuld sind. Das ist im wörtlichen Sinn eine „Notlösung", denn man hält sich damit Beunruhigung und Ängste vom eigenen Leib.

Wir sind aber angewiesen darauf, dass der Kreislauf von Schuld und Gewalt unterbrochen wird. Manchmal gelingt es Menschen, das zu tun. Gott sei Dank! Schuldige gestehen sich und anderen ihre Schuld ein, betrauern sie und suchen nach Wiedergutmachung. Opfer finden durch die Anklage und den Wunsch nach Rache hindurch einen Weg, der schließlich etwas wie Versöhnung ermöglicht oder jedenfalls ein erträgliches Miteinander.

Jesus, so wird erzählt, sagt vor Pilatus kaum ein Wort. Er verteidigt sich nicht, und er klagt nicht an. Schuldzuweisung, Rache und Gewalt kommen in seiner Gestalt an ihr Ende. Aus dem Glauben, der sich darin verkörpert, leben wir: dass uns Menschen trotz allem, was wir einander und Gott schuldig bleiben, Liebe versprochen ist. In diesem Glauben liegt die Freiheit, Schuld zu benennen, aber auch die, nicht auf ihr zu bestehen - weder auf der Schuld anderer noch auf der eigenen. Und durch diesen Glauben sind wir verantwortlich und sollen uns fragen: Wo bin ich selbst verstrickt? Und wie erzähle ich meine eigenen Schuldgeschichten?

Amen.

 



Prof.Dr. Ulrike Wagner-Rau

E-Mail: wagnerra@mailer.uni-marburg.de

(zurück zum Seitenanfang)