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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten 2008, 2008

Schlussbetrachtung: Gedanken über den Schmerzensmann, verfasst von Wolfgang Vögele

1. Theologische Ouvertüre im Mittelalter

Bilder vom Schmerzensmann gehören in das Standardrepertoire mittelalterlicher Bildkunst. Der Gekreuzigte ist darauf zu sehen - mit den Nägelmalen an Händen und Füßen sowie mit der Stichwunde an der Seite unter den Rippen. Manchmal erhebt der Gekreuzigte drei Finger seiner Hand zu einer Segensgeste.

Darstellungen des Gekreuzigten waren im Mittelalter besonderen malerischen wie theologischen Konventionen unterworfen. Die Künstler arbeiteten nach Bildregeln, die besondere theologische Entwicklungen widerspiegeln. An ihnen lassen sich außerordentlich spannende Wechselwirkungen zwischen Kunst- und Kulturgeschichte sowie theologischer Geistesgeschichte ablesen.

Die menschliche Rede von Gott ist durch die Jahrhunderte hindurch einem tief greifenden und facettenreichen Wandel unterworfen. Besonders deutlich zeigt sich das am Mittelalter. Im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter übernahmen die europäischen Völker den monotheistischen Gott der Bibel und setzten ihn an die Stelle einer polytheistischen heidnischen Götterwelt. Dieser Übergang jedoch nahm Zeit in Anspruch, und er vollzog sich keineswegs reibungslos: Die monotheistische Theologie konnte sich nicht vollständig durchsetzen, sie war im Christentum vor allem wegen der Trinitätslehre gar nicht angelegt. Deswegen entwickelten sich unter der monotheistischen Fassade aus der Trinitätslehre heraus neue theologische Entwürfe, die den Akzent jeweils auf eine der drei Gestalten Gottes legten. Die Kirche konnte so die weiterhin vorhandenen alten theologischen Vorstellungen assimilieren, wenn nicht integrieren.

Sie fing solche Strömungen auf, indem sie auf dem Boden der Trinitätslehre bald die eine, bald die andere Person der Trinität betonte. Der Gott, der Geist ist, unterscheidet sich vom Gott, der Mensch geworden ist, und dieser wiederum unterscheidet sich von dem Gott, den die Menschen als Vater ansprechen. Gott wird im Mittelalter in unterschiedlichen theologischen Entwürfen gedacht und in unterschiedlichen Frömmigkeitsformen verehrt.

Aus der Kirchengeschichte ergeben sich bestimmte Lernvorgänge. Der Glaube hat eine Geschichte. Er ist nicht nur die Mischung aus Vertrauen und Dogmatik, auf die ihn die Theologie oft reduzierte; er verbindet sich mit kulturellen Lebensformen, wirkt sich auf sie aus und formt sie neu.

Mit der Marienverehrung kam im Mittelalter ein weiterer Aspekt hinzu: Man nahm ein weibliches Element in die Theologie und Spiritualität auf. Viel wichtiger allerdings wurde, wie der französische Historiker Jacques Le Goff herausgearbeitet hat, jener andere, veränderte und verändernde theologische Gedankengang, der sich auf das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi bezog. Im Ausgang des Mittelalter formte sich ein neues Gottesbild. Die theologische Aufmerksamkeit kehrte vom monotheistischen strengen Vater zum gottmenschlichen Sohn zurück. Das Mittelalter entdeckte den Gott, der Mensch wurde, neu.

2. Richter oder Angeklagter?

Glauben ist mit Sehen und Hören verbunden. Zwar preist Jesus diejenigen selig, die nicht sehen und doch glauben. Aber dennoch gilt: Wer glaubt, der hat ein bestimmtes Bild des Jesus von Nazareth vor Augen:

•-         den Redner und Prediger, der vor riesigen Menschenmengen über die Hoffnung auf Gottes Reich spricht;

•-         den Richter am Ende der Zeit, der gerechte Urteile fällt und gleichzeitig als Fürsprecher der Menschen auftritt;

•-         den Wunderheiler, den die Krankheiten und Gebrechen leidender Menschen nicht in Ruhe lassen;

•-         den Gekreuzigten, der selbst leidet und gefoltert, verurteilt, verspottet wird;

•-         den Auferstandenen, die visionäre Erscheinung, so sehr strahlend, dass sein Anblick blendet.

In all diesen Facetten haben Künstler aller Epochen der europäischen Kulturgeschichte den Menschen Jesus von Nazareth wieder und wieder dargestellt, darunter Maler wie Matthias Grünewald und Musiker wie Johann Sebastian Bach.

Drei Bilder des Jesus von Nazareth finden dabei besondere Aufmerksamkeit: der Gekreuzigte, der Auferstandene und der Weltenherrscher. Und aus diesen Jesusbildern lässt sich jeweils eine bestimmte Glaubensgestalt ableiten.

Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Durch das gesamte Mittelalter hindurch war die Kunst, vor allem Malerei und Bildhauerei, von Darstellungen und Szenen aus dem Leben Jesu bestimmt. Gegen Ende des Mittelalters vollzogen sich plötzlich gewichtige Veränderungen: Künstler des frühen Mittelalters zeigten auf Altarbildern und Wandfresken zunächst vor allem den auferstandenen Christus, den Pantokrator, den Herrscher über die ganze Welt und den Kosmos. Als Herrscher war Christus zugleich Richter, Weltenrichter, unnahbar und unbestechlich, unbeirrbar in seiner Gerechtigkeit.

Doch dann rückte statt des Richters der gekreuzigte, der leidende, der menschliche Christus in den Mittelpunkt. Ein ganz anderes Motiv aus dem Leben Jesu schob sich in den Vordergrund. Jesus Christus ist plötzlich nicht mehr der unnahbare, richtende Gottessohn

sondern der leidende, der kranke, der gequälte Mensch. Der, der sein Kreuz auf sich nimmt. Strenge und Distanz verwandeln sich in Mitleid und Empathie. In Christus, dem Richter, herrschen Allmacht und Gerechtigkeit Gottes. In Christus, dem leidenden Gekreuzigten, treten Mitgefühl und Menschlichkeit hervor.

Und solche Bilder vom leidenden und gekreuzigten Christus hängen nicht mehr nur in den Kathedralen und Münstern, sondern plötzlich auch in Krankenhäusern. Man denke an die bekannten Tafeln des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald. Dieser Altar, der heute in Colmar im Museum Unterlinden zu sehen ist, stand ursprünglich in einem Kloster. Die Antoniter-Brüder betrieben dieses Kloster als ein Krankenhaus. Das Altarbild mit der Tafel vom leidenden Christus am Kreuz sollte die schwer kranken Menschen trösten. Der Sohn Gottes leidet wie die Menschen. Grünewald dachte dabei wohl nicht an eine historische Darstellung der Kreuzigungsszene; er wollte malend und deutend den Kranken die Geschichte des Leidens Jesu auslegen. Das Bild, um es zugespitzt zu formulieren, sollte heilende Wirkung entfalten.

3. Passion sehen und hören

An den Altartafeln Grünewalds, die gerade in einer bemerkenswerten Ausstellung in Karlsruhe und Colmar wieder zu sehen waren, dämmert plötzlich die Erkenntnis: Die Menschwerdung Gottes bedeutet eine Anerkennung und Aufwertung des Menschen. Wenn Gott selbst am Kreuz leidet, dann nimmt er auch die Leiden und Krankheiten der Menschen ernst. Wenn Gott selbst leidet und deshalb die Leidenden, die Schwachen, die Traurigen ernst nimmt, so ist das sozial und kulturell aus dem Kirchenraum in die Lebenswelt der Menschen zu übertragen. Daraus entsteht eine Verpflichtung, sich um die Kranken, die Alten und die Leidenden zu kümmern. Aus diesem einfachen Gedanken heraus entstanden im Mittelalter und noch heute Krankenhäuser, Einrichtungen der Armenpflege, Alten- und Pflegeheime, diakonische und caritative Werke.

Das jammervolle Bild vom leidenden Jesus am Kreuz ist vielschichtig und komplex. Das Bild vom Gekreuzigten hat eine heilende Wirkung, aber nicht in einem platten und mirakelhaften Sinn. Es ist nicht so, dass sofort gesund wird, wer nur das Bild betrachtet. Sondern es geht um einen tieferen Sinn: Gott wird Mensch. Gott solidarisiert sich mit den Leidenden. Leiden und Krankheit haben ihre eigene Würde. Und der Kranke kann seine eigenen Wunden und Gebrechen in den Wunden und Gebrechen des Gekreuzigten erkennen.

Der Blick auf das Bild des Gekreuzigten nimmt den Kranken und den Leidenden in die Leidensgeschichte Jesu mit hinein: Gott ist Mensch geworden. Gott steht besonders dem kranken, leidenden Menschen bei. In Jesus Christus verwandelt der kranke Mensch sich vom Leidenden in den Auferstandenen. Jesus Christus nimmt Leiden, Tod und Auferstehung aller Kranken (und aller Menschen) vorweg. Das ist im tieferen Sinn die Heilung, die auf den Bildern des gekreuzigten und des auferstandenen Christus in einem tieferen Sinn zu „sehen" sind.

Was hier am Beispiel der Altartafeln Matthias Grünewalds demonstriert wurde, kann auch auf Bachs Passionsmusik übertragen werden. Bach komponiert seine Musik nicht als musikalisch-historische Wiederholung der Kreuzigungsgeschichte. Ihm geht es darum, die Beteiligung der Zuhörer an dieser Geschichte expressiv und emotional herauszustellen. Ich will dafür einen kleinen Umweg gehen und eine Stuttgarter Operninszenierung von Bachkantaten aus dem Jahr 2007 beschreiben.

4. Alltag im Guckkasten

Auf der Opernbühne ist der Aufriss eines Mietshauses zu sehen. Der Aufbau erinnert an ein bürgerliches Puppenhaus:  Nussbaumfarbene Wände begrenzen die Zimmer, die nach vorne, zu den Zuschauern hin, offen sind. Ein Treppenhaus gewährt Zugang zu den Wohnungen auf den Stockwerken. Das Theater des Alltags erinnert an einen Setzkasten, der für jede Kleinigkeit ein besonderes Fach bereithält. Die Idee für diesen Setzkasten erhielt der Regisseur durch mittelalterliche Altartafeln, die auf- und zugeklappt werden konnten. Und wirklich entdeckt der Zuschauer ganz unten, dort wo sich im Mietshaus der Keller und auf dem Altar die Predella befindet, die lebensgroße Figur des toten Christus, dem berühmten Gemälde von Hans Holbein nachempfunden. Neben dem lang gestreckten Leichnam steht ein rotes Totenlicht, wie es Katholiken an Allerheiligen auf die Gräber zu stellen pflegen.

Der Zuschauer wird zum Voyeur des Alltags: Er sieht die unauffälligen Mietshausbewohner bei ihren täglichen Routinen. Auf der Treppe steht ein Liebespaar, das eine neue Wohnung mieten will. Ein Briefträger sucht nach einer bestimmten Adresse. Eine junge Frau probiert ein neues Kleid an. Ein Polizist läuft kontrollierend durch die Gänge. Schwarz gekleidete Bestattungsunternehmer tragen einen Sarg aus dem Haus. Das Theater wird zum Guckkasten. Männer und Frauen jeden Alters sind mit den alltäglichen Dingen des Lebens beschäftigt: Bilder aufhängen, lieben und küssen, Staub wischen, Fitnessübungen machen, beten, Kalenderblätter abreißen, Geld zählen.

Das wäre nun keinen Opernabend wert, wenn die Alltagsroutine dieser Menschen nicht von Musik kommentiert und begleitet würde. Und wirklich, nach einigen Minuten stiller, wuselnder Beschäftigung setzt Musik ein: Der Sportler und die Büglerin, der Polizist und Diakonisse und all die anderen Menschen im Guckkasten singen Bachkantaten, als Soloarien, als Chor, als Rezitativ. Insgesamt sechs Kantaten kommen zur Aufführung, darunter der bekannte Actus tragicus „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" (BWV 106).

Zwischen all den beschäftigten Menschen schleicht der Tod umher, eine schwarze gekleidete Figur, die neugierig und leise den fleißigen oder verzweifelten Menschen über die Schulter schaut. Aber die beschäftigten Menschen bemerken den Tod nicht, wahrscheinlich ist er ihnen gleichgültig. Und ein Pfarrer geht durch die Wohnungen. Auch ihn bemerken die Menschen kaum, wenn er in allen Räumen ein Kreuz aufhängt. Dreimal geht er durch alle Räume, um Kreuze aufzuhängen. Dreimal hängt er sie auch wieder ab.

Je länger das Stück dauert, desto verblüffter bemerkt der Zuschauer: Die Menschen wiederholen sich in ihren Alltagsroutinen. Immer wieder setzt sich die eine Familie an den Mittagstisch, um ihren Eintopf zu essen. Immer wieder probiert die junge Frau ein neues Kleid an. Immer wieder feiert die andere Familie Weihnachten rund um den Christbaum.

Alltag ist beständige Wiederholung: Sie kann in Routine, Langeweile und Überdruss, schließlich bis zur Verzweiflung führen, sie kann aber auch Prozesse der Reifung und Vertiefung auslösen. Die Menschen sind im Setzkasten ihres Alltags gefangen, und in diesem Setzkasten ist alles von Wiederholung bestimmt - mit einer Ausnahme.

Und diese Ausnahme bildet Bachs Kantatenmusik: Wie in einem Traum reißt sie die Menschen aus ihren Alltagsroutinen heraus. Sie weitet die Perspektive aus den engen und begrenzten Räumen des Mietshauses hinein in eine Ewigkeit, welche die Menschen in ihren täglichen Verrichtungen nicht mehr spüren. Die meisten von ihnen merken es nicht, wie sie auch den Tod nicht bemerken. Der schlägt einmal kräftig die Trommel zum Totentanz. Das lässt sie aufhorchen, die beschäftigten Menschen, aber mehr auch nicht.

In Stuttgart war dieser faszinierende Abend mit Bachkantaten im letzten Jahr zu sehen, eine Arbeit des leider früh verstorbenen Basler Regisseurs Herbert Wernicke. Staunend konnte das Publikum erleben, wie hier in einem Opernhaus Malerei, Kirchenmusik und Schauspiel eine gelungene Synthese eingingen: Plötzlich sah und hörte und spürte man auf der Opernbühne theologische Kommentare, wie man sie sonst nur in Predigten erwarten würde. Da gelang es einem Regisseur, behutsam und ohne moralische Untertöne Alltag und Ewigkeit miteinander in Verbindung zu bringen. Er tat das nicht predigend - das war auch nicht seine Aufgabe -, sondern fragend und zweifelnd. Unaufdringlich sympathisierte er mit den Antworten, die Bach und seine Kantatendichter auf die Fragen nach dem Tod und dem Alltag und dem Sinn des Lebens gefunden haben. Der Zielpunkt der Stuttgarter Bachkantaten-Aufführung war die Frage nach dem Tod.

Bachs musikalische Darstellung der Passionsgeschichte des Matthäus verschärft diese Frage noch einmal, indem sie den Zusammenhang von Tod, Leiden und Schmerz, von Unschuld, Versöhnung und Vergebung in den Mittelpunkt stellt. Und es ist eine Frage, wie man Bachs barocke Passionsmusik in der Moderne hören kann.

5. Eine musikalische Passionserzählung

Gottes Menschwerdung, Leben und Krankheit, Ohnmacht und Schmerz: Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen höre ich Bachs Passionsmusik. Es geht um weit mehr als um eine musikalische Lautmalerei. Die Passionsgeschichte soll nicht einfach in Tönen nacherzählt werden. Zuerst - in mündlicher und schriftlicher Tradition - verwandeln sich die Ereignisse der Heilsgeschichte in eine komplexe Evangelienerzählung mit Spannung, Dramatik und traumatischem Ende. Diese schriftliche Erzählung wird verwandelt in die musikalische Gattung einer Passionsmusik mit Arien und Chören, Tönen und Harmonien.

Bach nimmt als Komponist das auf, was Grünewald als Maler angefangen hat. Beide interessieren sich in besonderer Weise für diejenigen, die ihre Kunstwerke rezipieren, Grünewald für die Betrachter und Bach für die Hörer. Beide - Betrachter wie Hörer - werden durch Musik und Malerei in das Kunstwerk sozusagen hineingezogen. Sie können sich ihm im wahrsten Sinne des Wortes nicht entziehen.

Tua res agitur! Um deinetwillen musste Jesus leiden - und das findet in Bachs Musik seinen Ausdruck in den Chorälen und kontemplativen Arien der Matthäuspassion:

„O Mensch, bewein dein Sünde groß,/ Darum Christus seins Vaters Schoß/ Äußert und kam auf Erden;/ von einer Jungfrau rein und zart/ Für uns er hie geboren ward,/ Er wollt der Mittler werden./ Den Toten er das Leben gab/ und legt darbei all Krankheit ab,/ Bis sich die Zeit herdrange,/ Dass er für uns geopfert würd,/ Trüg unsrer Sünden schwere Bürd/ Wohl an dem Kreuze lange." (Nr. 29, Choral)

Noch einmal ganz anders als im Musiktheater der Oper wird der Zuhörer in die Musik hineingezogen, und diese besondere Anteilnahme ergibt sich aus der Verknüpfung von Theologie und Musik. Um aller Menschen willen hat Jesus von Nazareth am Kreuz gelitten. Und damit geht eine Veränderung beim Zuhörer einher. Er kann seine Distanzierung nicht aufrecht erhalten.

Für die aufgeklärte Liebesgeschichte zwischen Pamina und Tamino in Mozarts „Zauberflöte" oder für die tragischen Verwicklungen des Malers Cavaradossi in die Befreiung von Revolutionären aus der römischen Engelsburg in Puccinis „Tosca" empfindet der Opernbesucher freundliche oder mitleidende Sympathie. Sie wird ermöglicht durch die nicht zu überschreitende Grenze zwischen Opernbühne und Zuschauerraum: Gerade aus dieser Distanz heraus entstehen empathische Gefühle für die Opernfiguren. Zwischen dem Guckkasten und den täglichen Routinen des Alltags bleibt ein Graben bestehen, der nicht überschritten werden kann - und auch nicht überschritten werden soll.

In Bachs Passionsmusiken sind diese Distanzierungen in mehrfacher Weise aufgehoben. Zu Bachs Zeit war es durchaus üblich, dass die beteiligten Zuhörer als Gottesdienstbesucher die Choräle mitsangen. Und die Anlage der Matthäuspassion zeichnet sich dadurch aus, dass Bach eben nicht nur die Passionsgeschichte nacherzählt, sondern er verwebt mit der Passionsgeschichte die Beteiligung des Zuhörers, namentlich in Gestalt der erwähnten meditierenden Arien und Choräle. Die Bühne, wenn man davon überhaupt sprechen will, ist also kein Guckkasten, dessen Betrachtung man sich unbeteiligt und distanziert hingeben könnte, sondern der Ort der Darstellung des Dramas Jesu Christi. Dieses Drama ist das menschliche Drama schlechthin. Die Koordinaten dieses Dramas werden bestimmt durch die Stichworte Leiden, Sünde, Krankheit, Versöhnung, Schmerz, Vergebung, Tod.

Mit den Worten des Evangelisten nach der Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha: „Das gehet meiner Seele nah." (Nr. 59, Rezitativ)

6. Alltag, Moderne und Passion

Nun könnte der letzte Abschnitt zu der Annahme verführen, die Bach'sche Matthäuspassion könne nur von Christenmenschen angemessen gehört und wahrgenommen werden. Interessanterweise lehnten die Dresdner Pietisten des 18. Jahrhunderts anfangs die Matthäuspassion ab, denn sie fanden sie zu opernhaft und zu theatralisch.

In der Moderne, dreihundert Jahre nach ihrer Ur-Aufführung im Jahr 1729, hat sich der Abstand zwischen den Hörern und der Bach'schen Musik nochmals vergrößert. Handelt es sich nur um Musik? Gehört eine solche Aufführung unbedingt in eine Kirche? Wie hören diejenigen die Bach'schen Arien und Choräle mit ihren theologischen und seelsorglichen Reflexionen, die zum christlichen Glauben keinen Zugang mehr finden?

Es unterscheidet das Zeitalter des Barock von der Moderne, dass die Frage nach Leiden und Schmerzen anders gestellt wird. Wo Bach die Passionsgeschichte des Matthäus musikalisch nacherzählt und im wahren Sinne des Wortes seinen Finger auf eine Wunde legt, da steht in der Moderne eine Form der Schmerz- und Leidvergessenheit, die durch die Unterhaltungsmedien zum Gemeingut geworden ist. Schmerzen sind nur dazu da, um sie „abzuschalten". Ein Beispiel: Der angeschossene Kriminalkommissar im „Tatort" läuft schon in der nächsten Szene schmerzfrei durchs Bild. Andere denken, wenn sie Kopf- oder Rückenschmerzen haben, an die Werbung für Aspirin oder Paracetamol. Wem es nicht gut geht, der wirft einfach zwei Tabletten ein, kippt einen Schluck Wasser nach und ist nach zwanzig Minuten frei von Beschwerden. Bilder von leidenden Menschen passen nicht auf den Bildschirm des Fernsehens oder auf die Kinoleinwand.

Der Kontrast zwischen Bachs Passionsmusik und der Leidensvergessenheit moderner Unterhaltungsmedien könnte kaum größer sein. Und dennoch lässt uns gerade dieser Kontrast erneut zu der überwältigenden emotionalen Kraft von Bachs Musik finden. Es gelingt ihm, diese Passion des Jesus von Nazareth, von der Verhaftung über die Kreuzigung bis zum Tod, in einer Weise musikalisch zu erzählen, dass sie Zuhörer in einer ergreifenden Weise anregt, ihre eigenen Fragen zu stellen. Sie ist nicht dogmatisch eine Wiederholung der Glaubensgeschichte, sie bestätigt nicht Glaubensrichtigkeiten, sondern sie gibt einen zutiefst anrührenden, aber auch verstörenden und ungeheuerlichen Impuls, Erfahrungen mit Leiden und Glauben zu machen. Sie ist eine Anregung, Erfahrungen von Schmerz und Leid auf eine Weise zu verarbeiten, dass der gequälte Mensch nicht im Aufschrei untergeht, sondern beides, Schmerz und Leid, verwandelt in eine Erfahrung, an deren Ende Vergebung und Versöhnung stehen.



PD Dr. Wolfgang Vögele

E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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