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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Johannes Calvin, 2009

Calvin als Schriftausleger und Prediger, verfasst von Eberhard Busch

1. Die theologischen Voraussetzungen von Calvins Schriftauslegung und Predigt

Man mache sich hier zunächst Calvins Lehre vom dreifachen Leitungsamt in der Gemeinde klar! In seiner Kirchenordnung von 1562 unterscheidet er zwar vier gemeindeleitende Ämter[1], aber bei näherem Zusehen merkt man, dass für ihn tatsächlich die Ämter des Predigers und des theologischen Lehrers oder Schriftauslegers aufs engste zusammengehören. Tatsächlich redet er in der Kirchenordnung in der Hauptsache nur von der ersten Aufgabe - und nur kurz von der Unterstützung der ersteren durch die letztere (nicht weil die letztere so unwichtig ist, sondern weil von ihr im Zusammenhang mit der ersteren auch schon geredet worden ist). So ist es nicht verwunderlich, dass er in der Institutio[2] nur von drei gemeindeleitenden Ämtern redet. Diese entsprechen den drei Ämtern Christi: dem des Priesters, des Königs und des Propheten. Jene unterscheiden sich von diesen schon äußerlich dadurch, dass sie in der Gemeindeleitung nicht in einer Hand liegen dürfen. Und sie unterscheiden sich von ihnen in der Sache vor allem dadurch, dass sie nicht wiederholen, sondern nur eben bezeugen, was Jesus selbst getan hat und allein tut - oder genauer: Durch sie bezeugt sich er selbst.

Man beachte ferner, dass in der Gemeindeleitung die Doppelaufgabe des Schriftauslegens und Predigens weder dem königlichen noch dem priesterlichen Amt Christi entspricht. Die heutigen Pfarrer würden sich schlicht anders aufführen, wenn sie das beherzigten. Die Leiter der Gemeinde sind nach Calvin die Presbyter, und im Dienst des priesterlichen Wirkens Christi stehen die Diakone. Die Aufgabe des Schriftauslegers und Predigers hingegen entspricht dem prophetischen Amt Christi, in dem er den Willen Gottes verkündet hat.
Diese Doppelaufgabe pflegt Calvin unter dem Begriff eines „Lehrers" zusammenzufassen, und dieser Begriff wiederum verbindet sich für ihn mit dem eines „Wächters". Ein Lehrer heißt er, weil er unbedingt die Schrift auszulegen und nach ihr zu „lehren" hat. Ein Wächter heißt er, weil er „von Gott gleichsam auf eine Warte gestellt" ist, damit er „für das allgemeine Wohl" wache.[3] Beides gehört zusammen, indem es hier um ein vom Geist Gottes regiertes, ihm strikt gehorsames Reden geht.
Der Prophet „soll die Worte aus Gottes Munde hören." Es muss „ein Lehrer auf den redenden Gott hören" und „im Namen Gottes seine Mahnungen aussprechen, also sich als Gottes Diener und Zeuge zu erkennen geben". Bernard Cottret spricht trefflich von einer „sakralen Eloquenz" bei Calvin, womit gemeint ist, dass der Lehrer als Lehrer zugleich auch Schüler sein muss, oder wie Calvin selbst zugespitzt sagt: „Ich rede, doch muss ich selber mich hören, wie ich angeleitet werde vom Geist Gottes."[4] Wohl darum hat er seine Exegesen und Predigten nicht still in einer Kammer schriftlich ausgearbeitet und dann vorgetragen, sondern er hat sie in freier Ansprache dargeboten, und dabei wurden sie von Schülern aufgeschrieben.

Die Zusammengehörigkeit von Predigt und Schriftauslegung bei Calvin wird auch durch den Umstand unterstrichen: Er hat beide Aufgaben in einer Person ausgeübt, und diese waren fraglos Zentrum seines Wirkens, seine Haupttätigkeit. Beide Aufgaben waren gewiss nicht dasselbe. In seinen Exegesen hat er eine Menge historischer und sprachlicher Erkenntnisse einbezogen und verschiedene Deutungen von Versen und Kapiteln gegeneinander abgewogen, was in seinen Predigten so nicht unternommen ist. Und während die geistlichen Erklärungen dort zuweilen kurz und knapp sind, sind sie hier dann breit ausgeführt.
Gleichwohl sind die Auslegungen einander sachlich verwandt. Sie sind es dadurch, dass Calvin beide Male mit dem Text umgeht in der Anerkennung, es hier mit dem entscheidenden Zeugnis von Gottes Wort zu tun zu haben. Darum begann und schloss er nicht nur seine Predigten, sondern auch seine Vorlesungen mit einem Gebet, was die große Ausgabe der Calvini Opera unterschlagen hat. Das Anfangsgebet lautete stets so: „Der Herr gebe, dass die Beschäftigung mit den Geheimnissen seiner göttlichen Weisheit unsere Frömmigkeit wahrhaft befördere, zu seiner Ehre und zu unserer Erbauung. Amen."[5] Die Vorlesungen schlossen jeweils mit verschiedenen kurzen freien Gebeten, die meist mit einem eschatologischen Ausblick endeten, eingeleitet mit der Wendung „, ... bis endlich ..."[6] Gerade diese Vorlesungsgebete weisen auf Calvins Verständnis der Theologie als eine auf den kirchlichen Gottesdienst bezogene Wissenschaft hin.

Es gab überdies einen besonderen Grund für die Nähe von Predigt und Schriftauslegung bei diesem Reformator: Die Predigten waren wie die theologischen Exegesen (zumeist) fortlaufende Auslegungen ganzer biblischer Bücher. Schon für Zwingli war dies der erste Schritt zur Reformation, dass er bei seinem Amtsantritt am 1. Januar 1519 so verfuhr: „Predigt nach Schriftprinzip, ... gegen alle humana traditio; dementsprechend lectio continua statt Perikopenordnung".[7] Oder sagen wir: Nicht die Kirche schreibt vor, welche ausgewählten Stücke aus der Schrift zu predigen sind, sondern die Schrift selbst bestimmt im Gang ihrer einzelnen Bücher, was wir zu hören haben.
Calvin ging wohl freier mit dieser Entdeckung Zwinglis um, aber weithin folgte er doch der lectio-continua-Ordnung. Das hing schon mit seiner grundsätzlichen Einstellung zusammen, dass die Versammlung der Christen-Gemeinde nicht durch das zirkulare Denken des Jahreskreises bestimmt sein soll, sondern durch die Wanderung von einem bestimmten Anfang - sagen wir: vom Aufbruch Israels aus Ägypten her - auf das eschatologische Ziel hin, gewiss bestimmt durch den Geist des sich seiner Menschen annehmenden Versöhnergottes in Jesus Christus.

Es ist nun weiter wichtig, sich das eigentümliche Verhältnis Calvins zur Heiligen Schrift klar zu machen. Er gibt sich darüber Rechenschaft in seinem „Unterricht des christlichen Glaubens" (Institutio[8]).
Die Wirklichkeit, auf der die Heilige Schrift beruht und von der die Kirche lebt, ist das Ereignis: Gott „öffnet selbst seinen heiligen Mund" (I 6,1). Darum „kommt niemand auch nur zum geringsten Verständnis rechter und heilsamer Lehre, wenn er nicht zuvor ein Schüler der Schrift wird. Da liegt der Ursprung wahren Erkennens: wenn wir mit Ehrfurcht annehmen, was Gott hier von sich selber hat bezeugen wollen. Denn ... alle rechte Gotteserkenntnis entsteht aus dem Gehorsam" (6,2). Ohne sie gehen wir in die Irre. „Es ist also besser, auf diesem Weg zu hinken, als auf einem Abweg zu rennen" (6,3).
Die Schrift hat ihre Autorität nicht von der Kirche, sondern umgekehrt: Die Kirche ist auf die Schrift gegründet (I 7,1f.). Freilich ist die Bibel nicht im direkten menschlichen Zugriff erkennbar als Heilige Schrift, durch die Gott zu uns reden will, auch wenn sie dazu einige Hinweise gibt. Wirklich überzeugt davon werden wir allein durch das „geheime Zeugnis des Heiligen Geistes" (I 7,4f.). Und das heißt: Nur Gott selbst kann uns die Schrift zu dem Zeugnis machen, durch das Gott mit uns redet.


2. Das Verhältnis der Testamente

Paul Wernle hat dazu tadelnd bemerkt: Calvin „leugnet geradezu den Unterschied des Alten und des Neuen Testaments, schließt seine Augen vor allen neuen Worten, die Jesus in die Welt brachte, und setzt ihn auf die Stufe eines richtigen Auslegers des alten Mose herab."[9] Richtig an diesem schiefen Urteil ist, dass Calvin in der Tat interessiert ist, die Einheit der beiden Testamente zu betonen. Nicht ihre Einerleiheit! Aber von 1539 in seiner Straßburger Zeit an weiß er, dass das Alte Testament weder eine bloße Vorstufe zum Neuen Testament ist noch geschweige im Gegensatz zu ihm steht, sondern beide Testamente sind Zeugnis von der Offenbarung desselben Gottes, und sie sind daher der „Substanz" nach eines (II 10,2). Denn es geht hier wie dort um [den]selben Bund Gottes mit bestimmten Menschen. Es geht hier wie dort darum, dass der Mensch nicht durch sein Verdienst, sondern durch Gottes freie Barmherzigkeit das Heil erlangt in der Hoffnung auf das ewige Leben. Und hier wie dort wird bezeugt, dass das Erbarmen Gottes nicht bloß eine göttliche Gesinnung ist, sondern durch den verheißenen Mittler gewährt wird. Die Zusammengehörigkeit der beiden Testamente bedeutet für Calvin nicht nur, dass das Alte Testament nicht vom Neuen Testament zu trennen ist, sondern auch, dass das Neue Testament nicht verstanden wird ohne das Alte Testament.

Doch betont Calvin nun auch, dass die in ihrer Substanz einheitlichen beiden Testamente hinsichtlich ihrer Darbietung oder Austeilung (administratio) verschieden sind. Das also ist hier die grundsätzliche These: „Der Bund mit den [alttestamentlichen] Vätern ist im Wesen und in der Sache selbst von dem unsrigen nicht zu unterscheiden, sondern ist ein und derselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung" (II 10,2). Die Verschiedenheit besteht nicht etwa darin, dass im Unterschied zum neutestamentlichen Evangelium im Alten Testament das („mosaische") Gesetz herrsche - es sei denn, man versteht das Evangelium nicht als Gegensatz zum Gesetz, sondern fasst dieses Gesetz als Bezeugung des Evangeliums auf. Römer 3,21! „Das Evangelium tritt nicht in der Weise an die Stelle des Gesetzes, dass es etwa einen anderen Weg zum Heil eröffnete, sondern es sollte vielmehr die Verheißungen des Gesetzes beglaubigen und in Wirksamkeit setzen ... Es hebt sich beim Vergleich mit dem ganzen Gesetz das Evangelium nur durch klarere Bezeugung hervor" (II 9,4).

Calvin kann darum sagen, dass den heutigen Juden nicht nur das Evangelium Jesu Christi verborgen ist, sondern auch Mose sei ihnen verhüllt (II 10,23). Die Voraussetzung für diesen Satz ist, dass Mose nicht von Christus wie Christus nicht von Mose zu trennen sei. Aber wichtiger ist für Calvin, dass trotz der Verborgenheit dessen bei der Judenschaft diese das von Gott erwählte Volk bleibt. Und das darum, weil Gott ihr Gott nicht nur war - sondern er hat „den Vätern des Alten Bundes verkündigen lassen, ... er werde immer [ihr Gott] bleiben". Sie dürfen sich „für alle Zukunft damit trösten, dass Gott sie nicht verlassen werde" (II 10,9).
Es bleibt „Gottes Ratschluss, nach dem er sie sich einmal zu seinem besonderen Volk erwählt hat, fest und unwandelbar bestehen". Er „wendet sein Wohlgefallen nicht wieder vom jüdischen Volk ab."[10] Das bedeutet aber für die aus den Heiden berufenen Gläubigen in der Christenheit, „dass sie nicht anders in Gottes Volk hineinwachsen, als dass sie in Abrahams Nachkommenschaft Wurzeln schlagen"[11] - und so, „dass die Juden als die Erstgeborenen in der Familie Gottes den ersten Platz einnehmen".[12] Das wird in Ewigkeit so bleiben.
„Auch heute verheißt Christus, der Herr, den Seinen kein anderes Himmelreich als das, in dem sie ‚mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen' sollen (Mt. 8,11); und Petrus nennt die Juden seiner Zeit ‚Erben' der mit dem Evangelium uns zukommenden Gnade, weil sie ‚der Propheten und des Bundes Kinder' wären, ‚den Gott gemacht hat mit euren Vätern' (Apg. 3,25). Das sollte aber nicht nur mit Worten bezeugt werden; darum hat es der Herr auch mit der Tat bestätigt. Denn als er von den Toten auferstand, da hat er auch viele Heilige gewürdigt, als Mitgenossen seiner Auferstehung aus ihren Gräbern hervorzugehen und in der Stadt zu erscheinen (Mt. 27,52); das war ein deutliches Unterpfand dafür, dass sein Tun und Leiden, mit dem er ein ewiges Heil errungen hat, den Gläubigen des Alten Bundes ebenso zuteil werde wie uns!" (II 10,23).

Das bedeutet offensichtlich, dass die Gläubigen des Neuen Testaments und dass also insbesondere die Christen aus den Heiden sich im Grunde nicht von diesen „Erstgeborenen", von den Juden, und damit auch nicht vom Alten Testament trennen dürfen. Aber wie soll man nun den anders laufenden Gedanken verstehen, mit dem Calvin das Verhältnis von Altem und Neuem Testament beschreibt? Versteht er das Verhältnis nicht als Gegensatz, auch nicht als eine Ungleichheit in der Substanz, so sieht er es doch hinsichtlich ihrer „Darbietung" (administratio) in einem komparativen Verhältnis.
„Es war unter ihnen [den Menschen im Alten Testament] die gleiche Kirche - aber sie stand noch im Kindesalter" (II 11,2). Wohlgemerkt, das heißt für Calvin keinesfalls, dass die Menschen des Neuen Testaments sozusagen den Kinderschuhen entwachsen sind; sie sind allein älter geworden. „Jetzt hat ja Gott durch das Evangelium die Gnadengabe des künftigen Lebens deutlicher und fasslicher offenbart" (II 11,1). Die komparative Beschreibung des Verhältnisses bei der Darbietung des Heils bedeutet also, dass auch die Menschen des Neuen Testaments noch nicht an dem von Gott verheißenen eschatologischen Ziel sind. Sie sind mit den Menschen des Alten Testaments auf dem Weg dorthin.
Was es ermöglicht, dass jene Gnadengabe nun „deutlicher" - und zwar eben auch von Menschen aus den Heiden - erfasst werden kann, nennt Calvin hier kurz das „Evangelium". Gemeint ist damit hier die Erscheinung des Versöhners Jesus Christus. Calvin versteht (nach Eph. 2,14-17) die Versöhnung auch als die durch den „Versöhner zwischen Gott und Mensch" herbeigeführte Versöhnung zwischen denen aus Israel und den Christusgläubigen aus der Heidenwelt, damit sie „zu einem geistlichen Volk" (unum populum) zusammenwachsen - in der französischen Übersetzung von 1541 heißt es: „zu einem Leib".[13]


3. Die Besonderheit der einzelnen Bücher der Bibel

Calvin hat im Lauf der Jahre alle biblischen Bücher ausgelegt - mit Ausnahme der Apokalypse und des Hohenlieds. Dass er diese beiden nicht kommentierte, lag daran, dass er überhaupt die (im Mittelalter verbreitete) allegorische Eisegese ablehnte und dagegen für eine Exegese der Texte in ihrem Wortsinn eintrat. Ansonsten hat er alle biblischen Bücher behandelt und dabei ernst genommen, dass die Bibel eine Sammlung von verschiedenen biblischen Büchern ist.
Von verschiedenen Büchern? Es fällt auf, dass Calvin an zwei erheblichen Stellen in der Bibel einige dieser Bücher zusammenzieht zu einer „Harmonie": 2. bis 5. Mose und dann die ersten drei der Evangelien. Im ersten Fall verteidigt er sich im Vorwort gegen den Vorwurf, er habe „ganz unüberlegt und ohne Grund die Ordnung geändert, die der heilige Geist in diesen Büchern gegeben hat." Er führt dagegen an, sein Vorhaben sei ja „nur, ungeübte Leser durch eine bestimmte Ordnung dahin zu führen, dass sie diese Bücher leicht und bequem, aber auch mit größerem Nutzen lesen können."[14] Im Fall der drei Synoptiker glaubt er, dass sie in besonderer Weise „Evangelien" sind, weil sie uns „Christus als den Gesandten des Vaters vor die Augen stellen", während „die übrigen Bücher des Neuen Testaments ... sich mehr mit der Kraft und Wirkung seines Kommens" beschäftigen. Das hindert nicht, die Unterschiede zwischen den Synoptikern zu sehen: „indem der erzählt, was der andere auslässt, oder das Einzelne genauer berichtet als der andere." Legt man sie nebeneinander, so sieht man ja, „worin sie übereinstimmen und worin nicht".[15]
Also auch diese beiden Ausnahmen hindern nicht zu sagen: Calvin hat sich bei seiner Auslegung - in seinen Vorlesungen und in seinen Predigten - Mühe gegeben, sich jedes Mal auf den ganz besonderen Charakter des jeweiligen Buches einzustellen.

Exegese - das war seine Hauptarbeit als Reformator. Er hat in der Heiligen Schrift nicht Belege für eine Dogmatik gesucht, auch nicht für seine Prädestinationslehre. Er war aber auch im Vergleich mit der für Luther und seine Nachfolger so zentralen Lehre von Gesetz und Evangelium vielmehr aufmerksam für die mannigfache Art des Redens von Gottes Evangelium und seinem Gesetz in der Heiligen Schrift. So kann, wie angedeutet, Evangelium das besondere Zeugnis der Synoptiker heißen, aber auch nach Röm. 1,1f. überhaupt „die feierliche Predigt von dem geoffenbarten Christus"[16] oder die frohe Botschaft von Gottes reiner Gnade.
Zu Ps. 119 schreibt Calvin: Der Psalmist „ermahnt die Kinder Gottes, auf Frömmigkeit und ein heiliges Leben bedacht zu sein". Sie „sollen sich ganz der Lehre des Gesetzes unterstellen". Dabei mischt er Verheißungen unter, „um die Verehrer Gottes desto mehr zu einem frommen und gerechten Leben zu ermuntern".[17]
Zu Mt. 5,17f.: Jesus lehre „das heilige Band zwischen Gesetz und Evangelium" und nennt diejenigen „falsche Lehrer, die ihre Schüler nicht zum Gehorsam gegen das Gesetz anhalten".[18]
Zu Röm. 3,21: „Paulus hat bestritten, dass die Glaubensgerechtigkeit auf das ‚Zutun' des Gesetzes angewiesen ist." Und doch „behauptet er, dass das Gesetz die Glaubensgerechtigkeit geradezu mit seinem Zeugnis bestätigt".[19]

Calvins Einstellung auf die Eigenart der verschiedenen biblischen Bücher hat dazu geführt, dass jeder seiner Kommentare dadurch ein eigenes Profil hat. Seine erste, besonders sorgfältig ausgeführte Beschäftigung galt dem Römerbrief. Hier ist er damit befasst, im Hören auf Paulus die reformatorische Botschaft durchzubuchstabieren.
In der Tat, so vernimmt er es aus Röm. 3,21, „diese Gerechtigkeit, die Gott dem Menschen zuteil werden lässt, die er allein gutheißt und als Gerechtigkeit anerkennt, ist ... ohne Mithilfe des Gesetzes offenbart worden." Paulus mischt ihr keine Werke bei und setzt „allein auf diese Barmherzigkeit."[20] Gott ist der Geber dieser Gerechtigkeit, nicht nur der, der sie anerkennt. In unserer Rechtfertigung ist Gottes Erbarmen die Wirkursache, Christus der Grund und das mit dem Glauben verbundene Wort das Instrument.[21]
Aber dazu ist in Auslegung von Kap. 6,1f. noch ein Weiteres zu beachten, nämlich dass Christus selbst fälschlich auseinander gerissen wird, wenn man behauptet, er „schenke uns die gnädige Gerechtigkeit, ohne zugleich ein neues Leben" zu verleihen. „Somit werden wir gerechtfertigt, um daraufhin Gott in der Reinheit des Lebens zu dienen. Wenn Christus uns durch sein Blut reinigt und uns durch sein Sühnopfer Gott gnädig macht, dann nicht anders als so, dass er uns zugleich an seinem Geist Teil gibt, der uns zu einem heiligen Leben erneuert."[22]

Anderer Art ist die Auslegung der Psalmen. Hier wird uns nach Calvin ein Gebetbuch aufgetan, die Grundlage für den Gemeindegottesdienst. Wenn der Genfer Reformator dafür sorgte, dass zu seinen Lebzeiten alle 150 Psalmen zu Reimtexten geformt und mit neuen Renaissancemelodien versehen wurden, so war die Vorstellung dabei die, dass gemeinsame Gebete am besten gesungen werden - auch das Unservater wurde gesungen.
In seiner Vorrede zu der Psalmenauslegung sagt er: „Hier schildert der heilige Geist uns lebendig die Schmerzen, die Traurigkeit, die Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen ... kurz, alle Regungen, durch die das menschliche Gemüt hin und her gezerrt wird." Und es „wird uns in diesem Buche die beste und zuverlässigste Anweisung zur Anrufung Gottes gegeben, und wenn es wahr ist, dass diese der beste Schutz unseres Heils ist, so wird ein jeder, der tiefer in das Verständnis der Psalmen eindringt, dadurch viel himmlische Weisheit erlangen".[23]
Man sehe, wie Calvin in solcher Anrufung mit Hilfe des Psalms zum Lob gedrängt wird: „'Lobet den Herrn, alle seine Werke.' Selbst wenn sie keine Stimme und Empfindung haben, müssen sie doch irgendwie Gottes Lob erklingen lassen. Daraus sollen auch wir lernen, dass kein Winkel Himmels und der Erde von diesem Lob Gottes frei bleibt. Wir haben keinerlei Entschuldigung dafür, wenn wir dem Beispiel der Kreatur nicht folgen. Denn wenn für Gottes Lob nicht einmal die Gegenden, da man seine Stimme nicht hört, stumm sein dürfen, wie dürften wir schweigen, denen Gott mit seiner heiligen Stimme zuvorkam und für die er seinen Mund öffnete!"[24] „Mit den Juden sind wir zum selben gemeinsamen Gesang vereinigt, damit Gott unter uns [Heiden] mit unablässigem Lobopfer verehrt werde, bis wir im Himmelreich zusammenkommen und mit den auserwählten Engeln das ewige Halleluja anstimmen."[25]

Wiederum auf einen anderen Ton ist die Auslegung des Deuternomiums gestimmt. Hier vernehmen wir ethische Unterweisungen - etwa derart, um dieses eine Beispiel aus einer Predigt über Dtr. 20 zu nennen:
„Da ein Mensch, der von einem fernen Land ist, und welche Kenntnis hatten wir davon? Und nicht ein Wort konnten wir miteinander reden, das verstanden worden wäre. Wie ich ihn ansehe, wie ich ihn betrachte, sehe ich da ein Wesen, das er mit mir gemeinsam hat. Ich sehe, dass Gott das zugeeignet hat, als wären wir ein Fleisch. Das ganze Menschengeschlecht ist von solcher Art und Gestalt, dass wir fein Gelegenheit haben, uns darin zu üben und zu erkennen, dass wir einig sein sollen. Gibt es auch manchen Unterschied im gegenwärtigen Leben, den wir beachten müssen, wir alle sind aus einer Quelle, und wir alle sollen auf ein Ziel hinstreben und zu einem Gott, welcher der Vater aller ist. Wenn wir hier auch von oben herab reden, dass wir unsere Schultern zucken und dass wir nach einigen Ausreden suchen, mit dem Argument, dass wir Fremde seien: Wir können es nicht schaffen, dass alle Menschen uns etwa nicht Nächste sind. ... Unser Herr zeigt uns heute, dass wir Geschwister sein werden, weil Christus der Friede der ganzen Welt und aller Völker ist. Darum müssen wir zusammenleben in einer Familie von Brüdern und Schwestern."[26]

In seinem Danielkommentar von 1561 übt Calvin unter seiner Textauslegung zugleich gegenüber der monarchistischen Tyrannei in seiner Zeit ein prophetisches Wächteramt aus. Er ruft wohl nicht zum politischen Aufstand auf. Er hofft angesichts dessen auf Gott und seinen Christus, der der König der Welt ist, und darauf, dass er wie Gebeugte erheben, so Mächtige auch stürzen kann.[27]
Aber in diesem Licht deckt Calvin schonungslos kritisch auf: den Missbrauch von Macht, das Schreckensregiment der Herrscher - sie, die „ihrer Wut die Zügel schießen lassen und meinen, sie dürften sich alles erlauben", nach der Devise: „Erlaubt ist, was gefällt", über deren Schwelle man nicht treten kann, ohne dass es „mit der Freiheit vorbei" ist.[28] Sie, die, geblendet vom „Glanz ihrer Größe", dem „Größenwahn" verfallen sind.[29] Sie, die damit doch vielen Eindruck machen, so dass diese in Preisgabe ihrer Menschenwürde „einfach nach des Königs Pfeife" tanzen; „was dem König gefällt, dem stimmen sie alle zu, wenn nötig, mit lautem Beifall".[30] Sie, die über alle „Untertanen frei verfügen", nicht, weil sie es dürften, aber „weil es sich alle schweigend gefal­len lassen".[31] Sie, die die „Heiligen", die dabei nicht mitmachen, belasten und belästigen „mit der Anklage auf Undank und Aufruhr"; denn „nichts ist für die Könige schwerer zu ertragen als Verachtung ihrer Befehle".[32] Sie, die schließlich bei dem allem die Religion nicht missen mögen, sondern sie zur Festigung ihrer Macht in ihren Dienst stellen, die darum „mit großem Aufwand Tempel bauen"; und wenn „man sie fragt, was für eine Absicht sie dabei leite, so erfolgt sofort die Antwort: das tun wir zur Ehre Gottes! Dabei suchen sie allein ihren eigenen Ruhm und ihre eigene Ehre".[33]
Es ist für Calvin klar: Der kirchliche Widerspruch gegen sie muss an dem letzteren Punkt ansetzen und ihnen die religiöse Stütze ihres Machtgefüges entreißen. Es musste denen, die erstmals diese - geradezu von einem Freiheitspathos getragene und zugleich das Funktionieren von Macht scharfsichtig analysierende - Kritik Calvins lasen, klar sein: Seine Auszeichnung der staatlichen Magistraten als Gottes „Vikare" meint genau das nicht: eine Machtkonzentration an der Staatsspitze. Recht verstanden sogar bestreitet sie diese.


4. Auslegungsmethode

Wie schon angedeutet, war Calvin kritisch gegen die im Mittelalter verbreitete Auslegungsweise der Allegorese eingestellt. Sie war für ihn eine nicht textgebundene Fantasie. Er trat für eine Auslegung ein, die den Wortsinn der Wörter zu erfassen sucht.
Mit der Abneigung gegen Denkmuster, die den Bibelabschnitten aufgepfropft werden, hängt zusammen, dass er in der Regel für die einfachste Möglichkeit eines Textverständnisses plädierte. Im Grund ist für ihn die Exegese die einzige Aufgabe der Theologie. Diese Aufgabe ist aber so groß, dass er sie nicht allein, nicht in einer individualistischen Exegese bewältigen zu können glaubte. Ja, trotz seiner Ablehnung der Allegorese konnte er in gewisser Weise die Größe der Tradition positiv auffassen, nämlich in dem Sinn, dass er die Kirchengeschichte auch als eine (gewiss mehr oder weniger gelungene, auch in Sackgassen verirrte) Auslegungsgeschichte zur Heiligen Schrift schätzen konnte. Doch auch wenn er etwa Augustin verehrte, so hat er gleichwohl gewisse biblische Deutungen von ihm abgelehnt. Das zeigt, dass für ihn der biblische Text über seinen verschiedenen Deutungen stand.
In seiner Bemühung, jeweilige Texte so genau wie möglich anzuhören, hatte er eine Vorliebe für Paraphrasen. Dadurch suchte er insbesondere schwer verständliche Passagen in der Heiligen Schrift zu erhellen.

Aber zugleich war Calvin zutiefst davon überzeugt, dass das Wort in den Wörtern der Schrift nicht nur redete, sondern „heute" redet. Darum sind die Texte noch nicht recht verstanden und ausgelegt, wenn man nur vernimmt, was sie einst sagten, und nicht hört, was sie sagen. In dem Sinn befleißigte er sich, die Texte in „kontextuellen Auslegungen" vorzulegen.
So gewiss er sich bemühte, den Wortsinn der Wörter zu erfassen, so sehr war er davon überzeugt, dass die biblischen Wörter Zeugnis des sich selbst heute wie gestern zur Geltung bringenden Gottes und seines Christus sind. Es sei noch einmal an das Beispiel der Danielauslegung (s. o.) erinnert, worin Calvin von der Bedrohung Daniels „in der Löwengrube" redet, aber zugleich von der Verfolgung der Gläubigen in seinem Mutterland und von der dort herrschenden Tyrannei. Dergleichen zeigt sich auch in den Auslegungen der anderen biblischen Bücher.
Das ist ja wohl auch der tiefste Grund dafür, dass bei Calvin „Schriftauslegung und Predigt" sachlich so verwandt sind.[34] Auch wenn er sich für eine saubere „historische" Auslegung der Texte eingesetzt hat, - weil die Bibel „Heilige Schrift" ist, ist sie nicht den Historikern ausgeliefert, wenn diese vergessen sollten, dass nach Calvin „the scripture exists for the edification of the church".[35]

[1] J. Calvin, Gestalt und Ordnung der Kirche, Calvin-Studienausgabe [im Folgenden: CStA], Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1997, 238ff.

[2] Vgl. Anm. 8.

[3] J. Calvin, Auslegung des Propheten Ezechiel, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, N.R., Bd. 9, Neukirchen 1938, zu Ezechiel 3,17, 57f.; und zu 3,14, 55.

[4] B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, Stuttgart 1998, 345.

[5] J. Calvin, Gebete zu den Vorlesungen über Jeremia und Hesekiel. Übers. von W. Dahm, 2., verb. Aufl., München 1935.

[6] Vgl. E. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, 2. Aufl., Zürich 2006, Kap. 3: Beten und Hoffen, 53-66.

[7] G. W. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, 83.

[8] Die im Folgenden in Klammern gestellten Zahlen sind die Fundorte eben in der Institutio.

[9] P. Wernle, Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd. 3: Calvin, Tübingen 1919, 268.

[10] J. Calvin, Der Brief an die Römer. Ein Kommentar, CStA, Bd. 5,2, Neukirchen-Vluyn 2007, 605-607, zu Röm. 11,28.

[11] Ebd., 591, zu Röm. 11,18.

[12] Ebd., 601, zu Röm. 11,26.

[13] J. Calvin, Opera selecta, ed. P. Barth, Bd. 3, 434.

[14] J. Calvin, 2. - 5. Buch Mose. 1. Hälfte, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 2, Neukirchen o. J., 3.

[15] J. Calvin, Evangelienharmonie. 1. Hälfte, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Neudr., Bd. 8, Neukirchen 1929, 10f.

[16] J. Calvin, Der Brief an die Römer. Ein Kommentar, CStA, Bd. 5,1, Neukirchen-Vluyn 2005, 45.

[17] J. Calvin, Die Psalmen. 2. Hälfte, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 5, Neukirchen o. J., 425.

[18] J. Calvin, Evangelienharmonie. 1. Hälfte, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Neudr., Bd. 8, Neukirchen 1929, 175.

[19] Vgl. J. Calvin, Der Brief an die Römer. Ein Kommentar, CStA, Bd. 5,1, Neukirchen-Vluyn 2005, 193.

[20] Ebd., 187.

[21] Ebd., 195.

[22] Ebd., 301. 303.

[23] J. Calvin, Die Psalmen. 1. Hälfte, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 4, Neukirchen o. J., 4.

[24] Ps. 103, CO 32, 84.

[25] Ps. 150,6; CO 32, 442.

[26] Dtr. 22, 5-8, Sermo 75, CO 28, 16f.

[27] Praelectiones in Danielem, CO 40, 577f.

[28] Ebd., 564.

[29] Ebd., 610.

[30] Ebd., 623.

[31] Ebd., 713.

[32] Ebd., 628.

[33] Ebd., 618.

[34] Vgl. R. Ward Holder, John Calvin and the Grounding of Interpretation. Calvin's First Commentaries, Studies in the History of Christian Traditions, Vol. 127, Leiden 2006.

[35] Ebd., 81.



Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Eberhard Busch Eberhard Busch
Göttingen
E-Mail: eberhard.busch@theologie.uni-goettingen.de

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