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ISSN 2195-3171

thematisch, 2009

Amoklauf von Winnenden und Wendlingen, Predigt und Liturgievorschläge, verfasst von Dinkel Christoph

Predigt anlässlich des Amoklaufs in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009
Text: 1. Johannes 4,16: Gott ist die Liebe. Liturgievorschläge unten


Liebe Gemeinde!
Das Entsetzen will einfach nicht weichen: 15 Menschen wurden am Mittwoch in Winnenden und Wendlingen von einem Jugendlichen erschossen. 15 Leben wurden ausgelöscht, abgebrochen. Die Toten sind ihrer Zukunft beraubt, grundlos und völlig sinnlos. Zurück bleiben Eltern, Geschwister, Freunde, für die eine Welt zerstört wurde. Wie soll man das aushalten? Was soll man sagen? Wie kann man weiterleben? Das Entsetzen will einfach nicht weichen.

Wir hier sind nicht persönlich betroffen von diesem Unglück. Winnenden ist 20 Kilometer entfernt. Und doch trifft es uns. Wir sind voller Mitgefühl mit den Opfern und ihren Familien. Einige von uns werden Freunde und Bekannte in Winnenden haben. Vielleicht kennt jemand auch ein Opfer persönlich. Wir empfinden den unendlichen Schmerz mit und trauern mit den Betroffenen. Wir würden gerne helfen und wissen nicht wie. Fragen drängen sich auf: Hätte man solch eine Tat nicht verhindern können? Hat niemand gemerkt, auf welchem Horrortrip sich der Täter befand? Hilflose Gedanken sind das. Die Toten bleiben tot. Die Menschen in Winnenden werden mit dem Verlust, werden mit der Verletzung leben müssen. Es gibt keinen Trost.

Wir sind voller Mitgefühl mit den Opfern, wir sind aber auch voller Schrecken. Es hätte auch uns und unsere Kinder treffen können. Der Täter hätte statt nach Wendlingen auch zu uns weiterfahren können, hätte hier in Stuttgart weitermorden können. Wir sind erleichtert, dass es uns nicht getroffen hat, dass wir glücklich davon gekommen sind. Aber wir wissen, dass andere nicht glücklich davon gekommen sind. In die Erleichterung mischt sich die Bitternis und das Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen.

Das Entsetzen will einfach nicht weichen. Die Tat von Winnenden ist auch ein Anschlag auf unser Weltgefühl. Das Vertrauen in die Stabilität des Alltags ist erschüttert. Das unheimliche Gefühl macht sich breit, dass so etwas überall passieren könnte, dass das Eis der Zivilisation, auf dem wir gehen, dünn ist und dass dieses Eis jederzeit brechen könnte. Das Grauen lauert nur knapp unter der Oberfläche. Nichts ist so stabil wie es scheinen mag. Worauf kann man sich dann noch verlassen?

Die größte Gefahr für unsere moderne Gesellschaft, so hat der Soziologe Niklas Luhmann immer wieder betont, geht von der Labilität der Individuen aus. Sie halten es nicht aus, am Rande zu stehen. Sie halten das notorische Defizit an Aufmerksamkeit nicht aus. Alle wären gerne wichtig und stünden gerne im Mittelpunkt, alle wären gerne geachtet und geschätzt, erfolgreich in der Schule, im Beruf, in der Liebe. Doch unsere Gesellschaft erzeugt zwangsläufig Verlierer und solche, die an den Rand gedrängt werden. Einer, der sich marginalisiert fühlt, sucht mit seiner schrecklichen Tat nach Anerkennung. Sein Selbstmord wird zum Mord an 15 anderen, an 15 Unschuldigen.

Das Entsetzen will einfach nicht weichen. Es hat auch eine religiöse Dimension. Die Erschütterung unseres Weltgefühls lässt auch unseren Glauben nicht unberührt. Wie steht es mit Gottes Liebe, wie steht es mit Gottes Allmacht? - Diese Fragen drängen sich angesichts des Entsetzens auf. Früher haben die Menschen Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit, als Ursache von allem angesehen, was geschieht. Nichts geschieht ohne Gottes Zustimmung - so dachte man früher und manche denken heute noch so. Doch so können jedenfalls wir nicht mehr denken. Ein Gott, der Amokläufe, Terroranschläge, Naturkatastrophen zuließe, wäre ein zynischer Gott, bestenfalls ein kalter, desinteressierter Gott, dem das Ergehen der Menschen gleichgültig ist.

Die Bibel schildert uns aber einen anderen Gott. Sie erzählt vom Gott, der Liebe ist, der das Leben liebt, der Licht in die Finsternis bringt und alle Tränen abwischen und allen Schmerz lindern will. Die Bibel schildert diesen liebenden Gott als große, starke Macht, als einen, auf den man hoffen und zu dem man beten kann. Sie schildert ihn aber nicht als allmächtig, als omnipotent. Der omnipotente Gott ist ein von Menschen gemachter Gott. Der Gott der Bibel jedoch kennt auch den Schmerz, das Leiden, die Niederlage, die Schwäche. Der Gott der Bibel wird Opfer menschlicher Bosheit, wird getötet auf Golgatha, stirbt den Tod der Schande und wird begraben. Der Gott der Bibel identifiziert sich mit den Opfern der Gewalt. Der Gott der Bibel ist mit Jesus gestorben, er ist mit den Opfern von Winnenden und Wendlingen mitgestorben. Die Erschütterung über den Tod unschuldiger junger Menschen ist auch deshalb so groß, weil wir in ihrem Tod den Tod Gottes mitempfinden. Mit jedem Opfer ist nicht nur eine Welt ausgelöscht, mit jedem Opfer wurde auch der Gott, der die Liebe ist, mit ausgelöscht.

„Gott ist die Liebe" - und die Liebe ist nicht allmächtig. Sie leidet und stirbt unter den Anschlägen und Schüssen der Gewalt. Gott ist die Liebe und das Leben. Können wir angesichts solch entsetzlicher Gewalt wie in Winnenden vom Leben, von der Macht des Lebens reden? Das wäre gewiss zu früh. Das Lob der Macht Gottes ist uns in diesen Trauertagen versagt. Aber so viel kann man doch auch heute sagen: Die Liebe, die stirbt, ist auch die Liebe, die das Leben bewahrt und neu macht. Der Gott, der auf Golgatha und mit jeder Gewalttat auf Erden mitleidet, ist zugleich der lebendige Gott. In seinem Sterben, in seinem Leben sind auch die Getöteten von Winnenden und Wendlingen gegenwärtig. Gottes Liebe umfängt gerade auch die Opfer der Gewalt und des Leides.

Das macht keines der Opfer der Gewalttat wieder lebendig. Das mildert nicht den Schmerz der Angehörigen, das macht auch unsere Erschütterung und unser Entsetzen nicht geringer. Das ist kein Trost. Das zeigt nur an, wo Gott in all diesem Grauen und in all diesem Entsetzen ist: Er ist in und bei den Opfern. Er ist in und bei den Angehörigen und ihrem Leid. Gott ist in unserer Trauer und in unserem Mitleiden gegenwärtig. Gott ist überall dort, wo das Leben und die Liebe ist. Gottes Liebe bewahrt gerade die Opfer. - Amen.

 

Tagesworte:
Hiob 3,25: Was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graute, hat mich getroffen.
Psalm 130,1f: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!

Lieder:
EG 571, Wo die Liebe wohnt
EG 366,1-5, Wenn wir in höchsten Nöten sein
EG 361, 1+2+12, Befiehl du deine Wege
EG 58,1-3+10-14, Nun lasst uns gehn und treten

Psalm 143

Gebete

Pressestelle Evang. Landeskirche Württemberg:

Lieber Gott,
geschockt, voller Angst, Trauer und Ratlosigkeit stehen wir vor Dir angesichts der schrecklichen und unfassbaren Ereignisse in der Winnender Schule.
Sie gehen über unseren Verstand und unseren Glauben.

Wir kommen zu Dir mit unseren Fragen:
Wie konnte so etwas nur passieren?
Wo war Deine helfende und schützende Hand?
Wo warst Du Gott - und wo bist du jetzt?
Wir suchen nach Trost, nach Gründen für Zuversicht.
Wir rufen: Gott - hast Du uns verlassen?

Wir beklagen sechzehn Menschenleben.
Wir klagen Dir den Tod von Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrern und „Unbeteiligten". Wir trauern mit den Eltern und Angehörigen. Da ist kein Trost.
Wir klagen Dir unsere Unsicherheit und Angst. Es hätte auch uns treffen können.
Wir rufen zu Dir: Höre unsere Fragen, höre unsere Klagen!
Wir bitten Dich:
Sei mit den Eltern, Geschwistern und Angehörigen!
Wer kann trösten, wenn nicht Du, großer Gott!
Lass sie nicht allein!
Schenke den Verantwortlichen Worte und Weisheit, Zuversicht, Kraft und Phantasie.

Wir bitten Dich: Hilf uns in unserer Angst und Unsicherheit. Tröste uns in unserer Trauer und Mittrauer.

Lass uns nicht allein!

 

Dr. Katharina Wiefel-Jenner auf www.velkd.de:

Ach Herr,
höre unser Gebet!
Entsetzen erfüllt uns.
Tränen weinen wir.
Wer wird sie von unseren Augen abwischen?
Sie fließen immer weiter.
Ach Herr, tröste uns doch!

Ach Herr,
vernimm unser Klagen!
Ratlos sind wir.
Wie können wir verstehen,
was geschehen ist?
Wir haben keine Erklärungen für dieses Morden.
Wir trauern um die Ermordeten in Winnenden und Wendlignen.
16 Menschen leben nicht mehr, die getragen von der Liebe ihrer Nächsten weiter leben wollten.
Vernimm unser Klagen, Herr!

Ach Herr,
sei doch nahe!
Du siehst Schuld und Verzweiflung.
Heile die Wunden!
Halte du die Toten in deinen liebenden Händen-
Lass sie in dir geborgen sein.  
Sei nahe, Herr!

Ach Herr,
schweige nicht zu unserem Schreien.
Lass uns doch hoffen.
Die trauernden Eltern brauchen deinen Trost.
Die trauernden Mitschüler brauchen deinen Trost.
Die trauernden Angehörigen brauchen deinen Trost.
Wir alle brauchen deinen Trost.
Schweige nicht, Herr!

Wer, wenn nicht du allein, kann uns helfen,
durch Jesus Christus, der gelitten und den Tod besiegt hat.
Amen

 



Prof. Dr. Dinkel Christoph
Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

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