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ISSN 2195-3171

Konfirmation, 2009

Predigt zur Konfirmation 2009 über Psalm 139,5 , verfasst von Gerlinde Feine

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde!

„Mein Zimmer!" - „Bitte nicht stören" - „Zutritt für Eltern verboten" Solche und ähnliche Warnschilder gibt es irgendwann in jeder Wohnung, in der Teenager leben. „Kannst du nicht anklopfen?" maulen sie plötzlich, wenn sie nicht gleich die Tür abschließen - im Bad sowieso.

Daß ihr Privatsphäre braucht und sogar fordert, ist oft ein erstes Anzeichen für eure Eltern, daß ihr erwachsen werdet. Nicht dauernd beobachtet werden. Sich nicht kontrolliert fühlen. Nicht dauernd einen Kommentar abbekommen für das, was man tut. Einmal etwas ausprobieren können, ein neues Styling, eine bestimmte Pose. Mit der Freundin über Dinge reden, die die Eltern nichts angehen. Mit den Kumpels chillen, ohne daß gleich wieder jemand nörgelt. Heimlich Dinge tun, von denen die Erwachsenen sagen, man sei noch zu jung dazu.

Und die sollen das langsam lernen und respektieren: Daß ihr Privatsphäre braucht und Vertrauen. Schließlich mögen die es auch nicht, wenn alles kontrolliert wird, wenn überall Überwachungskameras installiert sind und der Chef die E-Mails mitliest, wenn sich gegenüber immer die Gardine bewegt und der ganze Ort bestens informiert ist über alles, was man tut. „Das geht dich gar nichts an!" möchten wir naseweisen Freundinnen sagen und kontrollsüchtigen Chefs, und wenn solche Grenzen überschritten werden, belastet das schnell das Verhältnis zueinander. Nicht jeder darf einen Blick in mein Nähkästchen tun; und es gibt Seiten an mir, die will ich vielleicht nicht einmal meinem Partner zeigen, obwohl ich weiß, daß er liebevoll und diskret damit umgeht.

„Ich möchte nicht, daß meine Kinder mich so sehen", erklärte mir eine Frau, die an Krebs erkrankt war: während der Chemotherapie sollte sie niemand besuchen, auch die eigenen Eltern nicht; nur ihr Ehemann durfte sehen, wie elend es ihr ging. Sogar den Badezimmerspiegel hatte sie abnehmen lassen für die Dauer der Behandlung. Sie sei sich einfach fremd geworden, sagte sie. Sie müsse sich erst wieder finden, um sich anschauen zu können und von anderen anschauen zu lassen.

Ja, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, das geht nicht nur euch so, ist nicht nur ein vorübergehendes Problem des Erwachsenwerdens, daß man sich selbst fremd werden kann, daß man am liebsten vor sich selbst davonlaufen würde und Seiten an sich entdeckt, die einem nicht gefallen und die man vor anderen verstecken möchte. Und manchmal brauchen wir einfach ein bisschen unbeobachtete Zeit, um uns und unser Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, manchmal sind wir ganz anders, wenn uns nicht ständig alle kontrollieren, manchmal gelingen Dinge viel besser, wenn niemand zuschaut (ihr kennt ja die Sache mit dem Vorführeffekt vom Sport oder von der Klavierstunde: allein, beim Üben, klappts tadellos, vor anderen machen wir Fehler). Einige von euch haben sich in der großen Gruppe regelmäßig unmöglich benommen - aber wenn niemand dabei war, dem ihr beweisen mußtet, wie wahnsinnig cool ihr seid, dann habe ich euch als höfliche und angenehme Menschen erlebt. Andere, die in der großen Gruppe nichts gesagt und stumm dabei gesessen sind, die konnten richtig auftauen, wenn niemand dabei war, vor dem sie sich „klein" fühlten. Und auch das verliert sich nicht mit dem Erwachsenwerden: Wie beurteilen mich andere? Wie „groß" oder wie „klein" fühle ich mich neben ihnen? Passt das Bild, das sie sich von mir machen, zu dem, das ich selbst von mir habe? Und welches Bild „stimmt" denn dann?

Der Beter, der den 139.Psalm niedergeschrieben hat - man sagt, es sei der König David gewesen - hat auf diese Fragen eine ganz klare Antwort: Der, der mich ganz und gar kennt, der, der alles von mir weiß und vor dem nichts verborgen bleibt, auch nicht das, was mir an mir nicht gefällt und was ich niemandem zeigen möchte, das ist Gott: Herr, du erforschest mich und kennest mich; ich sitze oder stehe auf, so weißt du es, du erkennst meine Gedanken von ferne. Und was ihm bedrohlich vorkäme, würde es über einen Menschen gesagt, was wir taktlos fänden oder indiskret, das klingt hier vertrauensvoll und gut: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Eine Schutz- und Segensgeste ist das ja: Gott hält alles von uns ab, was uns schaden könnte, seine Hand bewahrt uns vor neugierigen Blicken, seine Gegenwart umhüllt uns wie ein schützender Mantel - so als wäre er selbst der Raum, in den wir uns zurückziehen können, der Wächter vor der Tür unseres Herzens. Gott darf sehen, was niemanden sonst etwas angeht, und sein Blick auf uns ist aufmerksam und freundlich: Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, ... deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und von denen keiner da war.

Freilich, so viel Zuwendung wird auch dem Psalmbeter irgendwann zuviel: Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Da wünscht er sich, mit sich allein zu sein, wirklich allein; nicht einmal Gott soll ihn sehen, doch Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da, bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da - Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein - so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir...

So klagt dieser Mensch, der doch eben noch froh war, Gott um sich zu haben, und ich denke mir: Wie gut, daß Gott seine Bitten nicht erhört hat. Wie gut, daß er ihn nicht in der Finsternis hat sitzen lassen, die ja ein Bild ist für das, was wir heute „Depression" oder „unendliche Traurigkeit" nennen würden. Wie gut, daß er ihn nicht alleingelassen hat mit seinen Dämonen, seinen Ängsten und seinen Albträumen, daß er Licht ins Dunkel gebracht hat, Hoffnung statt Traurigkeit, Lebensmut statt Verzweiflung. -

Ach, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde, wie gut auch, daß er uns Menschen schickt, die spüren, wann es an der Zeit ist, die Schilder an den Türen eurer Zimmer und Herzen zu ignorieren, die sich nicht beirren lassen von euren „Bitte nicht stören!"- und „Zutritt verboten!"-Wünschen und doch eintreten, dann und wann, weil sie merken, daß etwas nicht stimmt. Wie gut, wenn einer rechtzeitig erkennt, daß der andere buchstäblich im Finstern sitzt, wenn man einen Freund oder eine Freundin findet, die die Dunkelheit mit aushält und, wenn es denn gelingen mag, ein bisschen Licht hineinträgt und die Dämonen verscheucht. Auch das haben wir in den letzten Wochen und Monaten leidvoll erfahren müssen, was es bedeuten kann, wenn junge Menschen zu sehr sich selbst überlassen sind - nicht nur in Winnenden! Wir sind sprachlos angesichts des Leids, das Krankheit und Tod über manche Familien gebracht haben, und dieses Leben wäre trostlos, würde nicht auch hier gelten, was der 139.Psalm weiß: Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.

Gott ist da, selbst in den verzweifeltsten Momenten - die poetischen Worte sollen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß da einer daran denkt, sein Leben wegzuwerfen - was ihn hindert, ist Gottes Nähe, und was ihm wieder Mut gibt, ist das, was Gott von ihm denkt: Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin, sagt er schließlich (- wunderbar, so wie ich bin, ohne Maske und Styling und ohne sich neu zu erfinden!), und er bittet: Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ichs meine, du Gott, der mich von allen Seiten umgibt, sieh, ob ich auf bösem Wege bin und leite mich auf ewigem Wege.

Von allen Seiten umgibst du mich, Gott, und hältst deine Hand über mir. Dieses Bibelwort, das ich für die Predigt zu eurem Fest ausgesucht habe, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, ist mein Konfirmationsspruch. Ich habe ihn mir damals nicht auswählen dürfen. Unser Pfarrer, der mich seit meiner Taufe kannte, hat ihn für mich ausgesucht, und erst kurz vor der Einsegnung habe ich ihn zum ersten Mal gehört. Ich habe mir deshalb auch keine Begründung dafür überlegen müssen (so wie ihr das tun solltet), und wenn ich das heute nachholen sollte, dann steckte inzwischen die Lebenserfahrung der letzten 29 Jahre mit darin. Trotzdem bin ich gut damit gefahren, auch weil ich ihn immer wieder im Zusammenhang gelesen und bedacht habe (das solltet ihr mit euren Konfirmationssprüchen übrigens auch tun!). Und deshalb will ich es doch versuchen, und (wie von euch erbeten) die „Perlen des Glaubens" mit zu Rate ziehen. Heute würde ich mir diesen Vers als Denkspruch wählen, weil (Perlenband zeigen und abzählen!)

- mich die Taufe ganz fest an Gott bindet: Seit damals ist Gottes segnende Hand über mir, mal spürbar (Konfirmation, Hochzeit...), mal als Erinnerung (Segenswort am Ende des Gottesdienstes)

- Wenn ich die Wüstenperle sehe, brauche ich keine Angst zu haben: Gott ist auch auf den Wüstenwegen an meiner Seite, er hält mich, wenn ich strauchle, er weiß, wo die Quellen sind, und hilft mir, mich zu orientieren.

- Daß er mich liebt, wie ich bin, daß er mich „wunderbar gemacht" hat und mir Würde und Schönheit zuspricht, auch wenn ich mich gerade selbst nicht leiden kann, hilft mir, gelassener zu werden.

- Weil er mich mit seiner Liebe umgibt und mit seinem Segen begleitet, ohne mich zu gängeln oder meine Freiheit zu begrenzen, deshalb kann ich mich auf das Abenteuer einlassen, zu lieben und wieder geliebt zu werden, kann etwas riskieren für meine Liebe und auch mein Scheitern vor ihn bringen. Meine Geheimnisse sind bei ihm gut aufgehoben, meine Tränen trocknet er, meiner Hoffnung gibt er neue Nahrung.

- auch am äußersten Meer ist Gott da, in den Stunden der Verzweiflung und der Angst, dann, wenn ich denke, daß niemand mich hört und keiner mich trösten kann - Finsternis ist nicht finster bei ihm: Auf die Perle der Nacht folgt die Perle der Auferstehung; das Leben ist stärker als der Tod!

- Am Ende bin ich wieder bei dir - heißt es im 139. Psalm, der mir zeigt, wie ich beten kann (dafür stehen die Perlen der Stille) und so, wie Gott mich umgibt, so reicht dieses Wort einmal um das Perlenband herum, und am Ende bin ich wieder bei ihm, bei Gott, der uns kennt und liebt und ganz diskret und taktvoll um uns ist, so daß wir uns selbst finden und entfalten können, scheinbar unbeobachtet und doch umgeben von aufmerksamer Fürsorge.

Es ist wirklich ein gutes Wort für's ganze Leben, und ich freue mich besonders, daß in diesem Jahr auch eine von euch diesen Spruch für sich gewählt hat. Es gestattet uns kindliches Vertrauen und Offenheit, es vermittelt Geborgenheit und Schutz - vor Gott müssen wir unsere Türen nicht verschließen und „Betreten verboten!" darauf schreiben, im Gegenteil: bei ihm selbst ist dieser geschützte Raum, in dem wir zuhause sind, in diesem und im nächsten Leben. Von allen Seiten umgibt er uns und hält seine Hand über uns

Amen.

 



Pfarrerin Gerlinde Feine
Ofterdingen
E-Mail: gerlinde.feine@cityinfonetz.de

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