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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2010

Predigt zum Volkstrauertag, verfasst von Dieter Koch

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir (Psalm 130,1) - Predigt zum Volkstrauertag

unter Bezug auf Ingeborg Bachmann, Psalm und Peter Huchel, Winterpsalm, beide Texte in P. Kurz (Hg.), Ich höre das Herz des Himmels, Moderne Psalmen, Düsseldorf 2003, dort S.42 und S.62

Liebe Gemeinde, in der Mitte des Novembers wendet sich die Erinnerung auf die Tiefe des geschichtlichen Schmerzes. Die Toten des Zweiten Weltkrieges und die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft drängen ins Wort.  Generationen sind zwischenzeitlich nachgeboren, die Allgewalt der Vernichtung scheint fern, für manche schon zu fern. Und doch ist Unvergessliches geschehen: ein Massensterben, eine Vernichtungsorgie sondergleichen, ein Blutzoll, der alles Vorstellbare sprengt - und mitten darin die angstdurchtönten Momente: die Bombennächte, die Vertreibung, das Grauen in den Weiten Russlands und das nicht weniger aufblitzende Grauen bedrängend nah.

Mehr als ein Volk wurde aus seinen Träumen gerissen, mehr als eine Jugend wurde in den Orkus geworfen, mehr als  eine Kultur wurde aufgeschlitzt, ausgeweidet, zurückgelassen - und mitten darin Hans und Grete, Susanne und Wolf, Igor und Ludmilla, Jack und Bessie - mitten darin die gefallenen Väter, die verwundeten Freunde,  die in ihrer Seele aufgerüttelten Brüder -  mitten darin Mütter, Freundinnen, Schwestern, die sich fragen: Warum? Wieso? Wozu?

Eine Frage, die sich in einem lauten Schrei um den Erdball zieht. Denn was am heutigen Tag in die Erinnerung fällt,  die Blutbäder in Europa und im Pazifik, leuchten wieder auf in den Kriegen und kriegsähnlichen Zuständen, die sich immer neu über den ganzen Erdkreis ziehen. Der Schrecken heute begegnet uns in den Gewaltphantasien und Terrorattacken des islamischen Fanatismus. Der Schrecken heute begegnet uns in Mordattacken und Vergewaltigungsphantasien mitten unter uns.

Der Schmerz verdichtet sich zum Schmerz über des Menschen Gattung, Mensch über Mensch eingewickelt im Geflecht der tötenden Aggression, der Blutgier, des inszenierten Bösen. Neben die Kriegsbilder stellen sich die Bilder geschändeter Kinder, in ihrer Seele verheerter Jugendlicher, am Leistungsdruck der Zeit Zerbrochener.

„Schweigt mit mir, schweigt mit mir, wie alle Glocken schweigen"! So fasste Ingeborg Bachmann ihre Konfrontation mit dem Bösen ins Wort, nicht ohne Grund Psalm genannt. Es ist ein Klageschrei, ein Flehen aus bedrängender innerer Not. Ein erschütternder Text, der im Benennen der grausamen Seiten der menschlichen Art bis an jenen Ort vorstößt, wo noch das Schweigen ins Verstummen zu fallen droht, bis - als tönte eine ferne Stimme in ihr - ihr Klageschrei  sich aufhebt zu dem Namenlosen, der allein noch in ihre Stummheit ein Wort zu legen vermag. Ihr Text wird zum Psalm, zum Gebetsruf inmitten einer seelischen Eiszeit, inmitten einer innerlichen winterlichen Landschaft.

Peter Huchel verdanken wir Zeilen, die in einzigartiger dichterischer Kraft diesem Erstarren Ausdruck geben. Peter Huchels Winterpsalm ist eine der eindrücklichsten Beschreibungen für die innere Qual derer, die dem geschichtlichen Schmerz standzuhalten suchen. Er hört die Stimme der Opfer, auch dort wo er sie nicht eigentlich mehr hören will - man will doch leben, leben, lieben, sich laben, und vergessen, aber es gibt kein Vergessen, wenn es nur Vertuschen ist.  Peter Huchel, 1903 in Berlin geboren, 1981 in Staufen bei Freiburg i. Br. gestorben, suchte die Sprache der Natur, hörte auf die Stimmen des Feldes,  aber er konnte nicht überhören, wie mitten unter dem Blühen der Bäume und dem Trillern der Vögel das Blut schrie, das Blut der Opfer, das Blut Abels, der Kain nicht entkam. Die Chausseen, die er entlang ging, hallen wider vom Scheppern der Panzerketten und leider viel zu oft, von den Opfern  des Terrors. Menschen haben die Stirn, einander zu schrecken, einander das Fürchten zu lehren.

„Ich ging bei träger Kälte des Himmels und ging hinab die Straße zum Fluss, da sah ich die Mulde im Schnee, wo nachts der Wind mit flacher Schulter gelegen. Seine gebrechliche Stimme, in den erstarrten Ästen oben, stieß sich am Trugbild weißer Luft: ‚Alles Verscharrte blickt mich an. Soll ich es heben aus dem Staub und zeigen dem Richter? Ich schweige. Ich will nicht Zeuge sein.‘  Sein Flüstern erlosch, von keiner Flamme genährt."

Wir werden Zeugen eines Ganges über das Feld. Es ist kalt, die Schritte ziehen ihn unter einem erfrorenen Himmel weiter. Da schaut er den Schrecken - die Mulde kündet von denen, die man in die Grube gestoßen hat. Wie es aushalten? Was nur sagen? Wofür zeugen? Der Wind selbst ist erschreckt, und schweigt.  Das Schweigen der Natur wird zum Schrei, ein wortloses Flehen wonach? Gibt es einen Morgen, gibt es den Morgen, gibt es ein Licht, das die Wärme zurückholt, und das Gedenken an die Toten in Trost verwandelt?

„Wohin du stürzt, o Seele, nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts als vieler Wesen stumme Angst."  Sie ist in uns, sie lauert in uns, sie tönt unter den schrillen Lauten des Vergessens. Sie ruft nach dem Morgen, den sie nicht kennt, sie ruft nach dem Licht, das die Finsternis durchstößt.

„Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht." Nur wer der Lichtspur der Wahrheit zu folgen wagt, wird an die Brücke geführt, die aus dem Leid hinüberführt in die Versöhnung. Die Brücke verbindet, sie trennt nicht, aber sie lässt zusammenkommen, was einander braucht. Angst wird erlöst im Geschenk der Freude, Hass wird erlöst im Geschenk der Liebe, Dunkel wird erlöst im Geschenk des Lichts. Das Licht nimmt das Dunkel auf, die Liebe verwandelt den Hass in die Sehnsucht nacheinander, die Freude nimmt den Ängstlichen mit zum Tanz. Kann das sein?

Peter Huchel berührt ganz leise das Geheimnis. Die Seele lebt aus dem Hören, aus dem Hören erwächst das Beten. Das Beten ist die eigentliche Brücke.  Beten - warum? wieso? Wozu?

„Ich stand auf der Brücke, allein vor der trägen Kälte des Himmels" und es ist als würde in ihm der Psalm erstehen: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens" Dieser Psalm, dieses  Gebetswort Israels, indem sich alle finden können, die zerschlagenen Herzens sind. Ein Schrei aus der Tiefe, ein Wurf hinüber mitten im Abgrund. Der Raum des Verlässlichen ist aufgebrochen, ein Sog reißt hinab. Der Tod ist nah. Der Schmerz ist groß, die Angst ist stark. Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir. Und doch legt sich über die zerstörende Gewalt die fast noch stumme und doch im Flehen so starke Stimme, wie ein Ruf aus einer anderen Welt. Nur der Geist kann so beten. Aber sein Wort wird zum Seil, das in die Tiefe fällt, das Seil, an dem man sich langsam hochziehen kann, zurück in die vertraute Welt, wo Liebe wartet, und Glück, Freude aneinander und das Haus, das du baust.

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Es ist ein Schrei der Seele, ein Flehen nach Gott. Es ist ein Ruf, der aus dem Nichts kommt, grundlos sich streckend nach Gott. Der Rufer weiß um die Verstrickung, er benennt sie. Er kann das Geflecht, aus Hass und Schuld, aus Angst und Schwäche, aus Illusionen und Nachlässigkeiten nicht auflösen.  Er will nicht richten, aber harren auf den Morgen, auf das Morgenrot der Vergebung. Er hat nichts als seine Erwartung, dass die Zerschlagenen, die Heimgesuchten, die Aufgerüttelten,  durchhalten und hoffen auf das anbrechende Licht des Friedens, das ihre Seelen klärt. Furcht beginnt sich zu verwandeln in Gottesfurcht, Gottesfurcht in Ehrfurcht, Ehrfurcht in das beseligende Gefühl der Einigkeit, der wiedergeschenkten Vertrautheit mit sich, mit der Welt, mit Gott. Die Brücke dahin ist das Gebet, ein Ruf, der aus dem Nichts kommt, grundlos sich streckend nach Gott.  

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir. Denn bei  Dir ist die Gnade und viel Erlösung bei Dir.



Pfarrer Dr. Dieter Koch
Stuttgart-Riedenberg
E-Mail: dieter-k-koch@web.de

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