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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Johann Peter Hebel, 2010

Glauben und Schreiben. Ethik, Alltag und Frömmigkeit bei Johann Peter Hebel. Ein Vortrag, verfasst von Wolfgang Vögele

A. Anfangen, wo andere aufhören

In einer der schönsten und bekanntesten Geschichten Johann Peter Hebels kommt ein junger Handwerksbursche aus Tuttlingen nach Amsterdam. Er spricht kein Holländisch, aber er findet sich zurecht in der großen Stadt und staunt über die großen Bürgerhäuser mit all ihren fein gearbeiteten Fenstern, Simsen und Dächern. Voller Bewunderung fragt er einen Passanten auf Deutsch, wem denn das schönste dieser großartigen, reich verzierten Häuser gehöre.

Und der Passant antwortet: Kannitverstan. Das heißt auf Holländisch nichts anderes als: Ich kann dich nicht verstehen. Der Handwerksbusche legt sich die Antwort ganz anders zurecht: Das vornehme Bürgerhaus, meint er, gehöre dem Herrn Kannitverstan. Er kommt zum Hafen und fragt, wem die vielen Kauffahrtsschiffe gehören. Und der angesprochene Passant sagt erneut: Kannitverstan. Und der Handwerksbursche beginnt, den Herrn Kannitverstan als den reichsten Holländer in Amsterdam zu bewundern.

Schließlich begegnet der Handwerksbursche einem Trauerzug. Auf die Frage, wer denn hier beerdigt werde, sagt der angefragte Holländer ein drittes Mal: Kannitverstan. Und nun macht sich der einfältige Handwerksbursche seinen eigenen moralischen Reim auf die Geschichte: Reichtum und Tod liegen beim Herrn Kannitverstan erschreckend eng beeinander. Reichtum schützt in keiner Weise vor dem Tod. Und Hebel beendet die Geschichte mit dem Satz: „(...) wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt reich seien, und er so arm, so dachte er (der Handwerksbursche wv) nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff, und an sein enges Grab."[1]

Reichtum, Hochmut und Todesgefahr liegen eng beeinander, das kennt man schon aus der biblischen Geschichte vom reichen Kornbauern (Lk 12,16-21). Hebel erzählt die Geschichte nun so, daß sich aus dem Umweg des sprachlichen Mißverständnisses eine kleine alltagsethische Einsicht ergibt: Auch der größte Reichtum schützt nicht vor dem großen Gleichmacher des Todes. Aber ohne das deutsch-holländische Sprach-Tohuwabohu wäre die Geschichte banal. Über das Mißverständnis muß jeder Leser und Hörer schmunzeln, deswegen kann er sich die Geschichte um so leichter merken und den alltagsethischen Rat annehmen.  Eingebettet in solchen Humor transportiert sich die ethische Botschaft um so leichter. Der einfältige Handwerksbursche wäre aus allen Wolken gefallen, hätte er nur einmal im Reiseführer unter geläufigen Redewendungen für Sprachunkundige nachgeschaut. Oder hätte er einen Passanten getroffen, der das Holländische und das Deutsche beherrschte.

Der Handwerksbursche geht einen falschen Denkweg und zieht doch den richtigen Schluß. So bekommt die Geschichte etwas ganz sachte Schwankendes, Ambivalentes: Ethische Einsicht ist nicht leicht zu gewinnen, und manchmal ergibt sie sich aus Stolperern des Denkens und Sprechens.

Kannitverstan: So lautet die Losung über diese und viele andere Geschichten Hebels, für die eine gewisse Doppelbödigkeit und Mehrdeutigkeit typisch ist. Die Einsichten des Verstehens und die Torheiten des Nichtverstehens liegen manchmal so eng beieinander, daß sie kaum voneinander zu unterscheiden sind. Die Vernunft kommt nur über Umwege zu ihrem ethischen Ziel, und die Menschen gehen durch die Welt auf schwankendem Boden: Weder auf ihr Denken noch auf ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit können sie sich völlig verlassen - und sind deswegen angewiesen auf Humor, Schläue, Klugheit und überraschende Einsicht. Mit deren Hilfe winden sie sich aus schwierigen Lagen heraus - und sei es der Strick des Henkers oder das bestrafende Wort des verhörenden Offiziers. All das hilft, um aus den vieldeutigen Zeichen der Wirklichkeit die richtigen Schlüsse zu ziehen. Man muß die Zeichen der Wirklichkeit richtig lesen können, oder wie - wiederum doppeldeutig - Hebel seine Leser auffordert: Sie sollen dort anfangen zu lesen, wo andere aufhören.[2]

Hebel war ein Meister der kurzen, lakonischen Erzählung, der Anekdote des Witzes: Er brachte Glauben und Vernunft, Alltagsschläue und Frömmigkeit auf den witzigen Punkt, der den Leser mit überraschender Erkenntnis konfrontierte. Verstan und Kannitverstan, Verstehen und Nichtverstehen liegen bei ihm ganz eng beieinander.

B. Lesen

Man erweist diesem Theologen und Dichter, dessen Geburtstag sich im Jahr 2010 zum zweihundertfünfzigsten Mal jährt, am besten seine Reverenz, indem man seine Geschichten wieder zur Hand nimmt und darin liest, liest und liest. Denn er ist ein begnadeter Erzähler kurzer und kürzester Geschichten, der mit den Federstrichen weniger Worte eine ganze Welt zu erzeugen weiß. Und deswegen treten hinter dem Erzähler Hebel der Theologe, der Lehrer und der Kirchenbeamte Hebel zurück. Er weiß Pointen zu setzen und Lehren zu vermitteln, ohne platt und eindeutig und affirmativ zu werden; ihm gelingt es, die Verschlingungen und Verwindungen des Lebens auf eine humorvolle Pointe zu bringen, ohne sich in Zynismus oder Menschenverachtung zu verlieren. Seinen Erzählungen ist abzuspüren, daß er ein Liebhaber der Menschen war. Und deswegen nimmt er ihre Kauzigkeit ernst, kein Wort der Kritik über den Handwerksburschen, der auf großer Fahrt doch ein wenig von der Sprache im fremden Land hätte lernen können. Er war volksnah, ohne sich anzubiedern, und er war aufmerksam, seine Erzählkunst floß nicht in den starren, geraden Bahnen einer aufgeklärten oder biedermeierlichen Ideologie. Er ließ sich von dem, was nicht in seine Meinung paßte, irritieren, und ihm gelang es, die Vieldeutigkeit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit in eine ebenso lakonische wie komische Sprache zu fassen.

C. Basel, Hausen, Karlsruhe, Schwetzingen

Johann Peter Hebel wird am 10.Mai 1760 in Basel geboren[3]. Der Vater stirbt früh, und der Junge wächst in Hausen im Wiesental auf. Seine alemannische Herkunft wird er nie vergessen. Er sollte Jahrzehnte später einer der ersten werden, die Gedichte in alemannischer Mundart veröffentlichten. In Basel, dann in Karlsruhe geht er aufs Gymnasium, und studiert zwischen 1778 und 1780 in Erlangen Theologie. Nach dem Examen kommt er bei einem Pfarrer Schlotterbeck als Hauslehrer unter. Schließlich wird er 1783 als Lehrer ans Pädagogium in Lörrach versetzt. Von dort wird er 1791 als Subdiakon an das Gymnasium illustre in Karlsruhe berufen.

Hebel wäre gerne als Pfarrer zurück ins Alemannische gegangen, aber alle Pläne in dieser Richtung zerschlagen sich. Statt dessen erlebt er die Besetzung Karlsruhes durch französische Truppen. 1802 erhält er den Auftrag, den Badischen Landkalender herauszugeben, der später in den Rheinischen Hausfreund umbenannt wird. Für diesen Kalender schreibt Hebel die meisten Geschichten, die wir heute noch in der Sammlung des „Schatzkästleins" kennen. Hebel wird Direktor des Gymnasiums, er tritt in die Kirchenverwaltung ein und wird 1819 zum Prälaten der Evangelischen Landeskirche ernannt. Als solcher hat er maßgeblichen Anteil an der Union, der Vereinigung der reformierten und lutherischen Kirchen in Baden. Das trägt ihm einen Ehrendoktor der Heidelberg Universität ein. Am 23.September 1826 stirbt er in Schwetzingen an Darmkrebs auf der Rückreise von einer Prüfung.

Aus der Biographie wird manches sichtbar: eine tiefe Verbundenheit mit der alemannischen Heimat, dem Dreiecksland zwischen Schopfheim, Basel und Mühlhausen; daneben eine früh bemerkte pädagogische Berufung zum Lehrer sowie eine beständige Liebe zur Schriftstellerei, auch wenn sie Hebel stets nur neben seiner schulischen und klerikalen Karriere verfolgte. Und wegen seiner beruflichen Tätigkeit blieb sein literarisches Werk von schmalem Umfang: neben den Kalendergeschichten vor allem ein Band mit alemannischen Gedichten und ein Band[4] mit Nacherzählungen biblischer Geschichten. Daneben war er auch ein begnadeter Briefschreiber, der Freundschaften auf schriftlichem Wege pflegte. Den heutigen Leser kommt das zugute, sofern die Briefwechsel erhalten sind.

Als Theologe war Hebel der sog. Neologie verpflichtet, die er als Student in Erlangen kennen lernte, eine Theologie, die Vernunft und Weltwissen als Orientierungsmaßstäbe ernst nahm, eine Theologie, die sich jenseits der eng begrenzten Bereiche frommer Orthodoxie und des Konfessionalismus bewegte. Offensichtlich lernte er in Erlangen, Glauben nicht mit Rechthaberei zu verwechseln. In seinen Schriften wird eine Weltoffenheit sichtbar, die bei aller Offenheit dennoch heimatverbunden blieb. Dem Alltagsglauben, der in seinen Erzählungen sichtbar wird, eignet ein starkes Moment des Ethischen. Dieses verbindet sich mit Elementen der Schöpfungsfrömmigkeit und einer unkonventionellen Sichtweise des ökumenischen, evangelisch-katholischen Dialogs, mit der er seiner Zeit weit voraus war. Als Architekt der reformiert-lutherischen Union der Badischen Landeskirche setzte er um, was er in seinen Erzählungen längst in starken Bildern seinen Lesern eingeprägt hatte. Aber es lohnt sich, den Alltagsglauben und die Alltagstheologie Hebels nicht anhand seiner universitären Lehrer, sondern mit Hilfe der Texte und Geschichten des „Schatzkästleins" zu betrachten.

Schon das ist an seiner Theologie auffällig: Er war kein Dogmatiker, sondern er verstand sich als ein weltoffener Christ, der, in der geglückten Formulierung Gerta Scharffenorths, den Glauben ins Leben ziehen wollte. Und ihn prägte die Überzeugung, daß dieses Modell eines alltagsgesättigten[5] Glaubens sich trotz aller glaubenskritischen Stimmen der Aufklärung und aller vernunftkritischen Stimmen der frommen Orthodoxie auch durchsetzen konnte.

D. Schöpfungsfrömmigkeit oder der Kanonenschuß auf die Planeten

Dazu zählte zunächst ein Moment der Schöpfungsfrömmigkeit. Sein Kalenderprojekt enthielt nicht nur Anekdoten und moralische Geschichten, sondern auch ein in mehrere Kapitel aufgeteiltes Kompendium aktueller Informationen zur Kosmologie. Darin bedient sich Hebel nicht mehr der biblischen Schöpfungsgeschichte, sondern des aktuellen damaligen naturwissenschaftlichen Wissens. Trotzdem bezeichnet Hebel dieses kosmologische Kompendium, seine „Allgemeine Betrachtung über das Weltgebäude"[6], die von der Erde, der Sonne[7], dem Mond[8], den Sternen, den Planeten[9], den Fixsternen[10] und den Kometen[11] handelt, ausdrücklich als eine Predigt[12]. Zur Predigt wird die kosmologische Betrachtung, weil sie das Staunen über die Wunder des Kosmos auf die göttliche Allmacht zurückführt, etwa in der folgenden Passage über den Planeten Erde: „Aber niemand kann die göttliche Allmacht begreifen, die diese ungeheure große Kugel schwebend in der unsichtbaren Hand trägt, und jedem Pflänzlein darauf seinen Tau und sein Gedeihen gibt, und dem Kindlein, das geboren wird, einen lebendigen Odem in die Nase. Man rechnet, daß tausend Millionen Menschen zu gleicher Zeit auf der Erde leben, und bei dem lieben Gott in die Kost gehen, ohne das Getier. Aber es kommt noch besser."[13] Gott hat die Welt in ihrer wunderbaren Ordnung nicht geschaffen, sondern er erhält sie auch und führt sie an ein gutes Ende.

Über die Größe und die wunderbare Ordnung der Schöpfung läßt sich trefflich staunen, aber Hebel macht sich auch zum Anwalt einer Reihe von Tieren, die von den Menschen verachtet, geschmäht oder gar verflucht werden. Er wirbt für die Prozessionsraupen[14], für die Schlangen[15], für die Maulwürfe[16], die Spinnen[17] und die Eidechsen[18]. Hebel mahnt, man dürfe Schlangen nicht mit Drachen (36f.) verwechseln, und so setzt er an die Stelle von Vorurteilen und altem Aberglauben moderne biologische Erkenntnis, die Gattungen und Ordnungen in der Fauna unterscheidet.

Und neben das Staunen über das vernünftige göttliche Wirken in der Schöpfung und dem Werben für das von Menschen Verachtete in Flora und Fauna tritt als drittes Moment Hebelscher Schöpfungsfrömmigkeit die Veranschaulichung: Hebel erklärt die Planeten, auch die entfernteren. Am weitesten von der Sonne ist der Saturn entfernt, nämlich 2 514 000 000 Meilen. Das ist eine ungeheure Zahl, die sich ein Tagelöhner oder ein Husar aus dem dritten Regiment, aber auch ein Schüler vom Gymnasium oder ein Pfarrer aus dem 20. Jahrhundert nicht recht vorstellen können. Hebel findet das folgende Bild, um die Entfernung anschaulich zu machen: „Wenn auf der Sonne ein Artillerist vom 2. Bataillon in diesem Augenblick eine Kanone anbrennte, die Kugel flöge in ihrer bekannten Geschwindigkeit, Tag und Nacht, Sonntag und Werketag in gerade Linie immer fort und fort, so käme sie doch in den Merkur erst nach 10 Jahren; in der Venus nach 18, auf der Erde (...) nach 25 (...) Jahren an. Bis zu dem Saturnus aber hätte sie zu fliegen 238, und zu dem Uranus 479 Jahre."[19] Der Kanonier schießt von der Sonne auf die Planeten. Und diesem Bild gibt Hebel sofort eine Wendung der Glaubensgewißheit. „So weit sind diese 11 Sterne einer nach dem andern von der Sonne entfernt, die gleichsam ihre Mutter und Säugamme ist; und sie verbreitet doch rings um sich / bis zu dem letzten so viel Licht und Wärme und Segen als jedem nötig ist, und der unsichtbare Gott, der sie erschaffen hat, ist mit seiner Allmacht und Güte überall zugegen, und sättiget und erfreut alles, was da lebet, mit Wohlgefallen."[20]

E. Lehren für den Alltag ziehen

Der Schöpfungsfrömmigkeit tritt nun keine dogmatische Christologie, sondern eine gewitzte, durch Klugheit und Feinsinnigkeit geprägte Alltagsethik zur Seite. Es ist wahr: Hebel erzählt seine Anekdoten, um Lehren zu vermitteln, aber man mißversteht Hebel, wenn man in den „Lehren" seiner Geschichten eine plumpe und affirmativ Spießermoral erkennt. Einen ersten Hinweis gibt die bereits zitierte Geschichte von Kannitverstan, der ja auf dem falschen Weg seiner sprachlichen Unkenntnis zur angemessen skeptischen und auch todesbewußten alltagsethischen Weisheit kam.

Es ist richtig: Hebels Geschichten enden oft mit einer Moral oder einer Lehre oder mindestens mit einer Bemerkung, die in diese Richtung zielt. Aber Hebel war eben auch ein Meister darin, solchen „Lehren" am Ende von Geschichten eine höchst subtile Wendung zu geben. Das wird sehr schnell deutlich, wenn man sich Anekdoten anschaut, die Hebel für den „Hausfreund" bearbeitet hat. Der Frankfurter Jurist Michael Stolleis hat in einer kleinen Studie die Quellen der Anekdote „Das Advokaten-Testament" zusammengetragen. Diese Quellengeschichte ist hier nicht zu wiederholen, aber sie bietet die Möglichkeit, Original und Hebel'sche Bearbeitung miteinander zu vergleichen.

Hebel benutzte, wie Stolleis herausarbeitet, für seine Anekdote den folgenden Juristenwitz: „Ein Advocat machte auch seinem Krankenbette ein Testament, und verschrieb sein ganzes Vermögen lauter Narren und unsinnigen Leuten: 'Denn', sagte er, 'von solchen habe ich es bekommen, und solchen will ich es auch wieder geben.'"[21] Diese Botschaft ist eindeutig: Ein Rechtsanwalt lebt von der Streitlust und der Rechthaberei seiner Klienten. Beides hat ihn reich gemacht

Bei Hebel wird etwas ganz Anderes daraus: „Ein Advokat, der am Ende seines Lebens fast eine Unruhe des Gewissens darüber empfand, daß ihn sein Beruf so reich gemacht hatte, stiftete sein ganzes Vermögen in das Narren- oder Tollhaus. Aus Achtung für so manchen verständigen oder rechtlichen geneigten Leser, der aus rechter Überzeugung und Pflicht in einen Prozeß verwickelt sein kann, will der Hausfreund nicht verraten, was der Advokat für eine Beruhigung darin gefunden habe. Auch kann sich der Advokat geirrt haben, aber er meinte wenigstens, es sei billig."[22]

Die Geschichte besteht nur aus einem Satz: Der Rechtsanwalt vermacht sein Vermögen dem psychiatrischen Krankenhaus. Die so genannte Lehre nimmt demgegenüber zwei Drittel der Anekdote ein. Die Botschaft lautet nicht mehr: Rechtsanwälte leben von der Dummheit ihrer Klienten. Statt dessen treibt Hebel den Leser zum eigenen Nachdenken darüber, was denn wohl das Motiv des Advokaten für die Schenkung an das Narrenhaus gewesen sein mag. Der Rechtsanwalt ist sich seines eigenen Testaments nicht sicher, denn er empfindet „fast" -sagt Hebel - eine „Unruhe des Gewissens". Hebel, der Hausfreund tut so, als habe er persönlich mit dem Advokaten gesprochen, aber er will das Geheimnis des Motivs nicht verraten. Denn er will die juristisch gebildeten Leser nicht kränken. Und er gibt auch zu bedenken, daß der Advokat sich bei seinem eigenen Testament geirrt haben könnte. Damit ist der ursprüngliche Witz in ein beträchtliches Schillern geraten: Der Advokat könnte es so gemeint haben, daß er den Narren zurückgibt, was er zuvor den Mandanten-Narren genommen hat. Aber das ist nicht sicher.

 Denn was Gerechtigkeit ist und was die Juristen dazu beitragen, das ist höchst schillernd und bedarf des langen Nachdenkens - oder der Einzelfallentscheidung. In diesem Schillernden der Lehre sind nun die Extrempositionen ins Wanken geraten. Weder will Hebel sagen: Es gibt gar keine Gerechtigkeit, noch will er sagen: Gerechtigkeit ist, was der einzelne davon hält. Es ist für einen Leser des 21.Jahrhunderts auffallend, wie viele von Hebels Anekdoten sich um Hinrichtungen drehen: Der Scharfrichter und Henker spielt in vielen Geschichten eine bedeutende Rolle.[23]

Zumal die Frage der Gerechtigkeit nicht nur in der juristischen, sondern vor allem auch in der alltagspraktischen Perspektive verhandelt wird. Armut und Reichtum, Glück und Unglück, Zufriedenheit und Verzweiflung sind keinesfalls Konstanten in einem Leben. Alles kann sehr schnell wechseln, was Hebel zu dem Fazit bringt: „Erstens, man soll im Glück nicht übermütig, nicht unfreundlich und beleidigend gegen geringe und arme Menschen sein. Denn es kann vor Nacht leicht anders werden, als es am frühen Morgen war, und 'wer dir als Freund nichts nutzen kann, der kann vielleicht als Feind dir schaden'. Zweitens, man soll seinem Feind keinen  Stein in der Tasche, keine Rache im Herzen nachtragen."[24]

Hebel will seine Leser mit Hilfe solcher Geschichten zum Nachdenken über Gerechtigkeit führen. Und das gelingt ihm, indem er Positionierungen vermeidet und das Eindeutige schillernd und mehrdeutig macht. Gerechtigkeit wird dann zur so komplizierten Frage, daß der Hausfreund Hebel seine Leser gut aufgeklärt nötigt, sich ihre eigenen Gedanken darüber zu machen.

Und dieses Prinzip läßt sich in vielen der Geschichten und Anekdoten Hebels wiederfinden. Spätere Schriftsteller nach Hebel haben die Lehre nach den Geschichten einfach weggelassen, weil sie ihre Leser nicht bevormunden wollen. So weit geht Hebel noch nicht, dafür war er zu sehr aufgeklärter Theologe und vor allem Pädagoge und Lehrer. Aber er hat erkannt, daß man es sich beim Erteilen von Lehren nicht allzu einfach machen darf. Und genau das macht die hohe literarische und alltagsethische Qualität seiner Geschichten aus.

F. Juden und Muslime, Protestanten und Katholiken

Es fällt auf, wie viele von Hebels Geschichten jüdischen[25] oder muslimischen[26] Mitbürgern gewidmet sind.  Über die Türkei, das „Morgenland" sagt Hebel: „Es ist doch nicht alles so uneben, was die Morgenländer sagen und tun." Hieraus kann man eine gewisse unbefangene Neugierde lesen, andere Religionen, Weltanschauungen und Kulturen aufzunehmen und zu rezipieren, was daran bewahrenswert erscheint. Dieses Bewahrenswerte erscheint jedoch vor allem unter ethischem und alltagspraktischem Aspekt, nicht unter der Perspektive der Wahrheit von eigener und fremder Religion. Alltagsfremde Dogmatik scheint Hebel nicht gemocht zu haben. Nicht umsonst profilierte er sich als Architekt der Bekenntnisunion der Badischen Kirche, die die vormals reformierte und die lutherische Konfession vereinigte.

Was die Wahrheit von Religionen betraf, so nimmt man bei Hebel eine gewisse Skepsis wahr, die er im Verhältnis von Katholiken und Protestanten in die Erzählung „Die Bekehrung"[27] faßte: Irgendwo in Westfalen leben zwei Brüder. Der eine ist Protestant, der andere tritt zum katholischen Glauben über. Über den Glauben geraten beide in jahrelangen heftigen Streit. Schließlich macht der eine ein Versöhnungsangebot. Sie treffen sich an neutralem Ort, aber der Streit geht weiter, sie versuchen sich, jeweils gegenseitig vom anderen Glauben zu überzeugen. Man trennt sich wieder. Nach sechs Wochen schreibt der eine Bruder dem anderen: Deine Gründe haben mich überzeugt. Ich bin jetzt auch katholisch geworden. Der andere schreibt zurück: Was hast du da schon wieder gemacht? Gestern bin ich zur lutherischen Kirche zurückgekehrt, um mich mit dir zu versöhnen.

Hebel zieht daraus für seine Leser das folgende Fazit: „Merke: du sollst nicht über die Religion grübeln und düfteln, damit du nicht deines Glaubens Kraft verlierst. Auch sollst du nicht mit Andersdenkenden disputieren, am wenigsten mit solchen, die es ebensowenig verstehen als du, noch weniger mit Gelehrten, denn die besiegen dich durch ihre Gelehrsamkeit und Kunst, nicht durch deine Überzeugung. Sondern du sollst deines Glaubens leben, und was gerade ist, nicht krumm machen. Es sei denn, daß dich dein Gewissen selber treibt zu schanschieren."[28] Religion ist keine Sache der Grübelei und des Argumentierens, das erinnert an die Gefühlsreligion des höheren Herrnhuters Schleiermacher. Sie ist Sache individueller Entscheidung, und über Wahrheit kann nicht argumentiert werden. Deswegen läßt Hebel, wie die Geschichte deutlich macht, religionsfremde Interessen als Grund für den Religionswechsel nicht gelten. Wer allein aus Gründen des Familienfriedens konvertieren will, der betrügt sich letzten Endes selbst. Nur einen Grund läßt Hebel für den Religionswechsel gelten: das persönliche Gewissen.

Hebel macht in dieser Geschichte, ohne daß er es weiter entfaltet, Religion zur Sache individueller Gewißheit, Überzeugng und Entscheidung. Er ist nicht so weit gegangen, diesen Gedanken kirchenkritisch zu wenden, und darum hat er auch keine liberale Theologie entwickelt. Aber der Schritt vom rechthaberischen protestantisch-orthodoxen Konfessionalismus zur liberalen Badischen Union war schon ein großer Schritt. Andere sind nach ihm sehr viel weiter gegangen.

G. Unverhofftes Wiedersehen

Die Betonung religiöser Individualität bei Hebel bedeutet keinen Verlust an religiöser Tiefe. Das macht am besten die schönste und vorletzte Geschichte aus dem Rheinischen Hausfreund deutlich. Mit ihr will ich diesen Beitrag abschließen.

In „Unverhofftes Wiedersehen"[29]  küßt ein junger Bergmann im schwedischen Falun seine ebenso junge Verlobte und verabschiedet sich von ihr. Danach fährt er ins Bergwerk ein. Das Unglück will es, daß er im Stollen verschüttet und noch lange danach vermißt wird. Die Jahrzehnte gehen ins Land, und Hebel überbrückt diese Zeit, indem er vom Erdbeben in Lissabon über Maria Theresia bis zum Kaiser Napoleon wichtige politische und gesellschaftliche Ereignisse Revue passieren läßt.

Im Jahr 1809 entdecken Bergleute den Leichnam eines jungen Mannes. Der Leichnam ist bestens konserviert, aber niemand erkennt den jungen Mann. Da kommt eine alte Frau daher, die frühere Verlobte des jungen Bergmannes. Und sie ist die einzige, die ihren Verlobten doch noch wieder erkennt. Alle sind gerührt, weil die alte Frau, die nie geheiratet hat, plötzlich diesen jungen Mann wieder sieht - nach 50 Jahren, in denen er im Bergwerk verschüttet war. Die alte Dame, die einmal eine junge Verlobte war, läßt den Leichnam beerdigen, und sie legt ihm ein Halstuch um, das sie seit damals aufbewahrt hat.

Und am Ende sagt sie: „Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehen im kühlen Hochzeitsbett, und laß dir die Zeit nicht lange werden. Ich habe nur noch wenig zu tun, und komme bald, und bald wird's wieder Tag. - Was die Erde einmal wieder gegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten (...)."

Es ist zu bewundern, wie kunstvoll Hebel hier mit den Themen Zeit, Liebe und Altern umgeht. Der Leichnam des toten Bräutigams ist nicht gealtert, er wurde durch das Vitriol, ein Salz der Schwefelsäure, konserviert. Die Verlobte ist gealtert, aber sie hat ihre Liebe zu dem damaligen Verlobten nicht vergessen. Hebel benötigt nur wenige Sätze, um den ungeheuren Kontrast zwischen der gealterten Frau und dem noch jugendlichen Leichnam den Lesern auf eine ganz anrührende Weise vor Augen zu stellen. Damit ist die Fallhöhe der Erzählung aber noch nicht ausgelotet.

Denn mit der Entdeckung des Leichnams ist die Geschichte ja nicht zu Ende. Der tote Bergmann kommt ein zweites Mal in die Erde, nämlich im Sarg. Er hat das Halstuch, das Symbol der Liebe zwischen dem Paar, um den Hals geschlungen. Diese Liebe wurde nie eingelöst oder verwirklicht - und dennoch ist sie nicht verloren gegangen. Mehr noch: Sie besteht weiter, weil die alte Verlobte den Tod ausdrücklich als Schlafen versteht. Auch sie weiß, daß sie bald sterben wird. Darum sagt sie, daß sie bald zu ihrem toten Verlobten in die Erde kommt.

Aber auch mit dem Tod ist nicht alles aus. Hebel legt in die Geschichte am Ende, ohne über Auferstehung zu sprechen, ein gutes Stück Ewigkeitstheologie hinein. Das erste Bild der Auferstehung besteht in der Ankündigung des Endes der Nacht: „...bald wird's wieder Tag." Paulus redet häufiger davon, daß der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht kommt. Und die zweite Anspielung auf die Auferstehung besteht im letzten Satz: „Was die Erde einmal wieder gegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten (...)." Beim ersten Mal hat die Erde im Bergwerk den verschütteten Bergmann frei gegeben. Beim zweiten wird sie die toten Menschen zur Auferstehung freigeben, wenn der Engel auf der letzten Posaune bläst.

Man kann an dieser Geschichte sehen, wie großartig es Hebel schafft, in wenigen Sätzen eine Szene zu schaffen, deren Tiefgründigkeit und Schönheit und Symbolträchtigkeit kaum zu überbieten ist: Die alte Frau steht am Grab. Sie trauert, und dennoch ist sie voller Hoffnung. Sterben und Tod, Zeit und Ewigkeit sowie Zuneigung, Liebe und Dauer gehen hier eine Verknüpfung ein, die den Leser ebenso berührt wie ihn zum Nachdenken und Meditieren einlädt. Diese Geschichte ist nun völlig frei von platter Moral, sie enthält auch keine Lehre und keine abgedroschene Predigtsprache, welche die Hoffnung oft nur mit Worthülsen herbeizureden in der Lage ist.

Der Tod zwingt dem Menschen ein besonderes Handeln und Nachdenken auf: Er löst Angst aus, Befürchtungen und Schrecken, genauso aber kann er in Hoffnung, Gewißheit und Glauben überwunden werden. Hebels große Kunst macht es aus, beide Dimensionen so zur Sprache zu bringen, daß sie sich nicht gegenseitig aufheben, sondern gegenseitig in der Schwebe halten. Das Verstehen und das Nichtverstehen (Kannitverstan) halten sich in Tod und Leben die Waage.

 

 

 



[1]   Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Frankfurt 2008 (nach der Ausgabe Tübingen 1811), 130. Dieses Buch wird im folgenden als Schatzkästlein zitiert.

[2]   Hebel, a.a.O., 7: „[Der Verlag] rechnete auf viele Leser, die, wie die Bekenner des mosaischen Gesetzes, dort zu lesen anfangen, wo andere aufhören."

[3]   Zur Biographie Franz Littmann, Johann Peter Hebel. Humanität und Lebensklugheit für jedermann, Erfurt 2008.

[4]   Johann Peter Hebel, Biblische Geschichten, Zürich 1992 (1824).

[5]   Zum Begriff der Alltagsethik in moderner Perspektive vgl. Wolfgang Vögele, Weltgestaltung und Gewißheit, Münster 2006.

[6]   Schatzkästlein, 9.

[7]   Schatzkästlein, 10.

[8]   Schatzkästlein, 68.

[9]   Schatzkästlein, 81.

[10] Schatzkästlein, 205. 217.

[11] Schatzkästlein, 167.

[12] Schatzkästlein, 9.

[13] Schatzkästlein, 12.

[14] Schatzkästlein, 17.

[15] Schatzkästlein, 32.

[16] Schatzkästlein, 62.

[17] Schatzkästlein, 78.

[18] Schatzkästlein, 89.

[19] Schatzkästlein, 127.

[20] Schatzkästlein, 127f.

[21] Michael Stolleis, Brotlose Kunst, Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, XLV, Nr.2, Stuttgart 2006, 57.

[22] Hebel, zit.n. Stolleis, a.a.O., 53

[23] Z.B. Schatzkästlein, 214 (Die leichteste Todesstrafe), 163 (Der unschuldig Gehenkte), 184 (Heimliche Enthauptung)  sowie an vielen anderen Stellen.

[24] Schatzkästlein, 15.

[25] Z.B. Schatzkästlein 194 (Der falsche Edelstein), 103 (Der Große Sanhedrin zu Paris).

[26] Z.B. Schatzkästlein 14 (Denkwürdigkeiten aus dem Morgenlande).

[27] Schatzkästlein, 220f.

[28] Schatzkästlein, 221.

[29] Schatzkästlein, 234-236. Zu der Geschichte vgl. Johann Anselm Steiger, Unverhofftes Wiedersehen mit Johann Peter Hebel, Heidelberg 1989, 127ff.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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