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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Johann Peter Hebel, 2010

Römer 12,21, verfasst von Uwe Hauser

Liebe Gemeinde, verehrte Hebelfreunde,

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem (Römer 12,21)

Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen wahrhaftig gegenübertreten. Johann Peter Hebel, der praeceptor Badensis, der Lehrer Badens, wusste das. Menschen, die erziehen wissen das hoffentlich auch. Kinder und Jugendliche wissen das sowieso. Die Achtung, der Respekt, der Kinder und Jugendlichen werden wachsen, wenn es im gütig verstehenden, freundlichen und im rechten Sinne verstandenen respektvoll distanzierten Miteinander geschieht. Ja, es gedeiht im allerbesten Falle das, was Erziehung sein kann: dass ein Mensch selbsttätig wird, dass er sich ein Vorbild nimmt, das er weder anbetet noch hasst, sondern von dem er lernt. Wir hier hoffnungslos romantisiert? Ist her von einem Traum einiger wohlmeinender idealistisch geprägter Pädagogen die Rede? Mitnichten. Bei dem, was gelingende Bildung und Erziehung zu nennen wäre, helfen bekanntlich Bildungspläne nur bedingt weiter, so wichtig sie im Allgemeinen sind. Das Bildungsgeschehen braucht glaubwürdige Menschen, in der Sprache der Pädagogen „Lehrerpersönlichkeiten", denen die Mahnung des Apostels: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden überwinde aber das Böse mit Gutem, nicht allein zu einem hohlen Handlungsapell sondern zu einer gelebten Wirklichkeit geworden ist.  Menschen, die leben, was sie sagen und sagen, was sie leben. In der kleinen nur drei Zeilen umfassenden Geschichte, die unter dem Titel, „die Ohrfeige" im Badischen Landkalender erscheinen ist, wird dies zur Sprache gebracht.  Ein Büblein klagt seiner Mutter: "Der Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben." Der Vater aber kam dazu und sagte: "Lügst du schon wieder? Willst du noch eine?"  Für Hebel ist es kein Thema, da Kinder nicht dadurch erzogen werden, dass sie geschlagen werden. Körperliche Züchtigungen, ob im häuslichen oder schulischen Bereich haben keinerlei sachliche Berechtigung. Für das frühe 19. Jahrhundert eine äußerst fortschrittliche Position. Denn die Prügelstrafe oder das Schlagen im Unterricht galt als legitimes Mittel der Erziehung. Aber Hebel setzt diese Meinung nicht mit schulamtlich verordneten Zeigefinger durch, sondern mit einer Geschichte, ohne Moral, wohl aber mit einer gerade deswegen umso größeren Breitenwirkung.

Was ist in dieser Geschichte geschehen? Der Sohn ist im Recht gegenüber seinem Vater. Der Vater im Unrecht. Und er Vater setzt sich auch noch gegenüber der Mutter in ein weiteres falsches Licht, da er glaubt  seine Autorität  nur mit weiteren Schlägen zur Geltung bringen zu können. Aber gerade das Zusammenspiel von Worten und widerstreitender Tat setzt ihn offenkundig ins Unrecht. Deutlicher kann nicht mehr gesagt werden, worauf Lernen und die Bereitschaft auch erzogen werden zu wollen beruht. Auf Menschen, die glaubwürdig sind und ihre Aufgaben auch annehmen und wahrnehmen und den anderen nicht mit Schlägen zur Räson bringen, sondern einladen weiter zu kommen und sie in Geduld und Liebe zu begleiten. Der Junge, der zu seiner Mutter geht, ist kein Denunziant, der die Eltern gegeneinander ausspielt. Er tut etwas vielmehr sehr Berechtigtes: Er begehrt auf gegen die Regelung der Wahrheitsfrage kraft schlagender Argumente. Weniger mittels Schlagkraft  in der Form von Backenstreichen als vielmehr in der festen Überzeugungskraft, die in Wahrhaftigkeit gründet, geschieht erziehendes Handeln. Um dies deutlich zu machen bemüht Hebel nicht den moralischen wohl aber den pädagogischen Zeigefinger. Denn der moralische Zeigefinger wird immer dann in Stellung gebracht, wenn der andere zurechtgewiesen werden soll, wenn einer alles besser weiß (und natürlich auch „besser" ist). Der pädagogische Zeigefinger hingegen will einladen, hinweisen, will zum Nachdenken und zu neuer Praxis führen. Er verweist auf die Sache, die im Mittelpunkt steht. Denn am Ende der Geschichte müssen alle schmunzeln. Hoffentlich auch der Vater! Denn Humor war schon immer die beste und wertvollste Voraussetzung gelingenden Bildungsgeschehens, das auch immer Beziehungsgeschehen ist. Was für ein Segen, wenn miteinander gelacht wird und nicht über andere, wenn gar der Erziehende über sich selbst lachen kann. Wie befreiend, erlösend, öffnend und Gemeinschaft schaffend ist das. Denn lachen macht frei. Wer lachen kann, weiß, dass der Augenblick  nicht das Ende ist. Dass der Augenblick nicht alles entscheidet, dass eben nicht um Leben und Tod, um alles oder nichts geht. Hebel wusste um die Endlichkeit der eigenen Existenz, des eigenen Bemühens und des eigenen Lebens. Denn schließlich hatte er bevor er recht zu Verstande kam, schon seinen Vater und seine Schwester Susanne verloren. Mit dreizehn Jahren musste er die geliebte Mutter lassen, die in einem Ochsenkarren zwischen Steinen und Rötteln ihr Leben aushauchte. Aber dies war kein Grund zur Verbitterung, im Gegenteil. Die Endlichkeit des Lebens entwertet nicht die menschliche Existenz, sie macht sie erst recht wertvoll  und macht sie frei zu einem erlösten Leben. Wer um die Endlichkeit menschlichen Lebens weiß, und die Hoffnung auf Gottes neue Welt in sich trägt, der kann im hier und jetzt gelassener leben, der weiß eben, dass es nicht um alles oder nichts geht.

Aber neben dem Humor gründet Glaubwürdigkeit auch darin, dass es kein unangemessenes  Machtgefälle gibt, sondern dass für alle die gleichen Maßstäbe gelten. Macht kann nur der ausüben, der glaubwürdig ist, der innerlich legitimiert ist. Er wird es dann auch tun zum Besten aller. Das spüren die Menschen ihm ab. Und Kinder haben dafür ein feines Gespür dafür. Vor Gott sind wir einer letzten Bestimmtheit alle gleich. Wie groß auch immer die Unterschiede auf dieser Erde sein mögen, sie müssen doch in Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit gründen, sonst werden sie eben eines: lächerlich. Will der Vater wirklich Vater sein und nicht nur so heißen, dann kann das nur so geschehen, dass er das, was er sagt, auch lebt und das er lebt, was er  auch sagt. Mithin, dass er weiß, dass er vor Gott genauso dasteht wie sein Kind.  Kinder und Jugendliche haben ein feines Gespür dafür, ob dies gelingt oder nicht. Es geht in dieser Geschichte nicht um einen antiautoritären Affekt. Hebel will anderes. Er will mehr. Hat nicht gerade so Gott immer gehandelt: „Darin besteht ja die Liebe Gottes zu uns, das er uns geliebt hat, als wir noch seine Feinde waren". Gottes Wege mit den Menschen bestanden immer darin, menschliche Hartherzigkeit zu überwinden mit Güte und Freundlichkeit. Muten sich da Eltern und Lehrer nicht zu viel zu? Führt uns das wieder in Druck hinein, dass wir immer besser werden müssen? Führt dies nicht zu einem moralischen Druck, der in eine heillose Überforderung und dann dorthin führt, wo viele Eltern und Lehrer sind. In eine heillose Überforderung, in psychosomatische Krisen, wenn nicht Kliniken oder in den Vorruhestand? Mitnichten. Denn wer darum weiß, dass sogar Schüler Fehler machen, Lehrer bisweilen auch, der wird frei. Wer darum weiß, dass sogar Eltern Fehler machen, aber Kinder bisweilen auch, der lebt in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Der lässt sich eben nicht vom Bösen überwindet, überwindet es vielmehr mit Gutem. Denn diese Überwindung besteht darin, dass wir weder das Böse das uns entgegenkommt mit Bösem beantworten, noch uns selbst dem Bösen hingegen, sondern hartnäckig dagegen das Gute suchen.

Wie das gehen könnte beschreibt Hebel in der wunderbaren Geschichte „Glimpf geht über Schimpf". Zwei Bemerkungen vorneweg: Sie kennen das Wort „Glimpf" heute noch in den Redenswendungen, dass jemand „glimpflich" davon gekommen  oder jemand  „verunglimpft" worden sei. Vielleicht könnte also die Geschichte überschrieben werden mit: „Freundlich sein ist besser als schimpfen". Aber es reimt sich so schön, also bleiben wir dabei „Glimpf geht über Schimpf". Und noch eine Anmerkung:  Der Verunglimpfte in dieser Geschichte ist ein „Hebräer". Wer wüsste besser als der Professor für Hebräisch Johann Peter Hebel, dass das Wort „hapiru" von dem sich Hebräer ableitet, „die Unterdrückten" bedeutet. Aber hören wir zunächst Johann Peter Hebel selbst: „Ein Hebräer, aus dem Sundgau, ging jede Woche einmal in seinen Geschäften durch ein gewisses Dorf. Jede Woche einmal riefen ihm die mutwilligen Büblein durch das ganze Dorf nach: „Jud! Jud! Judenmauschel!" Der Hebräer dachte: Was soll ich tun? Schimpf ich wieder, schimpfen sie ärger, werf ich einen, werfen mich zwanzig. Aber eines Tages brachte er viele neugeprägte, weißgekochte Baselrappen mit, wovon fünf so viel sind als zwei Kreuzer, und schenkte jedem Büblein, das ihm zurief: „Judenmauschel!" einen Rappen. Als er wiederkam, standen alle Kinder auf der Gasse: „Jud! Jud! Judenmauschel! Schaulem leckem!" Jedes bekam einen Rappen, und so noch etliche Mal, und die Kinder freuten sich von einer Woche auf die andere und fingen fast an den gutherzigen Juden liebzugewinnen. Auf einmal aber sagte er: „Kinder, jetzt kann ich euch nichts mehr geben, so gern ich möchte, denn es kommt mir zu oft und euer sind zu viel." Da wurden sie ganz betrübt, so daß einigen das Wasser in die Augen kam, und sagten: „Wenn Ihr uns nichts mehr gebt, so sagen wir auch nicht mehr Judenmauschel" Der Hebräer sagte. „Ich Muss mir's gefallen lassen. Zwingen kann ich euch nicht." Also gab er ihnen von der Stund an keine Rappen mehr und von der Stund an ließen sie ihn ruhig durch das Dorf gehen.

Der Hebräer aus dem Sundgau ist ein rechter Erzieher. Denn der Aggression der namenlosen Masse der „mutwilligen Büblein" kann er mit Gewalt nicht beikommen. Seine ebenso sachliches wie nüchternes Fazit lautet daher: „Werf ich ihrer einen, so werfen mich zwanzig". Er ist sich der Aussichtlosigkeit der Gegenaggression angesichts der heillosen zahlenmäßigen Überlegenheit seiner Gegner wohl bewusst. Aber er ergibt sich nicht in sein Schicksal und lässt nicht alles über sich ergeben. Er wird nicht zum willenlosen Opfer, mit dem die anderen Schindluder treiben können. Er zieht nicht die Achseln hoch um einen koketten, Mitleid heischenden Blick, in die Runde zu werfen: Bin ich nicht der Ärmste? Ganz im Gegenteil. Hebel ist entschlossen ihn als einen klugen und mutigen Pädagogen darzustellen. Er erzieht die Bande der „mutwilligen Büblein" auf göttliche Art. Wie stellt er es an? Klug, wie sonst! Er belohnt die Buben für ihr mutwilliges Unterfangen, in dem er ihnen schöne „weißgekochte"  (wer es liest, der merke auf!) Baselrappen mitbringt. Indem er sie für ihr gemeines Verhalten belohnt, reagiert er auf ihre Kränkung nicht gekränkt, macht sich nicht abhängig von ihrer Unverschämtheit, zieht sich nicht beleidigt in eine Ecke herum, sondern überwindet das Böse mit Gutem. Er versteht sie besser, als sie selbst verstehen! Er baut so eine Beziehung auf, wo die anderen nur die Beziehungslosigkeit und Demütigung gelten lassen wollen. Damit hat er Anteil an Gottes Wesen und Gottes Werk. Denn Gott hat uns ja auch geliebt, wie Paulus sagt, „als wir noch Sünder waren". Deswegen ist der Weg quer durch das Dorf, der sich der Meute stellt zwar ein Akt der Demütigung. Aber am Ende steht der Sieg. Wie er errungen wird? Indem er die  „Büblein" produktiv missversteht. Er hält sich nicht an den Beleidigungen auf, versteht sie vielmehr so, als wären sie ein Akt der Anerkennung, den er belohnen müsse.

Seine hartnäckige Freundlichkeit zahlt sich am Ende aus. Denn seine Ankündigung ihre Unverschämtheit nicht mehr belohnen zu können, löst bei ihnen Traurigkeit und Trotz aus. Fast sind sie traurig, dass nicht mehr alles seinen gewohnten Gang ging. Seine kalkulierte Freundlichkeit hat sie überwundern.  Sie werden ihn auch nicht mehr beschimpfen. Er hat sie listig getäuscht, um sie dahin zu bringen, wo sie weder Gewalt noch Widerstand gebracht hätten: zur Änderung ihrer Einstellung ihm gegenüber und zu einer Beziehung, die ihn leben lässt.  

Welche Reife der Persönlichkeit! Welche Größe!

Was für eine wunderliche Lehrstunde! Die christlichen Büblein, die aus der Kinderlehre und dem Katechismusstunden hätten wissen müssen, dass man über seinen Nächsten nichts Böses reden soll, geschweige denn ihn beschimpfen darf, bekommen von einem Juden den Sinn des achten Gottes eigebracht. Der durch das Dorf ziehende Jude wird zum Guten Hirten, der die verlorenen Schafe auf den rechten Weg bringt. Schließlich befindet sich auf den neuen weißgekochten Baselrappen der Hirtenstab. So wird der durchziehende Hebräer aus dem Sundgau, der rechte Bischof der Seelen dieser „Büblein". Gott gebe, wir hätten viele dieser Bischöfe landauf, landab!

Amen.



Schuldekan Dr. Uwe Hauser
Müllheim
E-Mail: schuldekan@ekbh.de

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