Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171

diverse, 2010

Unser tägliches Brot gib uns heute,Matthäus 6:11 Thema der 11. Vollversammlung des lutherischen Weltbundes in Stuttgart 2010, verfasst von Martin Junge

 

„Unser tägliches Brot gib uns heute…“ Unzählige Male bringen Christen und Christinnen diese Bitte hervor. Im Gottesdienst, in Andachten, aber auch im persönlichen Gebet. Das Vaterunser mit seiner Bitte um das tägliche Brot gehört  zum Grundbestand christlicher Frömmigkeit und gottesdienstlichen Lebens.  Immer noch. Auch Menschen, die der kirchlichen Tradition und christlichen Frömmigkeit fernstehen, verwenden das Vaterunser gelegentlich – manchmal fast instinktiv, an frühe Kindheitserinnerungen anknüpfend: zum Beispiel, wenn ihnen unsägliche Not und Verzweiflung schier die Sprache verschlägt, und keine Worte mehr ausdrücken könnten, was sie gerade  fühlen und hoffen. Dann ist es plötzlich wieder da:  „Vater unser im Himmel…“

Es ist großartig, dass es diese Worte gibt. Diese Bitten, in die wir alle unsere Bitten hineinlegen können, ja, die sogar all unser Bitten und Hoffen aufnehmen. Unzählig oft wiederholt, manchmal fast zu einer Litanei werdend, geben sie dem Menschen die Gelegenheit, sich tragen zu lassen, Schutz zu suchen, und Frieden zu finden. In solchen Momenten geht es dann gar nicht mehr um jedes einzelne Wort, auch nicht um die verschiedenen Bitten, die im Vaterunser enthalten sind. Es geht dann eher um die Rückbindung an die eigene Geschöpflichkeit, und um die Geborgenheit, die dieses althergebrachte Gebet mit seinen Bitten bewirken kann. Das Vaterunser entfaltet dann gerade darin seine Kraft, dass es menschliche Wahrnehmungsfähigkeit in all seinen Dimensionen anspricht. Der Mensch versteht ja so viel mehr, als sein Verstand erfassen kann!

Und doch ist die Frage durchaus angebracht: wissen wir eigentlich, was wir da beten? Wissen wir worum wir bitten, wenn wir sagen: „unser tägliches Brot gib uns heute…“? Erfassen wir noch die radikalen Aussagen über uns und über die Welt, in der wir leben, die in dieser schlichten Bitte enthalten sind?

Tatsächlich: das Vaterunser kann nicht allein bergen und befrieden – es kann auch herausfordern und hinterfragen. Denn es kommuniziert Inhalte und Gedanken, die sich nicht unbedingt mit unseren Gedanken und Erfahrungen decken. Es projiziert Bilder, die weniger mit uns und unserer Welt zu tun haben, als viel eher mit Gott und mit seinem hereinbrechenden Reich in unserer Welt.

Zwei Beispiele dieser herausfordernden Kraft dieser Bitte möchte ich hier näher entfalten. Zum einen ist es die schlichte, jedoch darum nicht unbedeutende Tatsache, dass wir jedes Mal, wenn wir das Vaterunser beten, um das Brot bitten. „unser tägliches Brot gib uns heute…“.

Sicherlich: auch in Deutschland wird die Zahl derer, die auf das Brot als eine Gabe angewiesen sind, immer grösser. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise, aber auch eine mittelfristige Entwicklung, die die Kluft zwischen Arm und Reich immer grösser werden lässt,  hat dazu geführt, dass viele Menschen ihr tägliches Brot nicht mehr selbst erwerben können. Sie müssten darum bitten, wenn nicht die Solidarität der Bevölkerung  sie vor diesem Schritt bewahren würde, indem sie Mittagstische und mobile Verpflegungsdienste für die Armen einrichtet.

Trotzdem hält sich aber weiterhin der Regelfall, dass man um das tägliche Brot heutzutage nicht unbedingt bittet. Man kauft es sich. Man geht in den Laden und holt sich, was man braucht. Muss man denn noch um ein Brot bitten, dass man sich kaufen kann?

Die Frage wäre eine rhetorische Frage, wenn sie nicht auf der erschreckenden Beobachtung fußen würde, dass sich –sicherlich nicht in so einer Radikalität – eine Einstellung breitzumachen scheint, die tatsächlich das Brot auf dem Tisch nur noch als Verdienst eigener harter Arbeit ansieht. Diese Einstellung wird in all seiner Härte deutlich, wenn wieder einmal über Migration und darin besonders Immigration debattiert wird. “Sollen sie sich doch ihr Brot selber verdienen…“ Oder noch unerbittlicher, ja, fast selbstherrlicher: „sie wollen das nutzen, was wir uns sauer erarbeiten…“.

Es steht außer Zweifel: es steckt Arbeit, Fleiß, und Schweiß hinter jedem Stück Brot, das auf den Tisch kommt. Auch für Menschen in Deutschland, oder in anderen Ländern, in denen das Brot auf dem Tisch immer noch der Regelfall ist. Denn auch da sind die Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen härter geworden: es herrscht stärkere Konkurrenz, immer öfter erfährt man von unfairen oder gar ungesetzlichen Mitteln in der Arbeitswelt.  Der Druck auf die Arbeitnehmer, quer durch die Etagen, nimmt zu.  Ebenso der Druck auf Arbeitgeber, um in einer globalisierten Welt mit all ihren Eigengesetzlichkeiten überhaupt noch zu bestehen.

Und doch sei die Frage hier erlaubt: kann man das so sagen, dass das Brot auf dem Tisch wirklich und im umfassenden Sinn verdient ist?  Ist denn etwa die Gesundheit, die es überhaupt ermöglicht, einer geregelten Arbeit nachzugehen, verdient? Ist der Arbeitsplatz, für den ich eingestellt bin, im umfassenden Sinn verdient? Sind die stabilen Verhältnisse, die die Erwerbstätigkeit ermöglichen, verdient? Und wie sieht es mit der Natur aus, die trotz gewaltiger und inzwischen fast selbstmörderischer Eingriffe durch den Menschen, immer noch für genug Nahrung für alle sorgt? Haben wir sie verdient? Doch wohl eher nicht!

Der Reformator Martin Luther hatte die richtige Intuition als er bei seiner Auslegung der Bitte des Vaterunsers nach dem Brot darauf hinwies, dass es bei der Bitte nicht um Brot allein geht, sondern um all die Dinge, die der Mensch zum Leben braucht. Und diese Dinge, darunter auch das Brot selbst, liegen nicht allein und ausschließlich in unserer Hand, sondern entziehen sich oft genug unserer Kontrolle, unseres Könnens und unserer Fähigkeiten.

Nein, Brot kann man sich nicht verdienen. Man kann es erwerben, wenn man die Mittel dazu hat, aber verdienen, niemals. Das ist es ja, was uns auch sonst als Menschen auszeichnet: wir sind auf Gnade angewiesen. Auch wenn wir uns unsere Welt oftmals noch so gnadenlos gestalten: ohne Gnade, ohne die Dinge, die uns einfach gegeben und geschenkt sind, wären wir gar nichts und könnten wir gar nichts. Auch das tägliche Brot gehört zu diesen Dingen. Wir können es zwar erwerben, trotzdem bleibt es aber ein Geschenk.

Die Bitte um das tägliche Brot erinnert uns somit an unsere Angewiesenheit auf Gnade, und damit an unsere Geschöpflichkeit. Bei allem schöpferischen Potential, das uns mitgegeben ist: wir bleiben Geschöpfe. Die Bitte um das tägliche Brot kann uns somit auch von so mancher Vermessenheit und Selbstüberschätzung abbringen, deren gegenwärtige globale Auswirkungen diese einfache Bitte umso wichtiger erscheinen lassen.

Der zweite Aspekt, der mir bei der Reflektion über die Bitte nach dem täglichen Brot immer wieder auffällt und mich direkt fasziniert ist das Wort „unser“ in der Bitte. „Unser tägliches Brot…“

Es geht also nicht um mein Brot (wie sooft sonst im Leben), sondern um unser Brot. Ein Brot also, das nicht nur mir gehört, sondern auch anderen. Mehr sogar: um ein Brot, das zwar anderen gehört, zu denen jedoch auch ich gehöre. Es geht nicht um „deren Brot“. Es geht in der Bitte des Vaterunsers um unser Brot.

Selten ist mir die Bedeutung dieser gemeinschaftlichen Dimension des Brotes so deutlich geworden wie im Hochland der Anden in Bolivien. Zu besonderen Gelegenheiten, besonders auch wenn Gäste kommen, feiern die Dorfgemeinschaften ein „aphtapi“. Es handelt sich dabei um ein Gemeinschaftsmahl, bei dem jeder Haushalt beiträgt, was er zur Verfügung hat. In ein Tuch gewickelt bringen die Dorfbewohnerinnen Nahrung mit und breiten sie auf dem Dorfplatz aus. Tuch an Tuch werden Kartoffeln, dicke  Bohnen, Maiskolben und manchmal auch etwas Käse und Eier ausgebreitet, wodurch ein langer, reichgedeckter Tisch entsteht. Aus „meinem“ Brot, in Tuch gewickelt, wird ein „unser“ Brot, großzügig ausgebreitet vor den Augen aller, damit alle davon essen.

Später habe ich in Äthiopien noch einen Brauch erlebt, der in eine ähnliche Richtung weist: in den Haushalten wird grundsätzlich aus einem einzigen Topf gegessen.  Ich fand diese Mahlzeiten beeindruckend aufgrund der starken Botschaft, die sie implizit mitteilen. Zum einen ist es erneut dieser gemeinschaftliche Ansatz, der typisch ist für viele Völker im sogenannten Süden. Zum anderen beeindruckt mich die klare Botschaft, dass es sich bei der vorhandenen Nahrung um eine begrenzte Ressource handelt. Das, was im Topf ist, ist das, was zur Verfügung steht.  Es gibt nicht mehr, und davon sollen – und werden! – alle essen.

Natürlich will ich diese autochthonen Praktiken nicht idealisieren. Ich bin mir selbstverständlich der Asymmetrien bewusst, die auch jene Tafeln  prägen, darin besonders die untergeordnete Rolle der Frauen an diesen Tischgemeinschaften.

Trotz dieser Widersprüchlichkeiten machten wir es uns zu leicht, wenn wir nicht die provozierende Anfrage zuließen, die in diesen einfachen, aber aussagekräftigen Gepflogenheiten enthalten ist: könnten wir das noch so? Könnten wir so einfach das „mein“ in ein „unser“ aufgehen lassen? Könnten wir das auch noch in einem Kontext des Mangels und der Begrenztheit? Oder könnten wir es vielleicht gerade dann?

Natürlich sind die Bedingungen heute andere. Wir leben nicht mehr in einer kleinen, überschaubaren Dorfgemeinschaft. Die Welt ist irgendwie grösser geworden, und darum in vielerlei Hinsicht auch anonymer. Andererseits ist die globale Welt durch Kommunikation und Wissen auf unglaubliche Weise näher gerückt. Dabei hat die Entwicklung der letzten zehn Jahre nur zu deutlich gemacht, dass nur noch globale Ansätze die lokal erfahrenen Probleme – Klima, Wirtschaftsordnung, Terror – in den Griff bekommen werden. Auch den Hunger. Wissenschaftler betonen es ja immer wieder: es wäre genug vorhanden für alle. Das Problem ist nicht der Vorrat, das Problem ist die Gerechtigkeit im Zugang zur Nahrung und in ihrer Verteilung. Erst wenn sich die Einsicht durchsetzt, dass Brot eine begrenzte Ressource ist, die dennoch jedem und jeder zusteht, erst dann wird eine Grundlage geschaffen, um die Geißel des Hungers zu beherrschen.

Was für ein Potential der christlichen Kirche dazu in der Bitte des Vaterunsers mitgegeben ist! Dort ist ja bereits die eben angesprochene Einsicht angelegt und vorgegeben. In der Bitte um das tägliche Brot  erfahren wir und wiederholen es  uns mit jedem neuen Gebet des Vaterunsers, dass wir nur durch großzügige Gnade in den Genuss des Brots kommen. Dort erfahren wir und wiederholen es uns, dass es nicht um mein Brot, sondern um unser Brot geht. 

Bei Gott scheint es tatsächlich kein „mein Brot“ zu geben! Daran erinnert uns sein eingeborener Sohn, Brot des Lebens, das Gott nicht für sich behält, sondern  großzügig verschenkt, damit alle das Leben finden, Leben in Fülle. „Nehmet hin und esset, dies ist mein Leib, für euch gegeben…“

Mögen uns die Erinnerung und die Erfahrung von Gottes Gnade, sowie die Bitte um das tägliche Brot wach machen für diese Einsicht und rastlos in unserem Bestreben, dass alle Menschen unser Brot genießen können.

 

 

 

 

 

 

 



Pfarrer Martin Junge
Genf
E-Mail: JUNGE@lutheranworld.org

Bemerkung:
Gewählter Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes
Ursprünglich geschrieben für die Pfarrerschaft der württembergischen Pfarrerschaft


(zurück zum Seitenanfang)