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ISSN 2195-3171

Konfirmation, 2010

Jubiläumskonfirmation zu Philipper 3, 17-21 (2010), verfasst von Jochen Riepe

I

Ob es das gibt : Einen Gnadenstand, in dem man seine Unvollkommenheit annehmen darf ?

Einen Stand , in dem Fehler vergeben, ja mehr : in dem man sie zeigen darf? ‚Oma', sagt der Enkel,'sieh' 'mal , ich bin jetzt größer als du'. ‚Das ist keine Kunst', antwortet die Oma und macht sich noch etwas kleiner , ‚du wächst ja auf der Erde , aber ich  - ich wachse in den Himmel'.

II

Nicht wahr ,liebe Gemeinde und besonders liebe Jubilare : Das ist inzwischen wieder ein wichtiges Thema : Kinder und Jugendliche suchen und brauchen Vorbilder. Manch einer spricht sogar von der ‚Pflicht zu führen'.  Was ist das eigentlich - ein Vorbild? Ein Mensch, den ich bewundere und liebe? Ein Ideal , das mich emporzieht und mir sinnvolle Ziele gibt ? Ein Glaube , der mich trägt; der mir die Erde erschließt und auch den Himmel?

III

 ‚Folgt mir, liebe Schwestern und Brüder!'  In dem Abschnitt aus dem Philipperbrief  stellt sich Paulus als solch ein Vorbild, ja als  einen Anführer , dem man folgen soll , vor. Die etwas düsteren Worte  stellen dies doch klar und hell heraus: Ich zeige euch einen Weg... und es sind zwei Wegmarken, die in der Verkündigung des Apostels herausragen. Der Blick auf das Kreuz Christi, denn von ihm kommen wir alle her. Und dann : Die Aussicht auf jenen Ort , in dem wir ein Bürgerrecht haben - den Himmel. Dort sollen wir hin.

IV

Kinder und Jugendliche brauchen und suchen  Vorbilder. Dieser Tag der Jubelkonfirmation , der Tag des Wiedersehens, soz. der Heimkehr, ist sicherlich auch ein Tag der Besinnung. ‚Weißt du noch? Erinnerst du dich auch?' Plötzlich steht uns die Lehrerin, der Pastor oder der Jugendleiter oder die Kindergottesdiensthelferin vor Augen, die uns doch damals so beeindruckt oder auch genervt und geärgert hat. ‚Ach ja!', sagen wir mit roten Ohren und spüren beim Erzählen, was uns lebenslang begleitet hat , was damals half und noch heute zu unserem Leben gehört. Wer hat mich angeleitet ? Wer zeigte mir die Erde, die Wiese ,den Wald, die Tiere, die Menschen ? Wer hat mir von Gott erzählt und vom Himmel? Was hat man mir mitgegeben? Sicherlich auch : Was ist man mir schuldig geblieben?

V

Ob es das gibt - einen Gnadenstand, der mehr wäre als bloß die Zeit eines Gnadenbrotes ? ‚Oma', sagt der Enkel,'ich bin jetzt größer als du...'  - ‚Ja', sagt die alte Dame,'du wächst ja nur auf der Erde, aber ich wachse in den Himmel'. Wir haben es gespürt , liebe Gemeinde: Das ist eine humorvolle, souveräne und zugleich tiefsinnige Weise mit jenem Erleben umzugehen, das uns mit dem Älter - und Wenigerwerden erreicht. Mehr : Es ist eine Weise, dies gerade zu nutzen und weiterzugeben . Wie fällt uns ein Stein vom Herzen, wenn wir eine Wissenslücke, eine Irritation oder eine Verwundung zugeben dürfen! Wie gnadenreich sind solche Augenblicke, da das Bluffen und Großtun zu Ende sein darf. Und wie heilsam-verstörend war jener Augenblick, da ein ‚TV-Senior' (M. Reich-Ranicki) öffentlich etwa so  sagte : Hier stimmt doch was nicht. Hier passe ich  nicht hin. Bei diesem Blödsinn mache ich nicht mit.

VI

Paulus würde vielleicht sagen : In solchen Momenten verstehen wir etwas von Gottes Gnade und unserem himmlischen Bürgerrecht, von jener Verwandlung  , ja Angstfreiheit, die Christus erfahren durfte und die eben darum uns allen zu gute kommt. Der Apostel gebraucht mitunter scharfe Kontraste und  starke Begriffe. Irdisch-Sein, Fleischlich-Sein - das ist oft genug Leben unter Druck. Unter Druck stehen und anderen Druck machen.

In der sog. Finanzkrise  wurde uns das Prinzip des Irdischen ja eindrücklich vor Augen geführt , und wir haben gemerkt, wie es nach uns allen greift. Mit Illusionen handeln und immer neu Stoff bekommen für jene Gier , die uns zuflüstert : Wenn ich das erst einmal habe, dann bin ich stark und vollkommen ... Mit vierzig die dritte Million und dann brauche ich niemanden mehr!  Paulus nennt das ‚Feindschaft  gegen das Kreuz Christi'  und umgekehrt meint er : Wer das Kreuz verstanden hat, ja wer diese Wunde selbst im Herzen trägt, dem ist dieses Irdische fremd. Der Schriftsteller Botho Strauß brachte es in ein sarkastisches Bild : ‚ Jeder Lebende amüsiert ein ausverkauftes Haus voll Toter. Sie setzen Preise aus für die größte Nichtigkeit ..., um die wir ... mit blutigem Ernst konkurrieren'.*

VII

‚Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel - folgt mir!' , ruft der Apostel. Macht von diesem Recht Gebrauch!'   Was ist das - ein Vorbild? Ein Anführer? Ein Mensch, den ich bewundere... ein Ideal, das mich emporzieht ... ein Glaube, der mich trägt ... auf Erden ... in den Himmel ... Wer war mir ein Vorbild und  wem bin ich eins geworden?

  Liebe Gemeinde und liebe Jubilare ! Um Himmels Willen seid an dieser Stelle nicht bescheiden, zurückhaltend oder gar deprimiert! Zeigen wir den Jungen und den Mittleren , die nun auch älter werden , zeigen wir das Stückwerk unseres Lebenslaufs, zeigen wir auch die Fehler, zeigen wir unsere leeren Hände und lassen uns dann vom Apostel sagen: Gott macht etwas daraus. Im Schatten des Kreuzes und im Lichte des Auferstandenen  seid ihr dafür Zeugen, dass Hochmut und Täuschung, Betrug und Selbstbetrug , Gier und Angst nicht das letzte Wort haben müssen. Nicht wahr , wir dürfen etwas sehr Großes  bescheiden und gelassen nachsprechen: Man kann seine Untergänge , Verwundungen und Schmerzen durchstehen - überleben. Es gibt eine Gotteskraft , die trägt uns hindurch, hinaus , hinauf und verwandelt uns. Gnadenstand  heißt es am Ende und nicht Gnadenbrot.

VIII

Darf ich noch einmal an den Anfang ? ‚Na klar', sagte die alte Dame. 'Natürlich bist du größer. Du gehst und denkst auch schneller als ich. Das muß so sein. Du wächst ja auf der Erde, aber ich  - ich zeig dir , wie man in den Himmel wächst'.

Wer seine Hände ausstreckt , wird gleichsam emporgezogen und empfängt den ganzen  Reichtum, den Gott uns zugedacht hat. Wer nichts mehr vortäuschen muß, darf endlich in Freiheit seine Gaben für seine Nächsten geben, das Überflüssige lassen und das Nötige tun. Anders ist es nicht zu haben : Man muß hier weniger werden , um dort anzukommen. Gnadenstand. Ich glaube, unsere Mitmenschen respektieren  uns erst, wenn wir uns selbst als solche respektieren - als Mitbürger Christi.

*Botho Strauß, Der Fehler des Kopisten , (1997) 1999(TB) , S. 93



Pfarrer Jochen Riepe

E-Mail: Jochen.Riepe@gmx.net

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