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ISSN 2195-3171

thematisch, 2010

Predigt über die Noah-Geschichte, 1. Mose 6-8 anlässlich des Konflikts um Stuttgart 21, verfasst von Christoph Dinkel

Liebe Gemeinde!

Gewalt ist keine Lösung. So könnte man den Ausgang der Noahgeschichte zusammenfassen. Gewalt ist keine Lösung, denn am Ende muss man doch miteinander auskommen und zusammen leben. Derjenige, der in der Noah-Geschichte diese Lektion lernen muss, ist - hätten Sie's, hättet Ihr's gedacht? - Gott. Gott muss lernen, dass Gewalt keine Lösung ist und die Noahgeschichte erzählt von diesem Lernprozess.

Am Anfang der Geschichte steht Gottes Empörung über den Lebenswandel der Menschen. Gott sieht die Bosheit der Menschen, er sieht, wie sie einander schlagen, betrügen und ermorden, wie sie die Gebote, die dem Leben dienen sollen, von Anfang an missachten. In der Bibel heißt es:

Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. (1. Mose 6,5-7)

Aus Ärger über die Bosheit der Menschen will Gott alles vernichten, was er gemacht hat. Mit Gewalt will Gott das Problem lösen und deshalb schickt Gott die vernichtende Flut.

Ärger und Vernichtungsphantasien kennen auch wir Menschen. Oft genug versuchen wir mit Gewalt und Brutalität durchzusetzen, was wir für angemessen und richtig halten:

Da rutscht einem als Mutter oder Vater bei der Erziehung gegenüber dem eigenen Kind die Hand aus, weil man sich überfordert fühlt und einem vor lauter Erschöpfung die Kraft für andere Maßnahmen fehlt.

Da wird auf dem Schulhof und in der Klasse ein Konflikt statt mit Worten mit Fäusten geklärt. Oder man wird hinterhältig und findet verdecktere Wege, den anderen zu schädigen.

Da wird am Donnerstag in Stuttgart von der Polizei mit massiver Gewalt gegen Demonstranten und Baumschützer vorgegangen, als befinde sich Stuttgart im Bürgerkrieg und als hinge die Zukunft der Stadt davon ab, dass eine Baustelle just an diesem Tag eingerichtet wird.

Da beschimpfen und beleidigen Demonstranten Polizisten mit äußerster Aggressivität und bewerfen sie mit Kastanien und anderen Dingen, als wären die Polizisten keine Menschen, als wären sie Feinde, Repräsentanten eines Unrechtsstaates.

Gewalt ist keine Lösung, weder verbale noch brachiale Gewalt. Gewalt ist das Problem. Und das Problem schlummert tief in unserer Seele. Denn unsere Gefühle geben uns oft genug die Rechtfertigung für Gewalt: Unser Gefühl wertet den anderen ab und wertet uns selbst auf. -Der andere verfolgt böse Absichten, wir selbst verfolgen immer nur gute Ziele. Der andere versteht das Problem gar nicht, während wir selbst umfassend erleuchtet sind. Der andere denkt nur an seinen Vorteil, während wir uns allein für das Gemeinwohl einsetzen. - Solche Gedanken sind normal und sie sind menschlich, aber im Fall eines ernsten Konflikts können sie gefährlich werden, weil sie Aggression und Gewalt freisetzen, weil sie den anderen ab- und uns selbst aufwerten, weil sie der Gewalt einen moralischen Vorwand liefern, der sie gerechtfertigt erscheinen lässt.

In der Noah-Geschichte ist es Gott, der auf Gewalt setzt. Und seine Begründung ist ganz menschlich und ganz moralisch: Weil die Menschen so schlecht sind, gehören sie vernichtet. So ganz wohl ist Gott bei dieser Lösung offenbar nicht. Irgendwie ist es ihm doch leid um seine Schöpfung und daher lässt er Noah und seine Familie am Leben. Auch die Tiere sollen überleben. Von jeder Art findet ein Paar Platz in der lebensrettenden Arche. Von den reinen Tieren und von den Vögeln kommen sogar jeweils sieben Exemplare mit aufs Schiff. Doch der Rest der Tierwelt und der Rest der Menschheit wird vernichtet. Auch wenn das alles erkennbar nur Mythologie ist, ist es doch keine schöne Vorstellung.

Noah und die Seinen überleben und mit ihnen sämtliche Tierarten. Alle Lebenden sind Nachfahren der damals Geretteten. Das wiederum ist eine schöne Vorstellung. Sie macht demütig. Sie sensibilisiert für die Unwahrscheinlichkeit des eigenen Lebens. Dass ich lebe, dass es mir gut geht, ist nicht selbstverständlich, sondern Anlass zu Dankbarkeit und Freude. Deshalb feiern wir auch Erntedankfest.

Im Blick auf Gott und im Blick auf das Problem der Gewalt hat die Geschichte aber eine andere Pointe. Gott blickt zurück auf das Geschehene und nimmt sein eigenes Verhalten kritisch in den Blick. Er schwört sich selbst, künftig von Vernichtungsaktionen wie der Sintflut abzusehen, obwohl die Menschen auch nach der Flut weiter böse sind und Gottes Gebote übertreten. Die wörtlich gleiche Formulierung, die Gott am Anfang der Geschichte zur Rechtfertigung der Flut heranzieht, benutzt er am Ende der Geschichte zur Begründung dafür, dass es künftig keine Sintflut mehr geben soll. In der Bibel heißt es:

„Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." (1. Mose 8,21-22)

Am Ende der Geschichte nimmt Gott Abstand von Maßnahmen der Gewalt gegen seine Schöpfung. Gott wendet sich kritisch gegen sich selbst und verspricht sich und den Menschen künftig besonnener und gelassener vorzugehen. Ganz auf dieser Linie der Noah-Geschichte sagt Jesus in der Bergpredigt: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Matthäus 5,45) Und als Konsequenz aus dieser Gelassenheit Gottes fordert Jesus zur Feindesliebe auf: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel." (Matthäus 5,44)

Die Geschichte von Noah zeigt uns einen bemerkenswert lernfähigen Gott. Mit kritischer Distanz zu sich selbst entscheidet er von Gewalt abzusehen, weil Gewalt keine Lösung ist, selbst dann nicht, wenn sie moralisch gerechtfertigt erscheint. Künftig, so nimmt sich Gott vor, setzt er allein auf die Erhaltung des Lebens und lässt über Gerechte und Ungerechte seine Sonne in gleicher Weise scheinen.

Wenn wir uns wieder einmal moralisch empören und uns selbst auf- und andere abwerten, wenn Gedanken der Gewalt in uns aufsteigen und zur Tat werden wollen, handgreiflich oder verbal, dann fällt uns hoffentlich rechtzeitig der Gott der Noahgeschichte ein, der begreift, dass Abwertung und Gewalt keine Lösung sind.

Und all jenen, die in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 auf der einen oder auf der anderen Seite engagiert sind, wünschen wir gleichfalls diese Lernfähigkeit des Gottes der Noahgeschichte, denn: Gewalt ist keine Lösung. Am Ende muss man in dieser Stadt doch miteinander auskommen und zusammen leben. Wer immer in der Geschichte um Stuttgart 21 der Böse oder der Gute ist - Gott jedenfalls lässt seine Sonne über beiden aufgehen. - Amen.

Appell des Stadtdekans der Evangelischen Kirche in Stuttgart Hans-Peter Ehrlich

Viele Menschen in unserer Stadt und darüber hinaus haben mit großem Erschrecken die Aktionen im Schlossgarten am 30. 09. 2010 erlebt. Die Bilder in unseren Köpfen sind präsent. Sowohl die Frauen und Männer der Polizei als auch die Demonstranten mussten erleben, dass eine Eskalation nicht abgewendet werden konnte. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 ist vorübergehend entglitten und gestört. Menschen wurden in ihrer Würde leiblich und seelisch verletzt. Kinder und Jugendliche kamen zwischen die Fronten. Menschen wurden von anderen Menschen in gute und böse eingeteilt. Wir erleben in diesen Tagen eine große Verunsicherung in der Bevölkerung und verstörte Menschen jeden Alters.

Mit großer Sorge blicken viele auf die kommenden Wochen. Wie ein Grauschleier scheint sich die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 über unsere Landeshauptstadt zu breiten. Deshalb appelliere ich an alle Beteiligten, einseitige Schuldzuweisungen zu unterlassen und an ihre  Vernunft und bitte um Mäßigung.

Es darf nicht unter uns einreißen, dass wir einander nur noch in Gegner und Befürworter einteilen. Diese Stadtgesellschaft muss zur Besinnung kommen. Ihre Bürgerinnen und Bürger brauchen Besonnenheit. Die starken Persönlichkeiten auf allen Seiten tragen dabei eine besondere Verantwortung.

Die jeweiligen Gegner sind keine Feinde! Diese einfache Wahrheit, die zu unserer Wertegemeinschaft gehört, muss wieder in die Köpfe und Herzen einziehen. Ich bitte die Verantwortlichen zur Besinnung zu kommen.

Anknüpfend an meinen Brief an die Stuttgarter Pfarrerinnen und Pfarrer vom 12. August und die Stellungnahme unseres Pfarrkonvents vom 15. September bitte ich unsere Kirchengemeinden dazu bei zu tragen, dass die Menschen zueinander finden. Dazu sind unsere Kirchen da. In ihnen beten wir für den Frieden. Auch um den Frieden in zerstrittenen Familien. Stuttgart 21 darf uns nicht so in seinen Bann ziehen, dass keine Zeit und Kraft mehr bleibt für andere gesellschaftlichen Themen mit zum Teil hoher Brisanz. Der Streit um Stuttgart 21 ist nötig, aber in ihm liegt nicht das Heil.

Ich bitte deshalb die Verantwortlichen nicht schlecht übereinander zu reden und um ein erkennbares Zeichen, das den gegenseitigen Respekt unterstreicht, zugleich die Menschenwürde achtet und Kommunikation miteinander wieder ermöglicht. 

Stuttgart, den 1. Oktober 2010

 



Zusätzliche Medien:
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Bemerkung:
Gehalten am 3. Oktober 2010, Erntedankfest


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