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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2011

Jahreslosung 2011 Römer 12,21, verfasst von Friedrich Weber

Lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Liebe Gemeinde,

Paul Gerhardt hat 1653 in seinem berühmten Lied zum Jahreswechsel gedichtet:

Nun lasst uns gehn und treten
mit Singen und mit Beten
zum Herrn, der unserm Leben
bis hierher Kraft gegeben.

Wir gehen dahin und wandern
von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen
vom Alten bis zum Neuen.

Gestern Abend ist es hier sicherlich gesungen worden.

Paul Gerhardt war, als er dieses Lied schrieb, nach langen Wegen endlich im brandenburgischen Mittenwalde Pfarrer geworden. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges hatte die Stadt drei Viertel ihrer Einwohner verloren. Wer lebte, musste in all dem neu anfangen – es galt, viel Schwieriges, Mühsames und Böses zu überwinden und den Glauben an das Gute festzuhalten.

Knappe dreihundert Jahre später, 1942,  schrieb Jochen Klepper in sein Tagebuch: „Das Herz erzittert vor dem neuen Jahr, als habe man eine Weite des Grauens betreten, sei in sie gewiesen. Welches Gewicht haben an diesem Neujahrsmorgen (oder eben -abend) die Strophen des Liedes: »Nun lasst uns gehn und treten« ...“  [nach Christian Brunners,  Paul Gerhardt, Weg – Werk – Wirkung, Göttingen 2006, S. 282]

Und noch immer begleitet uns dieses einprägsame Lied im Braunschweiger Land zur Jahreswende, auch wenn unsere Zeit Gott sei Dank keine annähernd so dunkle ist, wie es die Tage Paul Gerhardts oder Jochen Kleppers gewesen sind.

Dennoch werden Sie im Rückblicken und Nach-vorn-Schauen gesammelt und gesichtet haben, was die vergangenen Monate gebracht haben und was von dem vor uns liegenden neuen Jahr zu erwarten ist.

Freud und Leid, Hoffnung und Sorge liegen in solchen Momenten dicht beieinander; denn wir schlagen nicht nur ein neues Buch unseres Lebens auf; wir schreiben auch hinein als die, die wir bis hierher geworden sind, und nehmen so all die Erfahrungen, die Narben und Wunden genauso wie die Hoffnungen und Träume, ins neue Jahr mit hinein.

Vielleicht sind die ersten Zeilen des neuen Buches deshalb schon gefüllt mit guten Vorsätzen, die wir getrost fassen sollen und dürfen, ohne uns dabei lächerlich oder kindisch fühlen zu müssen, weil wir sie vielleicht schon im März vergessen haben werden. Denn allemal ist unser Leben damit beschenkt, dass wir neu anfangen dürfen.

Denn was immer es auch sei – der Vorsatz, ein bisschen vernünftiger zu leben, ein bisschen sorgsamer mit denen umzugehen, die wir lieben, oder behutsamer mit denen, die uns fremd bleiben, oder gar barmherziger mit uns selbst –, meistens scheitern wir im Laufe des Jahres an unserer eigenen Inkonsequenz und Schwäche und lassen uns von den immer gleichen Mechanismen besiegen.

Darum muss man wohl nüchtern konstatieren, dass die Jahreslosung für das neue Jahr fast wie eine verdichtete Zusammenfassung all dessen klingt, was wir uns vornehmen und versuchen:
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ – nachzulesen – oder soll ich sagen: nachzuleben? – bei Paulus im 12. Kapitel des Römerbriefes.

Lass dich, schreibt er, nicht vom Bösen besiegen und überwinden!

Das klingt in meinen Ohren nach mühsamem Ringen und zähem Widerstand. Denn wer sich überwinden lassen muss, wer befürchtet, besiegt zu werden, der hat doch versucht gegenzuhalten, der hat doch versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen, der hat doch gekämpft!

Und wer gekämpft und gerungen hat, ist der nicht in Beziehung geblieben und hat die Auseinandersetzung nicht aufgegeben, hat vor den Zumutungen nicht dicht gemacht?

Ist aber das tatsächlich unser Leben? Der ständige Kampf gegen das Böse? Hat das Böse tatsächlich in unserem kleinen alltäglichen Leben solche Macht?

Eigentlich sind wir doch ganz friedlich gestimmt in diesen Weihnachtstagen und willig, einander Gutes zu tun. Und könnte man nicht sogar meinen, in unserem demokratischen Land sei das Böse – wenn man mal vom Tatort absieht – gar nicht so leicht zu identifizieren? Für einen Jochen Klepper oder einen Liu Xiaobo ist es dagegen viel leichter gewesen, die Frontlinie des Bösen auszumachen und entsprechend zu versuchen, sich nicht besiegen zu lassen.

Die Berliner Pröpstin Friederike von Kirchbach hat jüngst von ihrer ostdeutschen Kindheit und Jugend erzählt, in der Schwarz-Weiß-Muster verlässlich angewendet werden konnten, um Gut und Böse zu unterscheiden:
Meine Märchen mit Pechmarie und Goldmarie und mit Schneewittchen und der bösen Königin waren voller Schwarz-Weiß-Gestalten. Genauso war es mit der im Schulalter über mich hereinbrechenden Gesellschaftstheorie: Kapitalismus und Sozialismus, Kapital und Arbeit, Unterdrücker und Unterdrückte. Schön war es zu Hause, bei den „Guten“, wo man sich am Ende der Jungen Gemeinde bei den Händen fasste und aufsagte: „Schließet die Reih'n, / treu lasst uns sein / trifft uns auch Spott / treu unserm Gott.“ [In: ZGP 4/2010, S. 56]

So könnte man sortieren und versuchen, das Böse im Schach zu halten.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Uns schwant, dass Paulus gute Gründe hatte, diesen Kampf immer neu für nötig zu erklären – und sei es nur, weil schon die Idee, selbst zu den Guten zu gehören, allzu leicht zur Einflüsterung des Bösen wird.

Wo sollten wir das Böse also zuerst zu überwinden suchen?
Vielleicht in uns selbst?

In den Momenten der Ohnmacht, am Krankenbett eines Freundes, eines Kollegen, im Scheitern einer Beziehung, wann immer unsere Kinder zu zerbrechen drohen oder uns die Liebe im Umgang mit den alten Eltern abgeht... – sind wir es dann nicht selbst, die an Gott zweifeln, mit ihm hadern und sich nicht unter seinen Willen beugen wollen? Macht uns das Böse dann nicht mehr als aus, als wir wahrhaben wollen?

Gerade die wirklichen Sorgen und Konflikte unseres Lebens geben ja darüber Auskunft, wie schwer es oft ist, sich nicht vom Bösen zu überwinden zu lassen und wie mühsam es dann ist, das Gute dagegenzuhalten.

Aus eigener Kraft werden wir das Böse wohl nicht überwinden können. Es ist zu präsent, zu stark.

Der große Theologe Karl Barth hat es in der ihm eigenen Wortmächtigkeit so beschrieben: „Das Böse ist der träge Klumpen des Tuns des Menschen als des Menschen.“ Das Böse bestimmt mithin unsere Wirklichkeit, fällt uns schlicht und ergreifend leichter als alles andere. Darum, so schreibt Barth weiter, „ist die Regel unserer Beziehung zum Anderen, dass wir Böses mit Bösem vergelten, d. h., dass wir im Anderen den Einen (den Guten), der er nicht ist, nicht sehen, sondern ihn darauf behaften, dass er ist, der er ist.“ [Barth, Der Römerbrief, 2. Aufl., München 1923, S. 451]

Das ist am Abend dieses Tages starker Tobak. Aber Barth lichtet uns damit die Jahreslosung und weist einen Weg in das neue Jahr hinein, denn er sagt auf eine klare Weise, die wir uns oft nicht mehr wagen:

Wir Menschen werden das Böse nicht überwinden und der Dinge, die uns in unserer Welt schuldig machen, nicht Herr werden, indem wir sie besiegen. Wir werden das Gute im neuen Jahr nur dann zu seinem Recht kommen lassen können, wenn wir unseren Blickwinkel verändern und den Anderen nicht darauf festlegen, so inkonsequent, schwach und schwierig wie wir selbst zu sein. Das Gute wird nur dann in unserem Leben Raum greifen, wenn wir Gott Gott sein lassen, denn „wenn wir erkannt haben, dass wir nicht Gott sind, müssen wir dann nicht einfach Frieden haltend demonstrieren für Gottes Freiheit und sein Erbarmen?“ [Barth, ebd., S. 454]

Gott selbst hat das Böse ja längst überwunden. Darum müssen wir im Anderen, dem Nächsten, ihn erkennen und ihm zuliebe das Gute suchen. Dann wird es möglich, ein bisschen vernünftiger zu leben, ein bisschen sorgsamer mit denen umzugehen, die wir lieben, und behutsamer, mit denen, die uns fremd bleiben, und am Ende gar barmherziger mit uns selbst.

Wenn wir im neuen Jahr Gott Gott sein lassen wollen, dann müssen wir mit ihm in Beziehung bleiben und nicht aufhören darum zu bitten, dass das Gute das Böse in unserem Leben und in unserer Welt überwindet.

Paul Gerhardts Strophen dafür heißen:

Sei der Verlassnen Vater,
der Irrenden Berater,
der Unversorgten Gabe,
der Armen Gut und Habe.

Hilf gnädig allen Kranken,
gib fröhliche Gedanken
den hochbetrübten Seelen,
die sich mit Schwermut quälen.

Und endlich, was das meiste,
füll uns mit deinem Geiste,
...

So möge es sein in diesem neuen Jahr.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft,
der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

 



Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber
Braunschweig-Wolfenbüttel
E-Mail: info@lk-bs.de

Bemerkung:
Predigt am Neujahrsabend im Braunschweiger Dom


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