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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Taufe, 2011

1. Kinderevangelium: Markus 10,13-16 für den Sonntag Invokavit, verfasst von Erika Godel

 

Leute aus dem Dorf brachten Kinder zu Jesus, damit er sie berühre. Aber die Jüngerinnen und Jünger herrschten sie an. Als Jesus das sah, wurde er wütend und sagte zu ihnen: „Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht daran, denn sie gehören zu Gottes Reich. Ja, ich sage euch: Nur wer Gottes Reich wie ein Kind aufnimmt, wird dort hineingelangen." Und er nahm die Kinder in die Arme, segnete sie und legte die Hände auf sie. (Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2007, S. 1909.)


Liebe Geschwister,

ich stelle mir vor, ich bin mit Jesus unterwegs in Judäa. Es ist heiß, der Mann ist halb so alt wie ich und entschieden besser zu Fuß. Ich muss mich ordentlich anstrengen, um hinter ihm und den vielen anderen her zu kommen, denn ich will ja keines seiner Worte verpassen.
Noch beschäftigt mich, was er gerade gesagt hat, nämlich dass es ihm nichts ausmacht, wenn irgendwer in seinem Namen Wunder tut. Solche Leute würden dann wenigstens nicht schlecht über ihn reden und, „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns", hat er gesagt (Mk 9,39f.). Das hätte ich schon gern anders, irgendwie eindeutiger: Klarheit vor Einheit! Sonst wäre ja dem Sektierertum Tor und Tür geöffnet. Wo es hinführen kann, wenn es für ausreichend erachtet wird, sich als „gottgläubig" zu bezeichnen, hat die Geschichte ja gezeigt. Nein, nein, klare Regelungen der Mitgliedschaft in einer Vereinigung von Gleichgesinnten sind schon wichtig, auch in der Kirche: Zur Gemeinde Jesu Christi gehört, wer an ihn glaubt und sich öffentlich vor Zeugen in der Taufe zu ihm bekennt.

Aber während ich mir noch so meine Gedanken mache, zieht die Karawane weiter. Schon wieder drängen sich die Massen, um Jesus zu hören. Dieses Mal haben sie auch noch ihre kleinen Kinder mitgebracht, und das, finde ich, geht wirklich zu weit. Sie können doch nichts als stören, wenn der Meister wieder zu grundsätzlichen Ausführungen anhebt. Also: „Husch, husch! Weg mit euch! Macht, dass ihr fortkommt. Hier geht es nicht um Kinderkram!"
Und da passiert etwas, was ich so überhaupt noch nie erlebt habe. Jesus wird wütend und dann zärtlich. Er nimmt die fremden, kleinen Schreihälse in die Arme und segnet sie, als wäre er ihr Vater. So kenne ich meinen Jesus nicht. Ich verehre den scharfsichtigen Rabbi für seine unorthodoxen Thoraauslegungen, der mir zum angebeteten göttlichen Christus werden wird, aber doch nicht den menschlichen, allzu menschlichen, weil emotionalen Mann aus Nazareth, der wütend auf mich ist und mich in meine Schranken weist, nur wegen ein paar dahergelaufener Kinder. Was erwartet der denn von mir? Wieso tadelt er ausgerechnet mich in aller Öffentlichkeit? Ich habe es doch nur gut gemeint, als ich ihm die Kinder vom Hals schaffen wollte. Wieso soll das Reich Gottes ausgerechnet kleinen Kindern gehören? Mir etwa nicht, jedenfalls nicht zuerst? Das soll mir mal jemand erklären!

Ich will es versuchen, liebe Gemeinde.

Dieses vielen Christen vertraute Jesuswort richtet sich nicht an Kinder, sondern an die Jünger in seiner Begleitung. Sie sollen durch das Beispiel, das er ihnen gibt, etwas lernen. Sie sollen beispielsweise lernen, sich zu beherrschen und ihre Befindlichkeiten nicht zum Maßstab ihrer Beurteilungen von anderen zu machen. Wenn ich die Anwesenheit mancher Menschen bei bestimmten Gelegenheiten unpassend empfinde, dann sagt das etwas nicht Gutes über mich aus und nicht über die, die mich stören. Im Reich Gottes sind die Störenfriede diejenigen, die unter Aufbietung vieler, anscheinend berechtigter Argumente beurteilen wollen, wer außer ihnen noch hinein darf.
„So verhält sich das mit dem Reich Gottes aber nicht", sagt Jesus. Gerade solche wie die Kinder, die sich gar nicht besonders anstrengen, um dazuzugehören, sind schon Teilhabende dieses „Unternehmens". Sie haben nämlich allen Erwachsenen voraus, dass sie empfänglich sind für alles Gute, was ihnen zuteil wird. Empfänglich dafür sind sie, weil sie bedürftig sind und ohne Zuwendung anderer gar nicht leben können. Die kommen nicht auf die Idee, selbstbestimmt und autonom leben zu wollen, weil ihnen dazu einfach alle Voraussetzungen fehlen. Ihre Bedürftigkeit macht sie sympathisch und ist das Vorbildliche. Und wenn ihr alle Hoffnungen, die ihr mit dem Begriff „Reich Gottes" verbindet, eigentlich gar nicht braucht, weil ihr meint, selber genau sagen zu können, was wie sein muss, damit ihr selig seid, dann kommt ihr eben nicht rein ins Reich Gottes, jedenfalls nicht zu Lebzeiten. Da ist das Reich Gottes nämlich schon mitten unter euch in jeder Interaktion zwischen Bedürftigen. Wo ihr Bedürftigkeit nur verwaltet, auch unter dem gut gemeinten Deckmäntelchen anwaltschaftlicher Diakonie, da lauft ihr Gefahr, den Zugang zum Reich Gottes zu verpassen.

Vorausgesetzt, ihr seid wirklich an der Zugehörigkeit zu Jesus Christus und damit zum Reich Gottes, das er verkündigt hat, interessiert, müsst ihr demnach eure Rollen überdenken. Nicht die Guten, die Überlegenen und die Macher haben die größten Chancen auf Bürgerrecht im Reich Gottes, sondern die, die ihre Bedürftigkeiten aufspüren, sie zulassen und Hilfe annehmen - wie die Kinder. Von ihnen ist auch zu lernen, dass sie unermüdlich sind und sich von Misserfolgen nicht wirklich schrecken lassen. Bedenken Sie, wie lange ein Kind braucht, ehe es den aufrechten Gang erlernt. Wie oft muss es hinfallen und sich wieder aufrappeln. Kinderzorn verraucht schnell. Kinder sind nicht nachtragend. Weinen und Lachen gehen ineinander über, und sie sagen, was sie denken.

Wenn das Lob der „Bedürftigkeit" als christlicher Tugend die frohe Botschaft des Textes ist, wieso wird er dann in reformatorischer Tradition so gerne zu Kindertaufen zitiert? Natürlich sind Neugeborene bedürftig. Sie Jesus anzuvertrauen und sie zu Gotteskindern zu proklamieren, soll sie beschützen vor allem Bösen, was ihnen im Laufe des Lebens droht. Deshalb der Segen, aber die Taufe? Davon ist in unserem Text mit keinem Wort die Rede. Der Reformator Calvin benützte die Erzählung dennoch nachdrücklich als Argument für die Kindertaufe gegen die Auffassung der Wiedertäufer, die diese ablehnten, weil Kinder das in der Taufe liegende Geheimnis noch nicht fassen könnten. „Wir dagegen erklären, dass die Taufe als das Unterpfand und Abbild der unverdienten Erlösung der Sünder und zugleich der Annahme Gottes an Kindes statt, den kleinen Kindern auf keinen Fall verweigert werden darf." Karl Barth, ein Gegner der Kindertaufe, war bezogen auf unseren Text dagegen der Meinung, dass dieser von der Fragestellung der Kindertaufe freizuhalten sei (Dogmatik IV/4,200). Dem stimme ich zu. Gottes Reich wie ein Kind aufzunehmen ist Lernstoff für alle, die Jüngerinnen und Jünger sein wollen.

Wer, wie ich und die Jünger, nicht frei ist von Herrschaftsgelüsten, von Vorurteilen und Egoismus, der hat genug daran zu kauen, dass vieles von dem, was scheinbar von Nutzen ist, um gut zu leben, für das Reich Gottes eher hinderlich ist. Die Lektion Jesu ist nicht leicht: Wenn Gott uns bevorzugt als Bedürftige liebt, sollten wir misstrauisch werden allen gegenüber, die für alles eine Antwort wissen.

Es ist und bleibt gut zu wissen, dass wir bei Gott bedingungslos geliebt sind, wie Kinder, die sich weder durch Gutes noch durch Böses hervorgetan haben. Es macht Sinn, dies auch heutzutage unseren kleinen Kindern nahe zu bringen, statt ihnen schon im Vorschulalter Leistungen abzuverlangen, die sie anderen überlegen machen sollen. Bedürftigkeit? Nein, danke! Oder wäre es im Sinne unseres Textes nicht doch die bessere Alternative, an unserer lebenslangen Bedürftigkeit der Liebe Gottes festzuhalten? Sie ist kein Mangel, sondern die Ermöglichung unseres Zugangs zum Himmelreich.

Amen.



Studienleiterin Dr. Erika Godel
Berlin
E-Mail: Godel@eaberlin.de

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