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ISSN 2195-3171

Katastrophen, 2011

Nach dem Erdbeben in Japan. Predigt zu Johannes 6:68b.69 , verfasst von Ulrich Nembach

Liebe Gemeinde,

Herr, wohin sollen wir gehen? (Joh 6,68b)

1.

Diese Frage, die Petrus an Jesus stellt, soll uns heute Morgen beschäftigen. Petrus spricht aus, was alle Jünger beschäftigt. Er sagt darum „wir": Wohin sollen wir gehen?

Heute ist dies die Frage von vielen Menschen in Japan. Die im Norden fragen so. Die in Tokio und Umgebung denken darüber nach, in den Süden des Landes zu gehen. Wenn sie dort Verwandte oder gute Bekannte haben, mag das gehen. Deutsche Firmen in Tokio lassen ihre Mitarbeiter in Hotels in Osaka einziehen. Wie lange soll das gehen? Was in Tokio verstrahlt ist, ist verstrahlt für lange Zeit.

Was sagen wir? Wohin sollen wir gehen? Die Medien, die Experten beruhigen uns. Sie weisen darauf hin, dass Japan von uns weit entfernt ist. Das stimmt. Was die Auswirkung auf unser Wetter angeht, ist das aber nur sehr bedingt richtig. Was passiert, wenn radioaktive Partikel aus den havarierten Kraftwerkblöcken in den Jetstream gelangen? Diese Winde wehen mit hoher Geschwindigkeit um die Erde. Ich fragte einen Experten, was dann geschieht. Er zuckte nur mit den Achseln. Das heißt: Wir wissen nicht, ob es geschieht, wann es geschieht, und wenn es geschieht, was dann hier bei uns in Europa, in Deutschland geschieht. Es steht aber fest, dass es uns, falls es geschieht, eventuell hart treffen kann.

Unsere Erfahrungen sagen dazu nichts. Die bislang plausible Argumentation, die auf Erfahrungen beruht, hat sich als unsicher, in Japan gar als falsch erwiesen. Die Kraftwerke waren ausgelegt für eine Erdbebenstärke von 8,2 auf der Richterskala. Das ist ein Wert, der die gemachten Erfahrungen mit Erbeben klar in Rechnung stellt und darum Sicherheit verhieß, ja verbürgte. Nun ereignete sich ein Erdbeben der Stärke 9,0 - und die Katastrophe war da. Hoffnungslos standen und stehen die Menschen den Folgen gegenüber. Die Erfahrung als Kriterium erwies sich als fehlerhaft, als ganz und gar nicht sicher.
Ehe wir heute hierüber weiter nachdenken, schauen wir uns die Realität genau an.

2.

Was geschah eigentlich genau in Japan? Die Bilder und Nachrichten überschlagen sich. Sortieren wir sie darum!
Zunächst gab es ein Erdbeben, ein sehr schweres Erdbeben. Die Häuser wackelten, aber viele blieben stehen, wenn es auch Schäden gab. Als nächstes rollte eine gewaltige Flutwelle heran, riss Menschen, Gebäude, Züge, Schiffe mit sich. Es war furchtbar. Bilder zeigen leere Flächen, wo einst Häuser standen. Riesige Trümmerberge wurden aufgetürmt. Menschen, Bagger erscheinen klein zwischen den Bergen. Dann, drittens, kam die Reaktorkatastrophe im Norden. Es havarierte ein Reaktor, dann ein zweiter, dann der dritte, und nun ist nicht auszuschließen, dass eine Kernschmelze in allen sechs Reaktoren stattfinden wird.
Das ist der Stand von Mittwoch, dem 16.3.2011, dem Zeitpunkt meiner Arbeit an dieser Predigt.

Das Ganze muss den Menschen im Nordosten Japans wie eine Steigerung von Katastrophen vorgekommen sein. Unsere Sprache hat dafür keine präzisen Worte. Die Reporter von Funk und Presse nehmen Kunstwörter zu Hilfe, die sie sich rasch ausdenken. Unsere Sprache basiert auf Erfahrungen.

Bei dem Versuch, diese dreifache, sich stetig steigernde Katastrophe zu erfassen, um sie verstehen zu können, fiel mir ein Vers aus dem Alten Testament ein. Das Alte Testament ist sehr anschaulich. Es beschreibt die Geschehnisse höchst präzise. Die Geschichte steht bei Amos:
Jemand ist auf der Flucht vor einem Löwen. Es gelingt ihm tatsächlich zu entkommen. Doch damit ist er noch nicht in Sicherheit: Er begegnet einem Bären. Nun gilt es, erneut zu fliehen. Bären sind schnell. Trotzdem gelingt die Flucht. Erschöpft erreicht er ein Haus. Er atmet schwer. Er muss sich an die Hauswand lehnen. Da beißt ihn eine Schlange. (Amos 5,19)

Übersetzen wir dieses Bild aus dem alten Orient in unsere Welt, dann sieht das etwa so aus: Jemand kommt auf die Krebsstation. Er wird operiert. Es gelingt den Ärzten tatsächlich, den Menschen zu retten, obwohl der Tumor schon groß war. Er kann nach Hause gehen, wenn er auch noch schwach ist. Zu Hause angekommen, erreicht ihn die Mitteilung des Hausbesitzers, dass er ausziehen muss, denn der Hauswirt macht dringenden Eigenbedarf geltend. Müde zieht er um. Da erreicht ihn die Mitteilung seiner Bank, dass sein Konto gesperrt worden sei, weil er mit den Raten seit Monaten im Rückstand ist. Und im übrigen werde hiermit sein Ratenvertrag gekündigt, die ganze Summe sei nun fällig.

Zugegeben, das Beispiel hinkt. Nur - wie soll ich ein Geschehen beschreiben, für das es keine Vorbilder, keine Erfahrungen gibt? Vielleicht vermag das Bild aber doch etwas von der Schwierigkeit der Lage zu erfassen.

Eine düstere Szenerie! Sie nicht selbst erlebt zu haben, ist jede und jeder glücklich, der hier heute Morgen sitzt. Die Japaner erleben sie in diesen Tagen, und möglicherweise nicht nur sie, sondern auch wir; es mag auch uns treffen. Die eingangs gestellte Frage verlangt dringend nach einer Antwort. Herr, wohin sollen wir gehen? Diese Frage stellen auch wir - hier, heute Morgen.

3.

Die Antwort gibt der biblische Text. Petrus beantwortet sie selbst. Er wendet sich wiederum direkt an Jesus:
      Du hast Worte des ewigen Lebens;
      und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.

Petrus bekennt den Glauben. Zugleich erteilen er - und die Jünger mit ihm - den eigenen Möglichkeiten eine Absage. „Mit unsrer Macht ist nichts getan" (EG 362,2), wird Luther später dichten.

Das Erdbeben hat unsere auf der Erfahrung basierenden Naturwissenschaften, unsere sich auf die Naturwissenschaften verlassenden Erfahrungen tief erschüttert. Das haben wir eben festgestellt. Gerade einmal zwei Jahre liegt die Finanz- und Wirtschaftskrise zurück. Auch sie erschütterte unsere feste Überzeugung. Doch von einem Nachdenken ist inzwischen nicht mehr viel übrig geblieben. Nachhaltigkeit gab es nicht. Dabei brauchen wir sie. Worauf sonst sollen wir uns verlassen?
Petrus und die Jünger bedenken sie. Sie bedenken die Not und die Notwendigkeit. Sie wenden sich an Jesus, vertrauen ganz ihm. Er hilft.

Jetzt, in der Passionszeit, denken wir an Jesu Leiden und Sterben. Wir bereiten uns in unserer Erinnerung auf den Tod Jesu vor.
Jesus stirbt. Er war am Ende an jenem Karfreitag. Er ist verzweifelt und schreit seine Verzweiflung heraus: Eli, Eli, lama asabtani - Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er ist allein. Er ist verlassen. Selbst von Gott. Selbst von Gott?

Nein, Gott hat ihn nicht verlassen. Er erweckt ihn am Ostermorgen. Auf den Karfreitag folgt Ostern. Nicht: „Weiter so!", sondern: „Neu!" Gott greift ein. Das zu glauben, fällt vielen Menschen schwer. Es fällt ihnen nicht nur an Tagen wie den unseren jetzt schwer. Die Japaner und auch wir sind mit dem Leid und den Sorgen vor dem Morgen beschäftigt, überlastet. Das muss nicht so sein. Gott, Jesus hat auch daran gedacht.

Bevor Jesus stirbt, spricht er mit seinen Jüngern. Dabei macht er eine weit in die Zukunft weisende Aussage. Zugleich verspricht er die Nachhaltigkeit dessen, was er sagt. Er sichert zu:
Der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe (Joh. 14,26).

Wir vergessen schnell. Ich erinnerte an die Finanz- und Wirtschaftskrise. Die lange Zeitspanne zwischen Jesu Tod und Auferstehung und uns heute, rund 2 000 Jahre, erleichtert das Vergessen. Die Not der Menschen vor Ort in Japan, unser Erschrecken hier angesichts der Bilder, die wir sehen, angesichts der Nachrichten, die wir hören, machen uns das Erinnern schwer.

Dabei hilft uns gerade das Erinnern. Das weiß Gott und beugte bereits vor. Er sandte den Heiligen Geist. Jesus nennt diesen Geist „den Tröster". Trost brauchen wir im Rückblick auf die Geschehnisse und im Blick nach vorn, auf die Zukunft. Diesen Trost spendet uns Gott selbst. Er sandte seinen Geist. Mehr geht nicht. Mehr ist auch nicht notwendig. Gott selbst ist am Werk.

Dafür lasst uns ihm danken!
Amen

Wir singen das Lied Oh Heiliger Geist, oh heiliger Gott (EG 131)

Prof. Dr. Ulrich Nembach
Göttingen
E-Mail: ulrich.nembach@theologie.uni-goettingen.de

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