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ISSN 2195-3171

Katastrophen, 2011

Fukushima. Predigt zu Markus 2,1-12, verfasst von Mona Rieg

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Markusevangelium im 2. Kapitel:

1 Nach einigen Tagen kehrte Jesus nach Kapernaum zurück. Es sprach sich schnell herum, dass er wieder im Haus des Simon war.
2 Viele Menschen strömten zusammen, so dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war. Ihnen allen verkündete Jesus Gottes Botschaft.
3 Da kamen vier Männer, die einen Gelähmten trugen.
4 Weil sie wegen der vielen Menschen nicht bis zu Jesus kommen konnten, deckten sie über ihm das Dach ab. Durch diese Öffnung ließen sie den Gelähmten auf seiner Trage hinunter.
5 Als Jesus ihren festen Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“
6 Aber einige der anwesenden Schriftgelehrten dachten:
7 „Das ist Gotteslästerung! Was bildet der sich ein! Nur Gott allein kann Sünden vergeben.“
8 Jesus durchschaute sie und fragte: „Wie könnt ihr nur so etwas denken!
9 Ist es leichter zu sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben’ oder diesen Gelähmten zu heilen?
10 Aber ich will euch zeigen, dass der Menschensohn die Macht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.“ Und er forderte den Gelähmten auf:
11 „Steh auf, nimm deine Trage, und geh nach Hause!“
12 Da stand der Mann auf, nahm seine Trage und ging vor aller Augen hinaus. Fassungslos sahen ihm die Menschen nach und riefen: „So etwas haben wir noch nie erlebt!“ Und alle lobten Gott.


Ein Gelähmter wird geheilt. Das ist in Kürze die Geschichte, die Markus im zweiten Kapitel seines Evangeliums erzählt. Es ist eine besondere Geschichte – eine Wundererzählung.
Etwas, das nicht für möglich galt, wurde wahr. Aber die Menschen, die diese Geschichte mit Jesus erfahren haben, waren entsetzt.
Wir haben seltsame Dinge erlebt, so sagen sie.

Das Wunder – ein seltsames Ding?
Die Freunde setzen sich mit aller Kraft für den Gelähmten ein. Sie wollen, dass der Gelähmte geheilt wird. Sie handeln voller Hoffnung und sind mutig.
Sie wünschen sich, dass Jesus ihrem Freund hilft.
Und er tut es.
Aber wie!
Ein einfacher Satz: „Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.“
Das ist doch wirklich seltsam.
Ich hätte viel eher mit einer Zeichenhandlung gerechnet, mit einem Gebet zu Gott oder etwas Ähnlichem.
Stattdessen dieser eine – fast schon – lapidare Satz: „Mensch, dir sind deine Sünden vergeben.“ Ich erwarte ein Wunder und höre ein Wort über die Sündenvergebung.

Aber was geschieht da?
Jesus spricht zu dem Gelähmten, ganz persönlich, als seien sie beide allein auf weiter Flur. Jesus holt diesen Gelähmten aus der Masse der Anwesenden heraus, er nimmt ihn beiseite und spricht ihm die Gnade Gottes zu.

Die Menschen, die um ihn herumstehen, sind entsetzt.
Was hat dieser Jesus da gemacht? Er hat einen Satz gesprochen, der einen Menschen befreit hat. Danach kommt es zu einem Streitgespräch.
Die Pharisäer stoßen sich an dem Machtanspruch Jesu. Sie meinen, Jesus verstoße gegen die Souveränität Gottes.[1]

Und was mag in dem Gelähmten vorgegangen sein?
Vermutlich war er eine ganz arme Haut. Jeder Tag brachte neue Ängste: Was wird heute wohl wieder passieren? Wird sich jemand um mich kümmern? – und dann kommen die Freunde, tragen ihn zu diesem fremden Haus und lassen ihn durch das Dach herunter.

Vielleicht hat der Gelähmte Unsicherheit verspürt. „Was wird Jesus sagen? Wird er schimpfen, dass wir so stören? Wie wird er reagieren?“
Und dann kommt der Augenblick, in dem sich für den Gelähmten alles verändert. Jesus sieht ihn an und sagt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“
Im ersten Moment könnte der Gelähmte gedacht haben: „Ist das alles?“
Aber dann hat es ihn wohl durchfahren, er merkt, dass Jesus ihn freigesprochen hat. Frei von allen Lähmungen seines Lebens.

Ganz anrührend finde ich in der Geschichte, dass erzählt wird, dass Jesus „ihren Glauben“ sah, es ist also nicht – anders als in vielen anderen Wundererzählungen – nur der Glaube des Kranken selbst, sondern der Glaube aller.

--- Lieber Gott, denke ich mir, der Glaube aller. ---

Liebe Gemeinde, ich bin schon immer ein Mensch, der an die Kraft der Gebete glaubt. Sonst wäre unsere Fürbitte vergeblich. Sonst wären vielleicht all unsere Gottesdienste, Gruppen und Kreise vergeblich.
Ich glaube an die Kraft der Gebete.
Aber der Glaube aller – den zu finden ist schwierig geworden.
Ich sehe in meiner Phantasie wehmütig zurück, als es – wie man mir erzählte – noch üblich war, dass am Sonntag wenigstens einer aus jedem Haus zur Kirche ging.
Hatten die Menschen früher mehr Glauben?
Ich weiß es nicht, vielleicht?

Wer sind denn eigentlich wir in dieser Geschichte?
Sind wir einer der Freunde, die tragen oder sind wir der Gelähmte selbst?
Oder sind wir jemand im erstaunten Volk, das seinen Augen nicht traut?
Oder gar einer der kritischen Schriftgelehrten?
Die Antwort ist sicher nicht leicht. Jede und jeder muss diese im Hören auf diese Geschichte selbst geben. Ich weiß nur, dass es in der Gemeinde derer, die sich zu Jesus gehörig fühlen, solche gibt, die die Kraft zum Tragen haben, und andere, die getragen werden müssen.

Was ich allerdings auch sehe, ist, wie unfassbar gelähmt wir heute sind.

Im letzten Jahr gab es in Haiti ein sehr schweres Erdbeben – vielleicht erinnern Sie sich noch an die Bilder. 223 000 Menschen starben, 1,2 Millionen wurden obdachlos.
Im Februar gab es in Chile ein großes Erdbeben und einen Tsunami. Etwa 800 Menschen starben, eine halbe Millionen Wohnungen wurden zerstört. Es gab unzählige Erdbeben und Naturkatastrophen letztes Jahr!
Das alles ist (fast) schon wieder vergessen.

Und jetzt ist es aktuell Japan.
Wir sind wie gelähmt.
Wie gelähmt sitzen wir hier vor den Fernsehgeräten und sehen die Bilder. Die furchtbaren Bilder von Verwüstung und Unglück.
Die Menschen dort – die werden auch sein wie gelähmt. Gelähmt vor Entsetzen,
gelähmt vor Trauer und Angst.

Gelähmt fühle ich mich auch anderweitig – in dem Gefühl, dass mir die Hände gebunden sind, mir ganz persönlich. Ich fühle mich gebunden von Regierungs- und Machtstrukturen, sozusagen von den Pharisäern. Die uns dadurch lähmen, dass Geld immer und überall wichtiger ist, als der gesunde Menschenverstand.
Manchmal bringt mich das bis zur Verzweiflung, ich weiß nicht, ob Sie das nachfühlen können – ob Sie das vielleicht sogar auch kennen?

Diese Ohnmacht, wenn ich mich umsehe und wirklich an allen Ecken und Enden Leid und Ungerechtigkeit sehe – und Unsinn. Viel Unsinn.

Darüber kann man streiten, werden Sie sagen.
Ja, darüber kann man streiten. Über vieles. Nehmen Sie das Schlagloch-Reparatur-Programm des Landes Hessen als ein gut streitbares Beispiel. Ich weiß, dass viele es begrüßen, viele wollen gute Straßen und keine Schlaglöcher. Denn das ist unser Standard.
Ich finde es unmöglich. Ich denke, was man mit diesem Geld machen könnte?!
Ja, für die LKW-Transporte wäre es ein Problem – aber ich will auch keine LKW auf der Straße, ich denke mir, schafft das Zeug zurück auf die Schienen, es hat Jahrzehnte wunderbar und umweltschonend funktioniert. Warum es auf die Straße kam? Wegen des Geldes und der Lobbyisten. Und daher auch ein Schlaglochprogramm.
Wir haben Sorgen!
Während immer noch Menschen auf der Welt an Hunger sterben, sind wir noch immer nicht bereit abzugeben – da fühle ich mich ohnmächtig, fassungslos und gelähmt.

Und ich glaube, dass andere auch wie gelähmt sind. Die Politiker in ihren Systemen, die Geldgeber in ihren Ansprüchen, die Firmen in ihrer Profitgier.

Und wieder: Die Menschen in Japan, die gelähmt sind, weil sie leiden und trauern.

Was allein fehlt, ist die Befreiung.
Wo sind die Freunde, die uns Gelähmte zu Jesus bringen?
Wo sind die Menschen, deren kollektiver Glaube zu diesem Wunder der Befreiung führt?
Wer hat Ohren, die den Satz „Deine Sünden sind dir vergeben“ hören könnten? Lassen wir uns heilen?

---
Lieber Gott, denke ich mir – wir wissen doch alle, dass das nicht gut gehen kann.
In Japan wussten wir schon lange vor dem Beben, wie gefährlich Atomkraftwerke sind. Es gab Tschernobyl – schon vergessen?
Aber wenn Fukushima I und jetzt auch II wegen günstiger Wetter-Bedingungen keinen Schaden bei uns anrichtet, dann wird es genauso schnell vergessen sein wie Haiti.

Im Blick auf die Welt sind wir nicht die Freunde, die tragen. Aber die sollten wir sein, wenn wir ernsthaft behaupten, dass wir in der Nachfolge Christi stehen, wenn wir uns Christinnen und Christen nennen wollen.

Die Freunde des Gelähmten haben etwas gewagt, und wir haben als Christen einen Auftrag. Und ich denke, es ist höchste Zeit, sich nicht mehr drumherumzumogeln – wir haben einen Auftrag.

Mit Lothar Zenetti gesprochen:

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen;
was keiner sagt, das sagt heraus;
was keiner denkt, das wagt zu denken;
was keiner anfängt, das führt aus.

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen;
wenn keiner nein sagt, sagt doch nein;
wenn alle zweifeln, wagt zu glauben;
wenn alle mittun, steht allein!

Wo alle loben, habt Bedenken;
wo alle spotten, spottet nicht;
wo alle geizen, wagt zu schenken;
wo alles dunkel ist, macht Licht!

Gott gib, dass wir uns aufmachen! Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



[1] Diese Überlegungen zur biblischen Geschichte sind angelehnt an eine Bibelarbeit von Nikolaus Schneider, veröffentlicht in Okuli 2011 (Materialien für Gemeinde und Schule, hg. von der Christoffel-Blindenmission, Bensheim), S. 8.

 



Pastorin Mona Rieg
Kirtorf
E-Mail: mrieg@antikater.de

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