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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Taufe, 2011

Nikodemus: Johannes 3,1-8 für den Sonntag Okuli, verfasst von Ralf K. Wüstenberg

Liebe Gemeinde,

ich versuche mir die Gesprächssituation vorzustellen. Es ist Nacht, dunkel, und da kommt ein jüdischer Gelehrter namens Nikodemus zu Jesus von Nazareth, offenbar in der Absicht, mehr über ihn zu erfahren und den Auftrag, den er von Gott hat. Nikodemus ist von den Wundern, die Jesus getan hat (Joh 2,23), beeindruckt und sucht eine Begegnung mit ihm. Dass diese des Nachts stattfindet, kann entweder damit zu tun haben, dass er nicht erkannt werden will (vgl. Joh 19,38), oder es ist schlicht die späte Abendstunde gemeint, in der jüdische Schriftgelehrte gerne dem Studium oder Gespräch nachgingen. In jedem Fall hat Nikodemus die Absicht, Jesus Fragen vorzulegen. Es brennt in ihm, dem jüdischen Lehrer, die Leidenschaft nach einem Lehrgespräch. Nikodemus ist als Pharisäer und Schriftgelehrter ein Mann von Rang, ein Repräsentant des Judentums, der aufgeschlossen ist für neue religiöse Erscheinungen. Eine solche Aufgeschlossenheit ist, entgegen den üblichen christlichen Klischees, übrigens eher typisch für die Pharisäer.

Pharisäer, was waren das eigentlich für Leute? - Die Pharisäer, mit Wurzeln im 2. vorchristlichen Jahrhundert, bildeten eine egalitäre Volksbewegung in vor allem mittelständischen Kreisen (Handwerker, Kaufleute, Bauern; auch Schriftgelehrte gehörten zu ihnen); es sollen in Palästina etwa 6000 gewesen sein. Für möglich gehalten wird auch, dass sie eine Art von Bruderschaft gebildet haben. Sie standen in jedem Fall in einem scharfen Gegensatz zur Politik und zum Klerikalismus der herrschenden Oberschicht.
Die größte Sorge der Pharisäer galt der getreuen Erfüllung des Willens Gottes, vor allem bei der minutiösen Beobachtung der Reinheitsvorschriften (etwa der Speisevorschriften: Waschen der Hände vor jeder Mahlzeit, Spülen der Gefäße), bei der Einhaltung des Sabbat- und des Fastengebots und bei der Versteuerung der Einkünfte (Abgabe des Zehnten). Ursprüngliches Ziel war dabei, viele der Weisungen der Tora, die eigentlich nur für Priester galten, in den Alltag aller Menschen zu holen und so das gesamte Leben als heilig vor Gottes Angesicht zu gestalten. Die Pharisäer betrieben also sozusagen eine Demokratisierung der Tora. Überhaupt war für die Pharisäer ihr Umgang mit der Tora charakteristisch. Besonders die Schriftgelehrten unter ihnen gingen bei ihrer Schriftauslegung lebensnah und flexibel auf die jeweiligen Umstände und Erfordernisse der Zeit ein.

Vor diesem Hintergrund wird eine gewisse Offenheit und Neugierde des Nikodemus verständlich. Er denkt an ein Lehrgespräch, wie man es zum Beispiel in der Synagoge führt. Vielleicht beschäftigt ihn die Frage nach dem Reich Gottes, die er in Verbindung mit den „Zeichen" bringt, die Jesus tut (Joh 3,2). Aber ehe es zu einem Lehrgespräch kommt, ergreift Jesus das Wort und lenkt das Gespräch etwas undiplomatisch gleich auf die Voraussetzung zum Eingang in Gottes Reich: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. (Vers 3) Nikodemus, selbst wohl ein Mann fortgeschrittenen Alters, versteht Jesus wörtlich und fragt verständlicherweise zurück: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er ein alter Mensch ist? Er kann doch nicht zum zweiten Mal in den Schoß seiner Mutter eingehen und geboren werden? (Vers 4)

Das griechische Wort für „neu geboren werden" kann auch bedeuten: „von oben her". Das würde den göttlichen Ursprung des neuen Lebens deutlicher betonen und hätte auch Nikodemus von einem allzu wörtlichen Verständnis abhalten können. Dieser scheint aber außerstande, dem Gedankengang Jesu zu folgen. Er versteht „neu geboren werden" im biologischen Sinn der Wiedergeburt, nicht im geistlichen, „von oben her". Darum fügt Jesus seine Erklärung an: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren ist, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen. Was aus Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus Geist geboren ist, ist Geist. (Vers 5-6). „Von oben her" meint also „aus Wasser und Geist".

Für Jesus gibt es, kurz gesagt, zwei Dimensionen, in denen das Leben verstanden werden kann: die fleischliche und die geistliche - mit den Konnotationen „schwach, vergänglich, sündig" auf der einen und „stark, ewig, heilig" auf der anderen Seite. Der vorzunehmende „Seitenwechsel" vollzieht sich erst nach der natürlichen Geburt; er vollzieht sich von Gott her mitten im Leben des Menschen; er vollzieht sich durch „Wasser und Geist"; er vollzieht sich, wann und wo Gott will.

Das griechische Wort für Geist hat die Doppelbedeutung: Geist und Wind. So ist es nicht verwunderlich, dass Jesus schließlich sagt: Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So verhält es sich mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. (Vers 8) Wie dem Wind eine starke, aber unerklärliche Kraft eigen ist, so hat auch der Geist eine Wirkungsmacht, die niemand ergründen kann.

Nikodemus weiß nun, dass Jesus nicht eine zweite leibliche Geburt meint, aber es bleibt für ihn und für uns, liebe Gemeinde, noch die Frage offen, die er nicht zu beantworten weiß: Wie kann die neue Geburt aus dem Geist geschehen?

Wir hörten, sie geschieht von Gott her - und: Sie geschieht mitten im irdischen Leben der Menschen. Mit Beidem ist schon entscheidend Wichtiges gesagt. Gott holt uns sozusagen herüber auf die Seite des Geistes, des Heils oder des „Lichts", wie es im Johannesevangelium gerne heißt. Und wie geschieht das? Die Antwort, die seit der frühen Christenheit darauf gegeben wird, ist ebenso einfach wie unspektakulär, nämlich: Durch die Taufe!

Durch die Taufe wird der Mensch neu geboren; das biologische Bild von der Geburt hält die Dramatik im Bewusstsein. Es kostet für den, der die Geburt schenkt, Kraft, Geduld, Schmerzen!

Durch die Taufe begründet Gott neu den Bund mit dem Menschen. ER wird auch dann noch an ihm festhalten, ihm treu sein, wenn dieser ihn aufgegeben hat. Sein Ja-Wort bleibt gültig, auch wenn der Mensch untreu ist!

Durch die Taufe ist die Zugehörigkeit zu Gott besiegelt. Das ewige Leben beginnt mitten im irdischen Leben. Alles Entscheidende ist schon geschehen. Jetzt schon hat alles begonnen! Wir sind bereits auf der richtigen Seite. Die Taufe war gewissermaßen der letzte „Seitenwechsel", den der Mensch, ob jung oder alt, zu machen hatte. Wenn das keine Zusage ist!

Amen.



Prof. Dr. Ralf K. Wüstenberg
Flensburg
E-Mail: ralf.wuestenberg@uni-flensburg.de

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