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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Taufe, 2011

Nikodemus: Johannes 3,1-8 für den Sonntag Okuli, verfasst von Wolfgang Vögele


Friedensgruß

Der Predigttext für diesen Sonntag steht in Johannes 3,1-8:

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.


Geburtsfragen in der Nacht

1. Das Wunder der Geburt

Liebe Gemeinde,

er ist dreißig und Lehrer. Sie ist fünfundzwanzig und macht ihr Examen. Sie lieben sich, und sie führen ihr Leben für eine Partnerschaft zusammen. Sie leben gemeinsam in den drei großen Räumen einer hellen Wohnung, sie teilen miteinander Geschirrspülen und Tennisspielen, gehen zusammen ins Kino. Sie kaufen ein gemeinsames Auto, und nach zwei Jahren heiraten sie. Es ist einer der glücklichsten Momente solch einer Partnerschaft, wenn sich Nachwuchs ankündigt.

Der blaue Strich auf dem weißen Feld des Schwangerschaftstests, die ausbleibende Monatsregel, der Hunger auf Schokolade (tafelweise) und auf saure Gurken (gläserweise) zeigen das wunderbare und herbeigesehnte Ereignis an: Aus dieser Partnerschaft geht ein neuer Mensch hervor, und er wird neun Monate später das Licht dieser Welt erblicken.

Schwangerschaft ist von einer Aura aus Glück umgeben, das muss aber nicht so sein. Selbstverständlich gilt: Manche Schwangerschaft ist gar nicht gewollt. Nicht hinter jeder Geburt steht eine glückliche Partnerschaft, und oft machen sich gerade Männer aus dem Staub, bevor sie die Verantwortung für ihre neugeborenen Söhne und Töchter wahrnehmen können. Mädchen werden oft viel zu jung schwanger und sind dann mit der Bürde einer Kinderbetreuung kurz- und langfristig überfordert. Manche Schwangerschaften erfordern Ruhe und wochenlanges Liegen, weil ihnen mehrere Fehlgeburten und medizinische Komplikationen vorausgegangen sind. Die ausgebliebene Schwangerschaft kann Eltern zu aufwändigen medizinischen Behandlungen und, im Falle des Misserfolgs, in psychische Katastrophen führen. Und es gibt wenig Schlimmeres und Tragischeres als totgeborene Kinder, die sich mit der Nabelschnur stranguliert haben oder durch einen Infarkt der Plazenta ums Leben kamen. Schwangerschaft und die folgende Geburt kann unendlich viel Glück bringen, aber sie ist auch trotz aller modernen Geburtshilfe ein Weg großer Gefahren.

Und trotzdem, trotzdem übt die Geburt neuen Lebens auf alle Menschen eine wunderbare Faszination aus. Jeder freut sich und fasst einen freundlichen Gedanken, wenn er auf der Straße eine schwangere Frau sieht oder eine Frau mit einem Kinderwagen, in dem ein Neugeborenes liegt. Es ist die überschwängliche Freude über neues, junges, wachsendes Leben, gleich ob geboren oder ungeboren.

2. Die Frage eines jüdischen Intellektuellen

Ich bin mir sicher, solche Gefühlszustände haben auch den führenden jüdischen Intellektuellen mit dem Namen Nikodemus bewegt. In einer zufälligen Nacht kam er zu Jesus von Nazareth und stellte ihm eine Frage. Ich glaube, der Evangelist Johannes empfand Sympathie für den intellektuellen Nikodemus. Johannes gilt als der Philosoph unter den Evangelisten. Das zeigt sich auch an dieser Geschichte.

Dieser jüdische Intellektuelle Nikodemus gewinnt auch unsere Sympathie, weil man ihm anmerkt, er spürt: in diesem Jesus geschieht etwas Besonderes, Gott hat etwas mit ihm vor, aber er versteht nicht genau, was das ist. Und deshalb fragt er nach: Wer bist du? Was ist dein Auftrag? Woher kommst du? Wohin gehst du? Nikodemus erkennt die Zeichen, aber er kann sie nicht richtig deuten. Deswegen fragt er.

Es ist eine kurze Zwischenüberlegung wert, dass Nikodemus das Gespräch mit Jesus bei Nacht anfängt. Nikodemus ist einer der wenigen, die nachts mit dem Nazarener diskutieren. Andere stellen ihre Fragen tagsüber, bei aufklärendem Sonnenlicht.

Nachts fällt kein Licht auf die Welt. Ich stelle mir vor, dass Jesus und Nikodemus bei dem Licht einer schummrigen Kerze, einer rußenden Öllampe oder eines kleinen Lagerfeuers zusammensaßen. Das Sonnenlicht des Tages fällt überall hin. Nachts, bei künstlichem Licht von Kerzen, wird nur ein kleiner Raum aus dem Dunkel herausgerissen. Das flackernde Licht spiegelte sich auf den Gesichtern von Jesus, Nikodemus und der beteiligten Jünger. In der Nacht ist das Licht der Welt abgeblendet, und man sitzt bei einem konzentrierenden, verdichtenden Licht zusammen. Das Licht fällt nur auf die Gesichter der Sprechenden. Manchmal ist es wichtig, dass das Gewusel der zerstreuenden, ablenkenden Welt in den Hintergrund tritt, damit die entscheidenden, die wichtigen Fragen um so konzentrierter bearbeitet und besprochen werden können.

3. Kindliche und geistliche Geburt

Es ist dunkle Nacht. Die Welt ist im Dunkel versunken. Jesus und Nikodemus reden über Geburt. Ihr müsst von neuem geboren werden, sagt Jesus.

Wir alle sind Geborene, Kinder, Söhne und Töchter von Müttern, die uns Töchter und Söhne neun Monate lang im Leib getragen haben, bis wir im Kreißsaal oder im häuslichen Bett geboren wurden.

Niemand von uns hat den Zeitpunkt, da er oder sie geboren wurde, bestimmt. Niemand von uns durfte wählen, welche Eltern ihm zugeteilt wurden. Geburt ist ein ganz passives Geschehen, an dem die Neugeborenen selbst kaum beteiligt sind. Geburt geschieht, sie wird nicht gestaltet. In einer Welt, in der jeder grundsätzlich selbst entscheiden kann und das Recht hat, seine Persönlichkeit frei zu entfalten, kann man das als Kränkung empfinden. Geburt ist passiv. Wir entscheiden nicht über den Zeitpunkt. Wir entscheiden nicht über unsere genetische Ausstattung. Wir entscheiden nicht über unsere Eltern. Neugeborene werden in die Welt hineingeworfen, manchmal im wahren Sinne des Wortes.

Genauso ist es, sagt Jesus zu Nikodemus. Wir werden in die Welt hineingeworfen. Und, um im Bild zu bleiben: Es kommt darauf an, dass wir auch wieder aus ihr hinausgeworfen werden. Es gibt für den Glauben so etwas wie eine zweite geistliche neben der ersten körperlichen Geburt. Ihr müsst von neuem geboren werden.

4. Ihr müsst von neuem geboren werden

Im Glauben wachsen, Vertrauen lernen - das ist wie ein Vorgang des Geborenwerdens. Das ist der Kern von Jesu Aussage. Glauben lernen ist der Eingang in eine neue Welt, in Gottes Reich, viel größer und wunderbarer als alles, was wir uns in dieser Welt des Leidens vorstellen können. Glauben lernen ist der Anfang des Reiches Gottes, der Eingang in seine Herrlichkeit und Ewigkeit. Und dieses Glaubenlernen müssen wir uns wie eine zweite Geburt vorstellen. Ihren Anfang markiert die Taufe, obwohl Jesus dazu zu Nikodemus gar nicht spricht. Die Taufe ist der Anfang der zweiten Geburt.

Geburt und Taufe sind Akte des Übergangs, der Veränderung, der Verwandlung. Nicht das Kind, sondern die Mutter leistet die Arbeit der Wehen. Der Täufling wird getauft, er tauft sich nicht selbst. Genauso ist es mit dem Glauben.

Nicht der, der glauben will, sondern der, der Glauben schenkt, verhilft dem Menschen zur neuen Geburt in sein, Gottes Reich. Wer geboren wird, der fällt in diese Welt hinein. Wem Gott Glauben und Vertrauen schenkt, der fällt getauft in die Welt Gottes, in sein Reich hinein. Glaube und Taufe sind der Anfang von Gottes Reich: Wir sehen im Moment nur seine Anzeichen, das Wirken des Geistes in den Gemeinden und auch anderswo, aber wir müssen auch im Glauben erst „erwachsen" werden, bevor wir Gottes Herrlichkeit in ihrer Gesamtheit schauen.

Glauben ist eine Mischung von aktivem Gestalten und passiver Hinnahme und Annahme. Das kleine Kind wird getauft, und es lernt, im Glauben zu leben. Gott hilft uns, Vertrauen und Glauben zu gewinnen. Es ist das Bewusstsein, dass diese wahrnehmbare Welt nicht alles ist. In, inmitten und unter dieser Welt verbirgt sich ein Gott, der die Menschen in sein Reich führen will. Man kann ihn nicht sehen. Darum hat er sich in seinem Sohn Jesus Christus sichtbar gemacht, damit jeder ihn sehen kann. Wir sehen Gott in dem Jesus Christus, mit dem der jüdische Intellektuelle Nikodemus spricht.

5. Geist weht, wo er will

Nach Jesu Tod und Auferstehung nehmen die Menschen die Anwesenheit Gottes im Geist wahr. Von diesem Geist sagt Jesus: Er weht, wo er will. Das ist eine Warnung, vom Geist und von Gott zu klein zu denken. Gott und Geist sind nicht nur da, wo wir in den Gemeinden Glauben und Vertrauen und Gottesdienst leben, wo wir Menschen in die Gemeinde aufnehmen, wo wir taufen. Das Wirken des Geistes reicht über die christlichen Gemeinden und die Gemeinschaft der Kirchen hinaus. Er kann überall Gestalt annehmen. Es kommt nicht auf den Namen „Jesus Christus" an, sondern auf das, was er will. Dort ist der Geist wirksam, wo Glaube, Hoffnung und Liebe konkrete Gestalt annehmen.

6. Am Ende: Der Geist führt durch den Tod

Liebe Gemeinde, es tut gut, gelegentlich den Glauben Gestalt annehmen zu sehen, um Hoffnung nicht zu verlieren. Die Taufe von kleinen Kindern und auch von Erwachsenen ist solch ein Zeichen des Glaubens und der Gegenwart des Heiligen Geistes.

Wir brauchen, um zu glauben und neu geboren zu werden, die Berührungen durch den Geist. Durch die körperliche Geburt kommen wir in diese Welt. Durch die geistliche Geburt gehen wir in jene Welt hinüber. Das ist mit Schmerzen verbunden, und für die geistliche Geburt ist das der Gang durch das Sterben. Wir sehen in diesem Leben Gottes Reich noch nicht; wir sehen nur das Wirken des Geistes, wo und wann und wie er will, wir haben den Geist als „Angeld" wie Paulus formulierte. Aber das endgültige Reich sehen wir erst nach dem Tod, den Paulus als der „Sünde Sold" versteht.

Es geht im Sterben so zu, sagte Martin Luther, „wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erde. Das ist unsere Welt: ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben."

Nikodemus - und nicht nur er - kann aus dem Gespräch mit Jesus lernen: Der Tod, vor dem sich alle Menschen fürchten, ist nicht das Ende des Lebens. Für den, der aus dem Geist neu geboren wird, ist der Tod Übergang, Durchgang, Hoffnung. Denn danach wird er sehen, was er in diesem Leben nur geglaubt hat.

Amen.



Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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