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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2012

Jahreslosung 2012, 2. Kor.12,9, verfasst von Rudolf Schulze

Christus spricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.

1. Das ist eine eigentümliche Überschrift für die nächsten 12 Monate. Heute im Gottesdienst wundern wir uns vielleicht nicht so sehr über dieses Wort. Aber stellen wir uns einmal vor, die Zeitungen würden morgen früh titeln: „2012 – das Jahr der Schwäche. In der Schwäche liegt die Macht.“ Das dürfte Widerspruch hervorrufen. Denn die Alltagserfahrung lehrt uns oft das Gegenteil. Das Gesetz des Stärkeren bestimmt weithin unsere Welt. Wünschen wir uns für uns selbst nicht auch eine hohe Leistungsfähigkeit und eine stabile Gesundheit und im  öffentlichen Leben eine starke Regierung, eine starke Währung und eine starke Rechtsordnung? Können wir da eine Jahreslosung ernst nehmen, die die Schwäche des Menschen ins Blickfeld rückt?

Ja, wir können sie ernst nehmen. Wir dürfen sie nur nicht missverstehen, als solle menschliche Schwäche verklärt werden.

Schwachheit ist kein Lebensideal, sondern eine Erfahrung, die früher oder später jeder mit sich selbst machen kann. In der eigenen Schwäche keine Niederlage und in der Schwachheit anderer Menschen keinen Mangel zu erkennen, dafür schärft die Jahreslosung unseren Blick. Sie ermuntert uns in diesem Jahr, eine tiefere Dimension unseres Lebens aufzuspüren, die in der Welt der Starken und Erfolgreichen allzu leicht übersehen wird.

2. Schauen wir am Anfang dieses Jahres auf den Anfang menschlichen Lebens und nehmen wir ein neugeborenes Kind in den Blick. Welche Ermutigung geht von ihm aus! So zart es auch sein mag: Es entfacht eine gewaltige Anziehungskraft. Ohne eigene Anstrengung schafft es jedes Baby, die Blicke auf sich zu ziehen. Und wenn es schreit, hören wir eine ursprüngliche Lebenskraft, die uns ins Herz trifft. „Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet deinen Feinden zum Trotz“, ruft der staunende 8. Psalm deshalb dem Schöpfer entgegen. In jedem Säugling begegnen wir der lebendigen Macht der Schwachen.

So ist es doch auch den Weisen aus dem Morgenland gegangen. In Bethlehem entdecken sie den hilflosen kleinen König ohne jede Macht und Pracht in einem ärmlichen Stall. Sie können nicht anders als sich vor ihm zu verneigen. So ist es bis heute unter uns. Die Schwäche eines hilflosen Kindes lässt Zuneigung in uns wachsen. Da werden aus hartgesottenen Männern zärtliche Zeitgenossen. Mit jedem Säugling tritt die souveräne Kraft der Schwachen neu in unsere Welt. Sie kann harte Herzen erweichen und Menschen verwandeln.

Starke und erfolgreiche Menschen können unsere Bewunderung hervorrufen. Aber sind es nicht oft die Schwächen unserer Mitmenschen, die unsere Sympathie wecken? Es ist eine eigentümliche Erfahrung: wir möchten unsere Schwächen nicht zeigen und doch sind es gerade unsere schwachen Seiten, die uns liebenswert machen. Wo das geschieht, da verliert das Gesetz des Stärkeren seine beherrschende Kraft.

 „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Das ist nicht die Formulierung eines Lebensideals, sondern die Verheißung Christi. Sie kann zum Beispiel wahr werden, wenn wir Menschen begegnen, die unter einem schweren Schicksal leiden. Da kann es geschehen, dass von ihnen dennoch eine eigentümliche Ausstrahlung ausgeht. Manchmal sind es gerade schwer erkrankte oder belastete Menschen, die ihr Schicksal annehmen, von denen Ermutigung für andere ausgeht. Solche elementaren Erlebnisse sind es, die uns die Wahrheit der Jahreslosung nahebringen.

3. Woher stammt diese Kraft? Sie kommt aus der Güte Gottes. Bei Gott ist die Quelle dieser Lebenskraft, die sich gerade in der Schwachheit von Menschen einstellt. Das war auch die Erfahrung des Apostels Paulus, als er dieses Wort Christi im 2. Korintherbrief niederschrieb. Es lautet vollständig: „Lass dir an meiner Gnade genügen. Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Der Apostel Paulus hat diesen Satz aus eigener Lebenserfahrung aufgeschrieben. Denn er hatte eine große Enttäuschung erlebt. Einst hatte er die junge Christengemeinde in Korinth gegründet. Als er dort das Evangelium predigte, hat man ihn sehr genau beobachtet, wie selbstbewusst oder unsicher er auftrat. Für viele Zeitgenossen erfüllte er nicht die Erwartungen, die sie an einen brillanten Redner hatten.  Denn er stellte sich nicht selbst dar, sondern verkündigte „Jesus Christus, dass er sei der Herr“ (2. Kor. 4). Weil Paulus die eigene Person in den Hintergrund stellte, wurde in Korinth die Meinung verbreitet, er sei kein richtiger Apostel, sondern nur ein schwacher Scharlatan. Das verletzte Paulus so sehr, dass er einen erregten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt. „Also gut, wenn nun schon mit Leistungen geprahlt werden soll, dann könnte ich mich selbst rühmen“, schreibt er den korinthischen Christen. Dann zählt er auf, was er alles für seine hingebungsvollen Dienste im Auftrag Christi schon in Kauf genommen hat. Wie er ins Gefängnis geworfen oder ausgepeitscht wurde um seines Glaubens willen. Wie er auf seinen Missionsreisen Schiffbruch erlitten hat und dass er krank geworden ist. Da kann Paulus durchaus mithalten, wenn es ihm darum geht, Leistungen und Leiden aufzuzählen. Aber dann hält er  plötzlich inne und sagt: „Solches Eigenlob ist Unsinn, es nützt niemandem.“  Er will kein strahlender Held sein, sondern nur bezeugen, was er erlebt hat. Einige Jahre zuvor hatte er eine Erleuchtung. Weil er an einer chronischen Krankheit litt, die wie ein schmerzender Stachel im Fleisch saß, flehte er immer wieder zu Gott, ihn davon zu befreien. Da hat Christus ihn einen Trost erkennen lassen, der fortan sein Leben prägte: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Das ist eine Wahrheit, von der auch heute immer wieder Menschen berichten: Dass ihnen Kräfte zugewachsen sind, wo sie doch eigentlich mit ihren eigenen Kräften am Ende waren. Woher diese Kraft kommt, das ist für Paulus völlig klar. Es ist die Kraft, die wir im Anblick des gekreuzigten Herrn erkennen können. Zu ihm hat sich Gott bekannt und ihn auferweckt. In dieser Gotteskraft, die den Tod durchbricht, ist die Quelle sichtbar geworden, aus der uns in aller Schwachheit Lebenskraft zufließt.

4. In 2000 Jahren Christentumsgeschichte ist diese Botschaft ungezählten Glaubenszeugen zur inneren Gewissheit geworden: dazu gehören die Märtyrer der Kirche bis hin zu Dietrich Bonhoeffer, der trotz aller Demütigungen, die er vor seiner Ermordung erlitten hat, die Gewissheit bezeugte „von guten Mächten wunderbar geborgen“ zu sein. Es hat Zeiten gegeben, da sind die Kirchen gewachsen, weil die Menschen begeistert waren von der Standhaftigkeit und Glaubenskraft der Märtyrer. Bei uns sind diese Zeiten – Gott sei Dank! – vorbei. Unsere Anfechtungen und Herausforderungen sind heute anderer Natur. Sie bestehen in einer Entmutigung und wachsenden Verunsicherung des Glaubens. Wir erleben, dass viele unserer Gemeinden kleiner werden, weil die Bevölkerung in Deutschland schrumpft und die Bindung der Menschen an die Kirche abnimmt. Hier erweist sich die Jahreslosung als ein ermutigender Zwischenruf, auf die Kraft Christi auch in Zeiten des Wandels zu vertrauen. Das Wirken Gottes unter uns kann man nämlich nicht an möglichst großen Zahlen messen. Eine Kirche, die kleiner und ärmer wird, muss uns deshalb nicht entmutigen. Der Herr, der im Stall von Bethlehem zur Welt kam und schließlich verlassen und verspottet am Kreuz starb, ist kein Gott großartiger Erfolgsbilanzen. Er sendet seine Kraft gerade denen, die sie am dringendsten brauchen. Die Unsicherheit über die Zukunft unserer Gemeinden ist eine gute Voraussetzung dafür, neu danach zu fragen, von welchen Kraftquellen wir leben. Die Zukunftsfähigkeit der Kirche wächst aus der Kraft Christi, die in den Schwachen mächtig ist.

5. Dieser Kraft dürfen wir auch im neuen Jahr ganz und gar vertrauen. Es gilt für unseren persönlichen Weg wie auch für das Leben unserer Gemeinden. Liebe Gemeinde, wenn es Ihnen unter den Lasten des Alltags schwerfällt, auf die große Kraft Gottes zu vertrauen, dann erinnern Sie sich, dass Gott selbst ein schwaches kleines Kind geworden ist. Und schauen Sie auch im kommenden Jahr immer wieder auf die kleinen Kinder. Mit ihrer Schwäche und Unmittelbarkeit stecken sie uns an mit einer Lebenskraft, die uns die Güte Gottes zeigt. „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig, spricht der Herr.“

Amen

 



Dekan KR Rudolf Schulze
Melsungen
E-Mail: dekanat.melsungen@ekkw.de

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