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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

, verfasst von Wolfgang Petrak

Wolfgang Petrak, P.i.R

Liedpredigt zum 1. Sonntag nach Epiphanias über:

Jesus ist kommen (EG 66, 1+3+2+7+8)

Liebe Gemeinde,

wir gehen dahin und wandern von einem Jahr zum andern: so haben wir es vor einer Woche singen können, voller Erwartung und Zuversicht, aber auch voller Fragen und Sorgen. Zeit ist seitdem vergangen, Gewohnheiten mögen bereits Vorsätze überdeckt haben. Und der Tannenbaum hinterlässt deutlich Nadeln. Im Ernst: was war vorgestern? Oder am Mittwoch? Die zufällige Begegnung im Supermarkt, mit diesem üblich gewordenem ‚Hallo’. „Hallo, alles Gute auch noch, zum Neuen Jahr“. „Na ja, es kommt, wie es kommt“. „Und dann man  Tschüss“ -was ja eigentlich Adieu heißt und ‚bei Gott’ meint. Also: Was kommt? Oder wer? Nie können wir wissen, was vor uns liegt. Aber wir können davon erzählen, was gewesen ist. Können sogar davon singen. Kommt wir versuchen es einmal und singen das Lied 66, Vers Eins:

 

Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude; A und O, Anfang und Ende steht da. Gottheit und Menschheit vereinen sich beide; Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah! Himmel und Erde, erzählet’s den Heiden: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden.

 

Weiß nicht mehr genau, wann ich dieses Lied zum ersten Mal gesungen habe. Meine Erinnerungsbilder zeichnen ein neugotisches Gemeindehaus in Hannover mit dunklen Ziegeln und miefigem Geruch. Hierhin mussten wir mit unseren Eltern zum Gottesdienst im Winter gehen,  denn die Kirche hatte im Dach noch ein Loch. Trotzdem war da am Heiligabend Gottesdienst gewesen. Mein Vater hatte einen weiten warmen Mantel angehabt, ich hatte meine Hände in diese weiten Taschen eingetaucht und mich auf die Bescherung freuen dürfen. Das war nun vorbei, aber im Gemeindehaus war es auch warm und gemütlich. Wir sangen dieses Lied, ich kannte es ja nicht, sondern versuchte so wie die Großen zu singen. Die kieksten aber immer bei den hohen Stellen, bei „Anfang und Ende“ zum Beispiel. Nein, die Frühpubertät gab es damals  für mich noch nicht, aber so richtig mitsingen wollte ich auch nicht. War irgendwie peinlich. Hatte dann meine Mutter gefragt, wer die Heiden sind. Die hatte dann geantwortet, dass ich das doch aus dem Kindergottesdienst schon wissen müsste. „Dieser Kasten, in den du deinen Groschen tust. Mit dem schwarzen Mann drauf“. „Der mit dem Kopf dann nickt“? „Genau“. –Vielleicht ist es dann das gleiche oder eines der nächsten Jahre gewesen, jedenfalls war es ein Filmabend in diesem Gemeindehaus mit den dunklen Ziegeln und dem gleichbleibenden miefigen Geruch, als dann ein Afrikaner aus Äthiopien zu uns sprach. Er sagte etwas von Jesus, nickte dabei nicht mit dem Kopf, sondern war sehr fröhlich. Komm, sagen wir nicht, wer die Heiden sind, sondern singen wir lieber erst einmal. Und singen nicht, wie es kommen muss, sondern zunächst Vers  Drei (EG 66,3).

 

Jesus ist kommen, der starke Erlöser, bricht dem gewappneten Starken ins Haus, sprenget des Feindes befestigte Schlösser, führt die Gefangenen siegend heraus. Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser? Jesus ist kommen, der starke Erlöser.

Es war nach der Konfirmation gewesen. Von dem Konfirmationsgeld hatten wir uns Schallplatten von Louis Armstrong, dem Golden Gate Quartett und Chris Barber gekauft. Weiß noch, wie die Mutter gesagt hatte: „Mach das Gejabbele aus, ich kann es nicht hören“. Es war aber die Musik der Freiheit. Auf der Gitarre wurden die Akkorde a-moll und E-Dur geübt. So konnten wir mit tiefer, klagend imitierender Stimme singen: „Go down Moses, way down in Egypt’s land“ .Es ist eine Grundmelodie gewesen, die uns 1968 angesichts des Vietnam- Krieges auf die Straße gebracht hatte, aber auch noch weiter den Ruf der Freiheit nicht nur in die Schulen und Seminare, sondern auch in die, wie wir zu sagen pflegten, herzustellende Öffentlichkeit, das heißt Gesellschaft hineinzutragen gedacht hatten. Ziemlich klar war, wer das Böse in der Gesellschaft war und wie die konkrete Utopie sich zu entfalten hätte. „Seht auf und erhebet eure Häupter, darum dass sich eure Erlösung naht (Lk.21,28). Natürlich hatten wir so geglaubt, weil wir es so gehört bzw. gelesen hatten: Nur wenn das, was ist, nicht alles ist, lässt sich das, was ist, ändern.  Hatten wir aber daran gedacht, dass die Erlösung an eine Person gebunden ist? Die Wahrheit ist konkret. Gern möchte  ich jetzt deshalb gemeinsam mit Euch weitersingen (EG 66, Vers Zwei).

Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden; er, der Sohn Gottes, der machet recht frei, bringet zu Ehren aus Sünde und Schande; Jesus ist kommen, nun springen die Bande.

Es gibt eine Geschichte im Lukasevangelium, die in der uns eigenen Gottesdienstordnung nie verlesen wird und über die wir in Deutschland im Allgemeinen auch nicht predigen. Warum nur? Sie steht bei Lukas13, 10:

Und er lehrte in einer Schule am Sabbat.  11 Und siehe, ein Weib war da, das hatte einen Geist der Krankheit achtzehn Jahre; und sie war krumm und konnte nicht wohl aufsehen. 12 Da sie aber Jesus sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Weib, sei los von deiner Krankheit! 13 Und legte die Hände auf sie; und alsobald richtete sie sich auf und pries Gott. 14 Da antwortete der Oberste der Schule und war unwillig, daß Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an ihnen kommt und laßt euch heilen, und nicht am Sabbattage.15 Da antwortete ihm der HERR und sprach: Du Heuchler! löst nicht ein jeglicher unter euch seinen Ochsen oder Esel von der Krippe am Sabbat und führt ihn zur Tränke? 16 Sollte aber nicht gelöst werden am Sabbat diese, die doch Abrahams Tochter ist, von diesem Bande, welche Satanas gebunden hatte nun wohl achtzehn Jahre? 17 Und als er solches sagte, mußten sich schämen alle, die ihm zuwider gewesen waren; und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die von ihm geschahen.

 

Wenn die Wahrheit konkret ist, dann die Freiheit erst recht. Am Dienstag war im ZDF in einem Bericht über Vietnam zu sehen, wie eine deutsche Physiotherapeutin Patienten behandelt. Der Einsatz von Agent Orange im Vietnamkrieg hat zu diesen Schwerstbehinderungen geführt. „Ich möchte einmal richtig gehen  können“, sagte ein Patient. Mit ihren Händen sagt sie: „Komm“. Die wiederkehrenden, langsamen Übungen vermitteln Nähe und verändernde Befreiung. Am Ende sieht man ihn auf einem langen Gang gehen, mit eingeschränkten Bewegungen, aber ohne Hilfe. Der Weg in das Selbst. Es ist der Herr, der sich jenen Mächten entgegenstellt, die diesen Weg zu hindern suchen. Es ist der Herr, der gekommen ist. Er berührt und befreit. Im Grunde genommen ist es ja einfach, wie auch die stets anwesenden Kritiker zugeben müssen. Tiere werden losgebunden, damit sie trinken können. Menschen werden von ihren Fesseln gelöst, damit sie frei sind. Es darf ruhig alles rauskommen.

 Ich muss deshalb noch auf das andere eingehen, das am Mittwochabend zu sehen war. Der Bundespräsident im Gespräch mit Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf. Es ist gut gewesen, dass sich Wulff in der Öffentlichkeit den kritischen Fragen der beiden Journalisten gestellt hat. Ob dabei alles rausgekommen ist? Er wirkte auf mich konzentriert und nachdenklich. Aber nicht frei. Wie denn auch. Wie kann ein Mensch frei sein, wenn er zugleich Teil einer perfekten Inszenierung sein muss, die ihm die höchste moralische Autorität zuschreibt, damit aber sich selbst entlastet. Was für mich herausgekommen ist, ist die Einsicht in fehlerhaftes, vielleicht auch schuldhaftes Verhalten, dass im Verschweigen von Kreditbeschaffungen und im aggressiven Anrufen  von Journalisten bestand. Was spricht dagegen, diese Einsicht endlich anzuerkennen und öffentlich geäußerte Bitte um Entschuldigung anzunehmen? Schließlich ist nichts getan worden, was andere geschädigt oder bevorteilt hat. Das Bestehen aber auf Kritik, die schnelleöffentliche Bewertung nach Facebookmanier beziehungsweise Imperatorengeste (Daumen nach unten/gefällt mir nicht) und die lauthalse Forderung nach Konsequenzen lenkt ab von der Problematik öffentlicher Meinungsmache. Es sind doch wir Leser, die Skandalnachrichten goutieren und den Blick in das private Schlüsselloch gern riskieren, um dann zu sagen: Komm, wir doch nicht. Und es sind die Meinungsprofis, die darauf populistisch reagieren und entsprechende Schlagzeilen liefern. Dieser Zusammenhang bildet unsere innere Unfreiheit ab. BiLD als Moralinstanz? Es ist richtig, auf den zu verweisen, der zu den Umstehenden, die mit Steinen die Gerechtigkeit in Szene setzen gewollt hatten, gesagt hat: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“(Joh 8,7). Doch nur allein diesen Satz in den Focus zu nehmen, hinterlässt Schmerzen. Doch Jesus sagt mehr. Er sagt: „Kommt her zu mir alle“ (Mt. 11,28). Er spricht nicht vom Reinwaschen, sondern vom Erquicken, sagt, dass wir zu ihm kommen, sein Wasser trinken können, ja noch mehr: das dieses ausgeht geht von uns, nicht in sich gekehrt und erstarrt, sondern ganz lebendig (Joh 7, 37f). Es ist nämlich so: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“. Kommt, wir wollen das singen und sagen mit dem Vers Sieben.

Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden: komme, wen dürstet und trinke, wer will! Holet für euren so giftigen Schaden Gnaden aus dieser unendlichen Füll/ Hier kann das Herze sich laben und baden. Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden.

Es war zwei Wochen vor Weihnachten. Sie, im hellen weiten Pullover über dem engen Rock, saß mir gegenüber, geschminkt wie immer. Dahinter der Tannenbaum. Die elektrischen Kerzen leuchteten die Holzvertäfelung hell aus. „Das stört sie doch nicht? Er hat doch Tannenbäume so gemocht“. Pause. „ Es ist so schnell so anders gekommen. Er hat dann gesagt: ‚Ich kann nicht mehr’. Und ich habe gesagt, dass er ruhig gehen darf. So ist es doch. Und irgendwie leben wir zusammen“. „Ja“, sagte ich, „anders leben“. Und dann war es lange still in diesem Raum der Trauer und des Lebens. An der Tür hatte sie ‚Tschüss’ gesagt. Was eigentlich ‚Adieu’ heißt und ‚Bei Gott’ meint. Ich bin mir sicher, dass heute immer noch der Tannenbaum in dem Wohnzimmer steht. Und dass es darin hell und warm ist. Kommt, wir singen zum Schluss das, was den Anfang begründet und was Ziel der Zeit ist: Vers Acht und sagen dann leise: Amen.



Pastor i.R. Wolfgang Petrak
Göttingen
E-Mail: w.petrak@gmx.de

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