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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

April 2012, verfasst von Reiner Kalmbach

Liedpredigt für Palmsonntag, 01. 04. 2012

„Wie soll ich dich empfangen“ (Paul Gerhard)

 

Die Gnade Gottes unseres Vaters, die Liebe Jesu unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

Alle zwei oder drei Jahre habe ich die Gelegenheit in die Heimat meiner Eltern und Grosseltern zu reisen. Dort leben auch noch einige meiner besten Freunde, obwohl es derer immer weniger sind. Seit ich mit meiner Familie im argentinischen Süden, in Patagonien, lebe und arbeite, versuchen wir uns hier ein Stückchen neue Heimat zu schaffen.

Was ursprünglich die Kirche der deutschsprachigen Einwanderer war, ist längst lateinamerikanisch geprägt, und das ist gut so! Dazu gehört auch das eigene Liedgut, so dass man nicht mehr auf die oft schlecht übersetzten Lieder aus der „alten Heimat“ zurückgreifen muss. Zumindest in den Gottesdiensten meiner Gemeinde singen wir ausschlieslich Lieder die in den letzten drei Jahrzehnten in unserem eigenen Kontext entstanden sind. Viele von ihnen erzählen vom Leid derer, die unter dem Joch der Militärdiktatur stöhnten und ihrer Sehnsucht nach einer gerechteren Gesellschaft. Ja, in fast allen unseren Liedern ist von sozialer Gerechtigkeit die Rede, ihre Texte erinnern sehr an die Anklagen der alttestamentlichen Propheten.

Warum erzähle ich dies alles?, schliesslich wollen wir uns eines der wohl bekanntesten Kirchenlieder Paul Gerhards zu Herzen gehen lassen...

 

Alle zwei oder drei Jahre reise ich nach Deutschland, das Land meiner Vorfahren, dorthin, wo ich meine Kindheit und Jugendzeit verbrachte, wo noch manch alter Baum steht an dem ich, beim hochklettern, die Hosen und Knie aufgeschürft habe. Dann besuche ich das kleine Kirchlein aus dem 9. Jahrhundert, in dem ich konfirmiert wurde und in dem meine Frau und ich uns das Jawort gegeben haben. Damals, da fand ich die alten Choräle mehr als langweilig. Obwohl ich selbst als Jugendlicher ein fleissiger Kirchgänger war, musste ich mich oft genug regelrecht zwingen an diesen langweiligen Gottesdiensten teilzunehmen. Warum bin ich dennoch „dabei geblieben“? Es war die Predigt, das verkündigte Wort Gottes, die Botschaft. Die wollte ich auf keinen Fall versäumen. Und daran war unser Pfarrer Schuld, er hatte die „Gabe“ der wirklichen Verkündigung. Nein, seine Predigten waren nie langweilig, sie waren bildhaft, voller Leben... Und dieser Pfarrer hatte nicht wenig Anteil an meiner späteren Entscheidung, ebenfalls den Weg zur Kanzel einzuschlagen. Wie gesagt: die Lieder interessierten mich nicht, sie sagten mir nichts..., damals...

 

Alle zwei oder drei Jahre reise ich in meine geistliche Heimat, in das Land Luthers und Dietrich Bonhoeffers, in das Land Paul Gerhards. Und dann geniesse ich die Choräle, und wie ich sie genieße! Oft genug rinnen mir Tränen über die Wangen, und dann singe ich aus voller Brust, dass die Leute sich manchmal nach dem Fremden umdrehen (dabei sagt man mir nach ich hätte einen schönen Tenor...).

Hier in Lateinamerika habe ich gelernt, dass Lieder wirklich predigen können, ja, sie wollen predigen, eine Botschaft vermitteln. Manche unserer Lieder hier in Lateinamerika müssen dies verschlüsselt tun, um den Zensoren ein Schnippchen zu schlagen. Die Kirche soll trösten (auf später!), sie soll die Menschen zum Gehorsam gegenüber den „Autoritäten“ anhalten, sie soll dafür sorgen, dass das Wort der Bibel nicht „in falsche Hände“ gelangt. Und sie soll unter allen Umständen verhindern, dass die Menschen die bibliche Botschaft ernst nehmen und sie gar auf ihre eigene Lebenswirklichkeit anwenden...

Und so habe ich unser eigenes Liedgut ganz neu kennen gelernt, mit ganz anderen Ohren gehört, mit offenem Herzen in mich aufgenommen. Ich habe etwas entdeckt das schon von Anfang an zu meinem persönlichen Glauben dazu gehörte, es war mir bisher nur nicht bewusst.

 

Und so ist es auch mit dem Lied Paul Gerhards „Wie soll ich dich empfangen“, eigentlich für die Adventszeit gedacht. Aber, welch eine Predigt! Das ist Luthers Rechtfertigungslehre pur! Und es tauchen Bilder in mir auf, graussige Bilder von Leid und Schuld, von brutaler Ungerechtigkeit, Krieg und sinnlosem Blutvergiessen, von Pest und Verzweiflung, es sind Bilder aus dem „Dreissigjährigen Krieg“. Damals lebte nämlich Paul Gerhard, seine Lieder sind nur in diesem Zusammenhang zu verstehen. Dass er selbst Not und Entbehrung hautnah erleben musste, bezeugt er in einem seine Lieder: „Was ist mein ganzes Wesen von meiner Jugend an als Müh und Not gewesen? Solang ich denken kann, hab ich so manchen Morgen, so manche liebe Nacht mit Kummer und mit Sorgen des Herzens zugebracht...“ Vielleicht wurden seine Lieder deshalb im Hause meiner Grosseltern während der Hausandachten so oft gesungen. Sie haben auch unsagbares mitgemacht: zwei Kriege und Vertreibungen, alles verloren, Angehörige, Haus und Hof, Heimat, Freunde..., ach, was erzähle ich, das ist die Geschichte von so vielen Millionen in allen Teilen dieser geschundenen Welt.

Weh dem, der in solcher Not einen schwachen Glauben hat! Dem bleibt nach dem Zweifel, nur noch die Verzweiflung...

Wie soll ich dich empfangen? Es ist jener Glaube der Zweifel und Fragen kennt, der manchmal sogar als eine schwere Last empfunden wird. Es ist jener Glaube der um die eine Frage ringt: hab ichs verdient, dass Er mich annimmt? Hab` ich`s verdient, dass Er in mein Herz einzieht? Angesichts meiner Lebensgeschichte kann ich nur über die Gewissheit der Gnade Gottes staunen. Ja, Seine Gnade schließt auch meine Existenz mit ein, sie umfängt mich. Das ist ein ganz persönlicher Glaube, eine ganz persönliche und deshalb einmalige Glaubenserfahrung. Ganz besonders mein Grossvater hat mir diesen Glauben vorgelebt: „...an Jesus glauben heisst, du kannst und darfst dich einfach fallen lassen. Wenn du einmal nicht mehr kannst, wenn die Verzweiflung dir schier den Atem nimmt, dann ruf ihn an...!“ Das ist jener Jesus der dich an deiner Schulter berührt und sagt: „Steh auf!“

Jetzt weiss ich auch, woher meine Grosseltern die Kraft nahmen, immer wieder von vorne anzufangen.

Es ist schon erstaunlich, dass gerade in jener dunklen Zeit des Dreissigjährigen Krieges, ein von Not und Verzweiflung gebeutelter lutherischer Pfarrer eine solche Anzahl von Liedern schreibt, die die zukünftige Geschichte seiner Kirche zutiefst mitprägen sollten. Sein Werk ist aus unserem Gottesdienst nicht wegzudenken. Ach, könnten wir doch unseren jungen Leuten die Tiefe seiner Predigt nahebringen! Jesus würde wahrhaftig wieder in seine Kirche einziehen. Denn davon handelt ja der zweite Teil seines Liedes: Paul Gerhard lässt uns zwar an seinem persönlichen Glauben teilhaben, aber er lebt diesen Glauben nicht in der Einsamkeit, sondern in der Gemeinde. Der Glaube ist zwar persönlich, aber niemals privat! Paul Gerhard sieht seine Kirche vertrickt in den Wirren seiner Zeit, voller Schuld und Zweifel, verloren in der dunklen Nacht, ohne Orientierung...

Ja, es stimmt! Manchmal verzweifle ich beinahe an meiner Kirche, an meiner eigenen Gemeinde, an meiner Schwachheit und Ohnmacht. Wie oft werden wir schuldig. Wie oft suchen wir nach Rechtfertigungen für unser Tun und Lassen! Wie oft muss ich mir eingestehen: wir, ich, sind Teil dieser Welt, einer dunklen, grausamen Welt. Einer unserer Jugendlichen nimmt sich das Leben, als er keinen Ausweg aus dem Drogensumpf mehr sah. Wir sind sprachlos, wir trauern, wir suchen nach Ursachen..., aber wo? Und dann geht das Leben weiter, und wir tun nichts!

Aber dann singe, höre, lese ich diesen zweiten Teil seines Liedes. Paul Gerhard lässt keine Zweifel aufkommen: ER kommt!, Er kommt als Richter, zum Gericht, zum Weltgericht! Endlich wird es ein Ende haben! Was?, die Dunkelheit, der Hass, die Not, die Ungerechtigkeit?

In der letzten Strophe spürt man geradezu eine Sehnsucht nach diesem Kommen. Komm endlich! Mach dem ein Ende! Und es wird ein Ende mit Gerechtigkeit!

Müssen wir uns vor diesem „Einzug“, vor einem solchen Kommen fürchten? Nicht, wenn wir die ersten Strophen aus ganzem Herzen mitsingen können. Wer einen solchen Glauben hat, dem wird der Richter zur Sonne, dem wird das Gericht zur Befreiung, dem wird Jesus zum „Heiland“. Wann wird das geschehen? Jetzt, in diesem Augenblick! Mitten in der Gemeinschaft derer die ihm nachfolgen wollen.

 

Wie soll ich dich empfangen? So wie ich bin, mit meiner ganzen Geschichte. D.h. mit dunklen Flecken auf meiner Weste, vielleicht auch ein wenig gebückt, weil die Last zu schwer ist. Aber mit Freude und mit Dankbarkeit, denn Er geht das letzte Stück des Weges ohne mich, aber für mich, an meiner statt...

 

Amen.



Pfarrer Reiner Kalmbach
Allen – Patagonien
Evang.Kirche am Río de La Plata)

E-Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

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