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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Paul Gerhardt, 2007

"Sollt ich meinem Gott nicht singen" (EG 325), verfasst von Christoph Dinkel

Schriftlesung: 1. Johannes 4,7-16

 

Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat. Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt. Wer nun bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

 

Lied: EG 325,1-4, Sollt ich meinem Gott nicht singen

 

Predigt über „Sollt ich meinem Gott nicht singen"

Teil I

 

Liebe Gemeinde!

Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit - die letzte Doppelzeile unseres Liedes wiederholt sich in neun seiner zehn Strophen. Sie bildet den Refrain, der das Thema des Liedes angibt: die Liebe Gottes.

 

„Gott ist die Liebe" so heißt der Spitzensatz in der Schriftlesung aus dem 1. Johannesbrief, die wir vor unserem Lied gehört haben. Paul Gerhardts Lied greift diesen Satz auf und variiert ihn in zehn verschiedenen Gedankengängen und Bildern. Jede der Strophen des Liedes stellt uns vor Augen, wie man als Mensch in seinem Leben die Liebe Gottes erfahren kann. Weil Paul Gerhardt gerne im „Ich-Stil" gedichtet hat, verlockt uns sein Lied dazu, gleich selbst zu bekennen, wie wir in unserem eigenen Leben Gottes Liebe erfahren. Aber da Gerhardt das lesende Bekennen noch zu wenig ist, beginnt sein Lied mit einer Aufforderung zum Gesang: „Sollt ich meinem Gott nicht singen?" - Wenn es um Gottes Liebe geht, drängt das Gefühl zum Gesang. Wer sich vor Augen hält, was Gott einem an Liebe erweist, der kann gar nicht anders, als davon voller Dankbarkeit zu singen.

 

Gott ist die Liebe - der erste Johannesbrief formuliert im Stil einer Definition und auf die Definition folgen dann sogleich ethische Anweisungen zum liebevollen Umgang der Christen untereinander. Paul Gerhardt ist ein Poet, für ihn steht das Gefühl an erster Stelle, die Ethik tritt eher in den Hintergrund. Deshalb heißt es bei Paul Gerhardt nicht einfach „Gott ist die Liebe", er formuliert vielmehr dichterisch: „Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herze regt". Sie merken: Gerhardt sagt im Grunde dasselbe, aber er sagt es persönlicher, gefühlvoller, so dass einem Gott als ein liebendes Gegenüber erscheint, der sich anrühren lässt und dessen Herz von Liebe bewegt ist.

 

Stellt die erste Strophe das Grundthema des Liedes, die Liebe Gottes vor, so variieren die Strophen 2-4 dieses Thema im Blick auf die drei Personen der göttlichen Trinität. In der Strophe 2 geht es um Gott, den Schöpfer, dem der Mensch sein Leben verdankt. Die Strophe 3 widmet sich der Erlösung durch das Kommen von Gottes Sohn und die 4. Strophe verweist auf das Wirken des Heiligen Geistes, der den Glauben bringt. Sprachlich sind dabei Anklänge an Luthers kleinen Katechismus zu erkennen.

 

Paul Gerhardt ist ein durch und durch lutherischer Theologe. Seine Lieder weichen keinen Millimeter vom Lehrbestand der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit ab. Und doch wirken seine Lieder nie dogmatisch eng oder borniert. Ihnen fehlt auch ganz und gar die gewisse moralische Strenge, die in Luthers Katechismus zu hören ist. Für Gerhardt sind die Zeichen der Liebe Gottes so überwältigend deutlich erkennbar, dass es moralischen Drucks gar nicht bedarf. Und heißt es bei Luther in seinem Katechismus im Stil eines Lehrsatzes, dass Gott mich „in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt" (Erklärung zum ersten Glaubensartikel), so greift Gerhardt für denselben Gedanken auf das biblische Bild vom Adler zurück, der mit seinen Flügeln seine Jungen beschützt: „ Wie ein Adler sein Gefieder / über seine Jungen streckt, / also hat auch hin und wieder / mich des Höchsten Arm bedeckt". Wie viel mehr Poesie steckt in diesem Bild als in Luthers sprödem Katechismusartikel! Gerhardt hat das Bild vom Vogel, der seine Jungen mit seinen Flügeln bedeckt, wohl sehr gemocht. Es kommt auch an anderer Stelle bei ihm vor, besonders berühmt dafür ist die 8. Strophe seines Abendliedes „Nun ruhen alle Wälder":

 

„Breit aus die Flügel beide,?

O Jesu, meine Freude,?

Und nimm dein Küchlein ein!?

Will Satan mich verschlingen,?

So lass die Englein singen:

?Dies Kind soll unverletzet sein."

 

Wie sehr Paul Gerhardts Lied die lutherische Dogmatik zu Grunde liegt, wird auch in der vierten Strophe sichtbar: Gott gibt seinen Geist durch sein Wort. Äußerlich erklingt das Wort in der Heiligen Schrift und in der Predigt. Aber es kommt darauf an, dass Gottes Wort auch das Herz erreicht und verwandelt. Gottes Geist und nicht menschliches Werk führt zum Himmel, nur Gottes Geist kann das Herz mit dem hellen Licht des Glaubens erfüllen. Hören wir dazu aus Luthers kleinem Katechismus die Erklärung zum dritten Artikel:

 

„Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten ..."

 

Gerhardt ist Lutheraner durch und durch. Daran hat er auch nie einen Zweifel gelassen. Im Konflikt mit seinem Kurfürsten war er für das lutherische Bekenntnis sogar bereit, seine Pfarrstelle aufzugeben. Er musste auswandern von Berlin nach Lübben im Spreewald. Das war zwar nicht weit, aber ein deutlicher sozialer Abstieg. Bemerkenswert ist, dass Gerhardt gegenüber seinem Landesherrn sehr steil argumentieren konnte, in seinen Liedern jedoch jeder Anflug von Dogmatismus fehlt. Gerade das macht Gerhardts Lieder so sympathisch, gerade das hat es möglich gemacht, dass unser heutiges Lied schon 1765 mit Zustimmung des Bischofs von Paderborn in ein katholisches Gesangbuch Eingang fand (Angabe aus: Albrecht Goes, Ein Winter mit Paul Gerhardt, 10).

 

Die dritte Strophe unseres Liedes verweist auf die Menschwerdung Gottes in seinem Sohn und auf dessen Lebenshingabe am Kreuz. Das Maß an göttlicher Liebe, das darin zu erkennen ist, ist für den menschlichen Verstand zu groß, diese Liebe ist tief wie ein unergründbarer Brunnen. Damit klingt in unserem Lied zum ersten Mal ein Ton an, der in den Strophen 8 und 9 nochmals erklingen wird: Es ist der Ton des Zweifelns und des Fragens. Den Kreuzestod Jesu als Zeichen göttlicher Liebe zu verstehen, ist keine ganz selbstverständliche Sichtweise. Deshalb muss Gerhardt schon in der dritten Strophe die Unergründbarkeit von Gottes Liebe bemühen. Hilft bei diesem Fall noch die klassische Dogmatik mit ihrer Lehre von der Sündenvergebung durch das Leiden des unschuldigen Gottessohnes weiter, so wird es bei dem Leiden, das man selbst am eigenen Leib und im eigenen Leben erfährt, noch schwieriger. Jesu Leiden ist lange her, das eigene Leiden wird höchst aktuell und sehr bedrängend erfahren. Gerhardt greift deshalb auch zum drastischen Bild der „Schläge", die man von Gott erhält. Strophe 8 lautet:

 

„Seine Strafen, seine Schläge, / ob sie mir gleich bitter seind, / dennoch, wenn ich's recht erwäge, / sind es Zeichen, dass mein Freund, / der mich liebet, mein gedenke / und mich von der schnöden Welt, / die uns hart gefangen hält, / durch das Kreuze zu ihm lenke. / Alles Ding währt seine Zeit, / Gottes Lieb in Ewigkeit."

 

Gottes Strafen und Gottes Schläge als Zeichen seiner Liebe verstehen - das ist aus heutiger Sicht nichts anderes als schwarze Pädagogik. „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten" - so heißt es in den Sprüchen der Bibel im Alten Testament (Sprüche 13,24). Über Jahrhunderte wurden Kinder in diesem Geist erzogen. Doch solche Zeiten sind hierzulande zum Glück vorbei. Prügelnde Eltern sind uns ein Gräuel geworden. Prügel mögen in manchen Fällen ein Zeichen pervertierter Liebe oder von Verzweiflung sein, in den meisten Fällen sind Schläge jedoch Zeichen brutaler Gewalt, niemals sind sie Zeichen echter Liebe und Zuwendung.

 

An diesem Punkt müssen wir uns in aller Klarheit und Deutlichkeit von Paul Gerhardt und den Auffassungen seiner Zeit distanzieren. Die 8. Strophe werden wir daher heute auch nicht singen. Wir können sie lesen, darüber nachdenken und diskutieren, aber wir können sie uns nicht mehr singend aneignen, weil sie aus heutiger Sicht die Liebe Gottes verdunkelt. Dasselbe gilt auch für die 9. Strophe. Sie lautet:

 

„Das weiß ich fürwahr und lasse / mir's nicht aus dem Sinne gehn: / Christenkreuz hat seine Maße / und muss endlich stille stehn. / Wenn der Winter ausgeschneiet, / tritt der schöne Sommer ein; / also wird auch nach der Pein, / wer's erwarten kann, erfreuet. / Alles Ding währt seine Zeit, / Gottes Lieb in Ewigkeit."

 

Immerhin, die 9. Strophe relativiert die 8., indem sie die Endlichkeit des menschlichen Leidens einfordert. Auch für Paul Gerhardt kann dauerhaftes Leiden nicht mit der Liebe Gottes zusammengehen. Das Kreuz des Christen muss ein Ende finden. Schwierig wird die 9. Strophe allerdings, weil sie auf das Jenseits vertröstet und vor der Welt flieht. Dem irdischen Leiden wird die himmlische Herrlichkeit gegenübergestellt. Das irdische Leiden ist als von Gott geschickt auszuhalten, weil im Himmel die Belohnung für treues Durchhalten auf einen wartet. Die marxistische Religionskritik hat vor allem diesen Gedanken aufgespießt und dem Christentum zum Vorwurf gemacht: Statt Menschen zu ermutigen, die irdischen Verhältnisse zu verbessern, werden sie aufs Jenseits vertröstet. Die Religionskritik ist dabei Ausdruck modernen Denkens, das die Welt als eine Gestaltungsaufgabe für den Menschen ansieht. Auch wir sind in diesem Sinne moderne Menschen: Wenn wir ein Problem sehen, suchen wir nach einer Lösung. Bei einer Krankheit suchen wir nach einer geeigneten Therapie. Gegen die Gefahren des Straßenverkehrs erfinden wir Verkehrsregeln, Sicherheitsgurte und Airbags. Leiden und Schmerzen gilt es, so weit als möglich zu verhindern oder zu minimieren, sie sind für uns nie und nimmer göttliche Liebesschläge als die Paul Gerhardt und seine Zeit sie noch sehen konnten.

 

An dieser Stelle trennt uns ein gewaltiger Graben von den Anschauungen vergangener Jahrhunderte. Für unser Empfinden darf Gott nicht in dieser Weise als Urheber von Leiden und Gewalt verstanden werden. Wenn Gott wirklich Liebe ist, wie der 1. Johannesbrief schreibt, dann darf er die Menschen nicht schlagen oder ins Leiden stürzen. Hier hat sich, angestoßen durch Dietrich Bonhoeffer, ein fundamentaler Wandel in der christlichen Dogmatik vollzogen. Bonhoeffer hat, ausgelöst durch seine Erfahrungen in der Haft, als erster davon gesprochen, dass Gott ein mitleidender Gott ist. Statt vom allmächtigen Gott sprach Bonhoeffer vom ohnmächtigen Gott, der von den Menschen an den Rand gedrängt und verfolgt wird.

 

Auch diese Anschauung findet sich in der Bibel und in der christlichen Tradition, aber sie wurde lange Zeit überlagert durch eine zu einseitige Rede von Gottes Allmacht, die es dann auch erforderlich machte, Gott als Urheber des Leidens und der Qual der Menschen zu beschreiben. Wenn Gott wirklich Liebe ist, dann schlägt er die Menschen nicht, dann ist er vielmehr mit ihnen und bei ihnen in ihrem Leiden. Für uns ist klar: Gott darf nicht mit Gewalt infiziert werden, wenn er denn ein Gott der Liebe sein soll. Andere Zeiten haben das anders empfunden. Es besteht für uns kein Anlass, deswegen hochmütig auf sie herabzublicken. Aber wir müssen uns zugleich auch nicht alles aneignen, was zu anderen Zeiten gegolten hat und selbstverständlich war.

 

Lassen wir also die Strophen 8 und 9 beim Singen heute aus. Singen wir dafür lieber die anderen Strophen, die wir uns leichter aneignen können, singen wir die Strophen 5-7 und 10.

 

Lied: EG 325,5-7+10, Seinen Geist, den edlen Führer (Sollt ich meinem Gott nicht singen)

 

Predigt über „Sollt ich meinem Gott nicht singen", Teil II

 

Paul Gerhardt findet Bilder und Metaphern für die Erfahrungen des Glaubens, wie sie nur wenig andere Liederdichter so überzeugend gefunden haben. In der 5. Strophe stellt er uns Gott als Helfer in der Not vor. Wenn wir überlastet sind, wenn wir uns zuviel zugemutet haben und uns vom Leben und den Erwartungen anderer überfordert fühlen, dann tritt Gott zu uns und hilft uns. Das Wort „Freund" als Bezeichnung für Gott fällt zwar erst in der 8. Strophe, hier in der 5. Strophe wird Gott aber der Sache nach schon als Freund beschrieben. Gott ist mein Freund, der meine Not sieht, der an meine Seite tritt und mich unterstützt. Freundschaft ist eine Gestalt der Liebe Gottes.

 

Die Strophe 6 und 7 rücken dann wieder Gott als den Schöpfer in den Mittelpunk der Aufmerksamkeit. Der Schöpfungsbericht klingt an, wenn in Strophe 6 beschrieben wird, was Gott alles uns Menschen zur Nahrung und zum Leben gegeben hat: „Tier und Kräuter und Getreide in den Gründen, in der Höh, in den Büschen, in der See." Gerhardt nimmt uns mit diesen Worten gleichsam auf einen Spaziergang mit und zeigt uns, was die Natur alles für unsere Ernährung bereithält: „überall ist meine Weide". Der Mensch, der von Gott, dem guten Hirten, geführt wird, findet immer eine Weide, er wird keinen Mangel leiden - eine unübersehbare Anspielung auf den 23. Psalm, den Psalm vom guten Hirten. Gott geleitet, so steht es in Strophe 7, auch durch die bedrohliche Dunkelheit und die krankmachende Angst.

 

Als Schlussstrophe greift die 10. Strophe noch einmal das Grundthema des Liedes, die Liebe Gottes, ganz ausdrücklich auf. Gottes Liebe ist allumfassend. Sie hat kein Ende und kennt keine Beschränkung. Die Liebe ist das, was bleibt, weil Gott die Liebe ist und weil die Liebe an Gottes Ewigkeit Anteil hat. Schon der Apostel Paulus hat dies in seinem Hohenlied der Liebe anklingen lassen: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter ihnen." (1. Kor. 13,13). Ich bin sicher, dass Paul Gerhardt beim Verfassen seines Liedes auch dieses Wort des Apostels im Sinn hatte. Seine Briefe hat Paul Gerhardt immer mit „Paulus Gerhardt" unterschrieben. Er fühlte sich dem Apostel sehr, sehr nahe. Das zeigt nicht nur die Unterschrift, das zeigt auch unser heutiges Lied mit seinem Kehrvers: „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit."

 

Die letzte Strophe des Liedes variiert erstaunlicherweise aber nun genau den Kehrvers. An seine Stelle tritt die Zeile: „bis ich dich nach dieser Zeit / lob und lieb in Ewigkeit." Die Worte sind sehr ähnlich, man könnte die Änderungen fast übersehen, und doch sind sie markant. Die noch unpersönlich gehaltene Schlusszeile der ersten neun Strophen wird ins Persönliche gewendet. Aus der Behauptung, dass Gottes Liebe ewig währt, wird die individuelle Hoffnung und Erwartung, dass ich selbst Teil dieser Liebe bin und an ihrer Ewigkeit Anteil erhalte. Auch noch jenseits meiner irdischen Existenz werde ich von Gottes Liebe umfangen sein und in sein Lob mit einstimmen.

 

Auf ein Bild in der letzten Strophe gilt es besonders einzugehen, das Bild von Gott als Vater. Das „Ich" des Liedes tritt seinem Gott entgegen wie ein Kind seinen liebevollen Eltern entgegentritt. Das „Ich" streckt seine Arme aus, um vom Vater oder der Mutter in den Arm genommen zu werden. Und das „Ich" bittet den väterlichen Gott um die Gnade, ihn mit aller Macht, Tag und Nacht, zu umfangen, also selbst umarmen zu können. Welche Kühnheit und welch zärtliche Geste! Der Mensch umarmt Gott! Wer sich erinnert, wie er oder sie als Kind voll Liebe seine Eltern umarmt hat und wie gut es getan hat, von ihnen genauso liebevoll und fest umarmt zu werden, der weiß, welch enorme Kraft und Innigkeit hier beschrieben wird. Und wer es als Mutter oder Vater erlebt, wie einem sein Kind entgegenstürmt und mit welcher Liebe und Energie es einen umarmt und umklammert, der kennt dieses Gefühl eines überwältigenden Liebesstroms, der Eltern und Kind verbindet, wie nichts sonst auf der Welt miteinander verbinden kann. Die Liebe zwischen Kindern und Eltern ist mit die innigste Liebeserfahrung, die ein Mensch machen kann. Bei der Liebe zwischen Kindern und Eltern erleben wir die Liebe und Zärtlichkeit Gottes mit am intensivsten in unserem Leben. Deshalb stellt Gerhardt dieses Bild von der Liebe Gottes an das Ende seines Liedes. Das stärkste Bild, das stärkste Argument steht am Schluss und lenkt zurück auf den Anfang: Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein? - Amen.

 

 

Singen wir nun ein Lied - nicht von Paul Gerhardt, sondern von einem seiner wichtigsten Verehrer und Nachfolger als religiöser Dichter: Dietrich Bonhoeffer. In der Haft hat Bonhoeffer die Lieder Gerhardts immer wieder gesungen und sich auswendig vorgesagt. Gerhardts Lieder haben Bonhoeffer im Gefängnis vor Depression und Wahnsinn bewahrt. Sie haben ihn schließlich angeregt, selbst zu dichten. Eines der Gedichte Bonhoeffers singen wir nun und zwar jenes, das den modernen Umbruch im Verständnis von Gott als liebendem Gott markiert, das Lied, in dem Gottes Ohnmacht beschrieben wird: Menschen gehen zu Gott in ihrer Not (EG Württ. 547).

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

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