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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

Juli 2012, verfasst von Bernd Giehl

Predigt über das Lied: "Es kennt der Herr die Seinen"  (EG 358)

 

Es dürfte jetzt 40 Jahre her sein. Zu der Zeit gab es noch keine CD-Player mit Kopfhörer, von MP 3 Playern oder Smartphones ganz zu schweigen. Musik kam aus dem Radio, oder wenn man selbst auswählen wollte, vom Plattenspieler oder vom Tonband. Meine Mutter war eine stille, eher melancholische Frau mit vier Kindern zwischen etwa acht und fünfzehn Jahren und einem Ehemann, der sein Geld am Postschalter verdiente. Sie war nicht in der Tradition des Pietismus aufgewachsen, wie mein Vater, sondern eher volkskirchlich geprägt, wenn auch die Frömmigkeit meines Vaters in den Jahren ihrer Ehe sicher auf sie abgefärbt hatte. Wenn sie Musik hörte, dann waren es meist Kunstlieder, am liebsten von Tenören wie Hermann Prey oder (womöglich) Dietrich Fischer-Dieskau. Ihr Lieblingslied war „Die Uhr", das mit den Worten beginnt „Ich trage, wo ich gehe/ stets eine Uhr bei mir./ Wie viel es geschlagen habe/ genau seh ich an ihr.// Es ist ein großer Meister/ der künstlich ihr Werk gefügt/ wenngleich ihr Gang nicht immer/ dem törichten Herzen genügt/ Ich wollte sie wäre rascher/ gegangen an manchem Tag./ Ich wollte sie hätte manchmal/ verzögert den raschen Schlag.//" Wehmütig war dieses Lied - und endlos. Zehn Strophen habe ich gezählt, als ich es recherchiert habe. Wenn sie es hörte, hoffte ich immer, es wäre endlich zu Ende. Mein Lied war es nicht.

Ganz ähnlich ging es mir mit dem Lied „Es kennt der Herr die Seinen." Mit einigen Musikstücken verbinden sich mir bis heute bestimmte Assoziationen. So geht es mir mit dem Choral „Bis hierher hat mich Gott gebracht", da sehe ich den Anfang des Films „Der Hauptmann von Köpenick" vor mir, wo der Choral aus einem vergitterten Gefängnisraum zum Himmel steigt. Und bei „Es kennt der Herr die Seinen" höre ich die klagende, schleppende Stimme des Tenors oder Baritons, der das Lied auf der Schallplatte meiner Mutter vortrug.

Karl Johann Philipp Spitta hat es im Jahr 1843 mit 42 Jahren gedichtet. Er hatte seine erste Pfarrstelle 1840 in Hameln angetreten. Spitta stammte aus einer Hugenottenfamilie und war womöglich in der sehr persönlich gefärbten Frömmigkeit des Pietismus erzogen worden oder nahm irgendwann in seinem Leben die pietistische Frömmigkeit an.

Wie auch immer: Diese Frömmigkeit ist in dem Lied „Es kennt der Herr die Seinen" deutlich zu spüren. Die erste Strophe lautet:

Es kennt der Herr die Seinen

Und hat sie stets gekannt,

die Große und die Kleinen

in jedem Volk und Land.

Er lässt sie nicht verderben

Er führt sie aus und ein,

im Leben und im Sterben

sind sie und bleiben sein."

 

An dieser Stelle fällt mir immer der Psalm 23 ein: „Der Herr ist mein Hirte". Der einzige Unterschied, den ich sehe, ist, dass dieses Lied individueller klingt. Zwar gehören die, die hier benannt werden, alle zu SEiner Herde, aber Er kennt sie alle mit Namen; gleich wie viele Millionen es auch immer sein mögen.

In den nächsten drei Strophen werden dann die Merkmale beschrieben, an denen Gott die „Seinen" erkennt. Es sind die „Zeichen", die Paulus in 1. Korinther 13 benennt, also Glaube, Liebe und Hoffnung.

Die nächste Strophe lautet folgendermaßen:

Er kennet seine Scharen
am Glauben, der nicht schaut
und doch dem Unsichtbaren,
als säh er ihn, vertraut;
der aus dem Wort gezeuget
und durch das Wort sich nährt
und vor dem Wort sich beuget
und mit dem Wort sich wehrt
.

 

In dieser Strophe gibt es drei zentrale Begriffe, Der erste ist der „Glaube, der nicht schaut". Der zweite ist das „Vertrauen" und der dritte ist das „Wort". Alle drei Begriffe hängen voneinander ab. Das „Wort" steht dabei in der Rangfolge an erster Stelle. Es ist das Wort Gottes, das Evangelium von der Rechtfertigung aus dem Glauben. Dieses „Wort" zeugt den „Glauben, der zwar nicht „sieht", aber doch darauf baut, dass Gott zu seinen Verheißungen steht. Glauben und Vertrauen sind dabei identisch. So hat Paulus es gesehen und Martin Luther hat es von Paulus übernommen. Natürlich ist das alles zurück zu beziehen auf die erste Strophe, dass Gott jeden Einzelnen aus seiner Herde kennt und für ihn (oder sie) sorgt.

Sehen wir uns nun die dritte Strophe an:

Er kennt sie als die Seinen
an ihrer Hoffnung Mut,
die fröhlich auf dem einen,
daß er der Herr ist, ruht,
in seiner Wahrheit Glanze
sich sonnet frei und kühn,
die wunderbare Pflanze,
die immerdar ist grün."

„Hoffnung" ist hier der zentrale Begriff. Allerdings sagt Spitta nicht, worauf der Glaube hofft. Oder vielmehr: er deutet es an. „Dass Gott der Herr ist", heißt die Begründung. „Herr sein" heißt vermutlich, sich durchzusetzen. Nur dass, wogegen er sich durchsetzen wird (das Futur würde ich mit dem Begriff „Hoffnung" begründen) das wird in dieser Strophe nicht klar. Sind es die Mächte des Bösen? Man könnte es annehmen. Aber es wird zumindest nicht ausdrücklich gesagt. Stattdessen ist von einer „wunderbaren Pflanze" die Rede, von der ich nicht so genau weiß, was mit ihr gemeint ist. Da sie zu jeder Jahreszeit grün ist, wird es wohl der Glaube sein. Da in dieser Strophe von der Hoffnung die Rede ist, würde es grammatisch näherliegen, dass mit der grünen Pflanze die Hoffnung gemeint ist, aber an der Stelle habe ich meine Zweifel. Kann ein Mensch in jeder Situation auf Besserung hoffen? Meine Erfahrung ist es nicht, aber womöglich hat Spitta an dieser Stelle anders gedacht.

Das Lied fährt fort:

Er kennt sie an der Liebe,
die seiner Liebe Frucht
und die mit lauterm Triebe
ihm zu gefallen sucht,
die andern so begegnet,
wie er das Herz bewegt,
die segnet, wie er segnet,
und trägt, wie er sie trägt."

Klar, dass an dieser Stelle die Liebe kommen muss. Und jetzt borge ich mir ausnahmsweise einmal Gottes großes Fernglas mit seiner starken Auflösung (1 Billion Pixel pro cm2) aus und schaue damit auf die Erde. Das Fernrohr hat nicht nur eine hohe Auflösung und dementsprechende Lichtstärke sondern es besitzt auch eine Art Röntgenblick, mit dem man in die menschliche Seele schauen kann. Und - ja ich habe es vermutet - da ist es ziemlich dunkel. Den Glauben erkennt man noch bei vielen, bei einigen auch die Hoffnung, aber die Liebe? Da sieht's dunkel aus.

Oder noch einmal anders formuliert: In diesem Lied wird ein sehr idealisiertes Bild gezeichnet. Das mag in der ersten Strophe noch nicht so sein, aber von Strophe zu Strophe nimmt die Idealisierung zu. Das fängt spätestens in der zweiten Strophe an. Schon Martin Luther hat sich nicht nur mit dem „Wort" gewehrt, sondern er hat dazu auch die weltliche Macht gebraucht, Anders hätte er die Reformation nicht durchsetzen können. So sanft, so edelmütig wie es hier beschrieben wird, sind die Christen nicht. In der Zeit, in der Philipp Spitta lebte, gab es die Kunstrichtung der Nazarener. Die Maler dieser Richtung fanden „im Einklang mit den romantischen und pietistischen Idealen jener Zeit ... den von ihnen angestrebten Ausdruck in romantischen und insbesondere in religiösen Themen." (Artikel: „Nazarener" in „Wikipedia"). Es ist also kein Zufall, wenn mich dieses Lied an die religiös überhöhten Bilder jener Zeit erinnert. Es ist zumindest anzunehmen, dass Spitta diese Kunstrichtung kannte und von ihr inspiriert wurde. Womöglich hat er sich auch auf Friedrich Schlegel berufen, einen Romantiker reinsten Wassers, der die „ursprüngliche Bestimmung der Kunst darin (sah), die Religion zu verherrlichen." (Ebd.) Nun bin ich kein Experte für Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts; es ist also möglich, dass ich mich irre, aber die Parallelen zwischen Spitta (evangelischer Pfarrer), Schlegel (romantischer Dichter und Philosoph)und den Nazarenern (Maler) sind doch offenkundig. Sowohl das Lied, als auch die erwähnten Maler (Schnorr von Carolsfeld, der viele Bibelillustrationen gemalt hat, ist auch zu ihnen zu rechnen) sind von einer ebenso tiefen Naivität wie von einer tiefempfundener Frömmigkeit getragen.

Klingt das nun zu kritisch? Ich muss gestehen, dass mir das Lied immer noch nicht viel näher gekommen ist, als es mir vor vierzig Jahren war. Wenn ich es aber als Lied der Hoffnung lese, kann ich diese Hoffnung teilen.

So hilf uns, Herr, zum Glauben

Und halt uns fest dabei,

lass nichts die Hoffnung rauben,

die Liebe herzlich sei,

Und wird der Tag erscheinen,

da dich die Welt wird sehn,

so lass uns als die Deinen

zu deiner Rechten stehn."

Diese Hoffnung teile ich. Darum möchte ich Gott auch bitten. Das uns nichts die Hoffnung raube und dass Gott uns genug Liebe schenke, damit wir selbst auch Gott und unsere Mitmenschen lieben können. Und dass er uns am Ende auch selbst als die erkenne, die zu ihm gehören.

 



Pfarrer Bernd Giehl
Trebur
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

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