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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

, verfasst von Wolfgang Schillak


Predigt über das Lied "Es kennt der Herr die Seinen" (EG 358)


Mein Schwiegervater sagte gern: ‚Ich kenne meine Schweine am Gang!‘ Er war Landwirt.
‚Ich bin so vertraut mit ihnen, so eng verbunden, dass ich die Eigenarten jedes einzelnen herauskenne, dass ich ihre Reaktionen genau vorauskenne, wenn ich den Stall betrete, in ihre Nähe komme... Ob sie gut gefressen oder sich gebissen haben, sehe ich ihnen direkt an.
Auch, ob sie nach verabreichter Medizin wieder lebensfroh sind und wachsen...‘

Was in der landwirtschaftlichen Tierhaltung gilt, scheint auch für die Beziehung Gott-Mensch zuzutreffen. Philipp Spitta beschreibt eindringlich den Zirkel des Vertrauens und der Leben fördernden und bewahrenden Zuwendung zwischen dem Herrn und den Seinen:
((Alle singen diese Strophe!))

        5. So kennt der Herr die Seinen,
            wie er sie stets gekannt,
            die Großen und die Kleinen
            in jedem Volk und Land
            am Werk der Gnadentriebe
            durch seines Geistes Stärk,
            an Glauben, Hoffnung, Liebe
            als seiner Gnade Werk.

Die Erweckung zu Spittas Zeiten widerspiegelt sich in den Gemeindeaufbau-Bewegungen der ‚geistlichen Gemeinde-Erneuerung‘ in unseren Tagen. Schon damals aufgerichtet gegen dogmatische und strukturelle Verkrustung in landeskirchlichen Körperschaften, ist ihr Anliegen auch heute wertvoll gegenüber Budgetierung, Regionalisierung, Bürokratisierung, Ökonomisierung des Gemeindelebens und -aufbaus: Wir leben vom Wort Gottes, seiner Gnade und dem Geist, der uns bewegt!

Wertvoll ist es aber auch, eine ‚geistliche Erneuerung der Gemeinde‘ kritisch in Frage zu stellen - zunächst schon vom Begriff her: ‚Geistlich‘ unterliegt eine ‚Erneuerung‘ nicht effizienzstrategischen Planungen unternehmensberaterischer Fachkräfte, sondern dem Gebet und der Zuwendung Gottes zu uns - und das nicht erst und besonders heute gegenüber einem besonders spektakulären Missstand! Ecclesia semper reformanda!

Zum anderen ist kritischer Vorbehalt nicht unberechtigt gegenüber einem privatisierenden in-group-Christentum (Hauskreise etc.). In der Familienberatung spricht man von neurotisierender Abschottung, die die Welt enger macht, Handlungsspielräume geringer, Reaktionsmuster starrer. Die Entwicklung in diese Richtung birgt die Gefahr einer reflexiv-palliativen Glaubensform, die das Verändern der Welt außer Acht lässt gegenüber dem Zirkel des innerlichen Kennens - innerhalb der Gruppe ebenso wie zwischen Gott und Mensch.

‚Kennen‘ - Es kennt der Herr die Seinen, der Trainer seine Mannschaft, die Mutter ihre Kinder. Diese gelebte Innerlichkeit trägt die Vertrautheit eines alten, langjährigen Ehepaares: ‚Sag nichts, ich weiß schon...‘ In christlicher Lebens- und Weltverantwortung dagegen heißt es angemessen eher: ‚Doch: Sag, was und wer Dir wichtig ist, wofür Du lebst und von wem! Sag was, tu was!‘

Erkennen - damit verbinden wir aufmerksam Wahrnehmen, feste Beziehung Eingehen, sinnlicher Kontakt. Auch das steckt im göttlichen Kennen der Seinen: Es ist eine vom Zutrauen Gottes, das auf Ermächtigung des Menschen zielt, und vom Vertrauen des Glaubenden getragene Entsprechung - Gottes Tun auf sie hin - Tun der Seinen auf ihn hin.
Ist das nicht aber ein frommer Zirkel - missbrauchbar als Schutzimpfung gegen die böse Außenwelt!? Von innen heraus betrachtet schon, ja; aber vor dieser Einseitigkeit des Glaubenszeugnisses kann die glaubende Selbsterkenntnis schützen, dass das ganze tägliche Leben eine Buße sein soll (Luther). ‚Ändert Euch!‘ ist nicht bloß innerlich-moralisch gemeint; griechisch ‚metanoeite‘ bedeutet: ‚Verändert eure innere Haltung!‘

Und wo die sich ändert, wandelt sich auch die nach außen strebende Gestaltung der Verantwortung für ‚die Welt‘, schärft sich Kritik am Bestehenden, führt der bewusste Weg zur Veränderung, ‚Erneuerung‘.

Es geht also um das Verhältnis von innerer und äußerer Wirklichkeit, von kontemplativem und aktionalem Aspekt des Glaubens. Das sind keine Gegensätze, sondern beide gehören zu einander wie Ein- und Ausatmen!

Zum Kennen zähle ich auch das Wiedererkennen: Er wiedererkennt uns an unserer Haltung - innerlich wie äußerlich; wir wiedererkennen ihn in Glück und Elend der anderen und in uns selbst. Wir leben also einen reflexiven Glaubensanteil, ja! Er ist rückbezüglich auf das Wort Gottes - wir sind die Empfangenden (vgl. Liedtext!). Dies allein ist mir aber zu systemstabilisierend, zu palliativ gegenüber herrschendem Unrecht, gegenüber ungerechten politischen Strukturen. Gleichwohl möchte ich festhalten: Dies Reflexivum ist Geschenk - Gnadengabe!

Gegenwärtig gerade ist Innerlichkeit ein wiederentdecktes, renoviertes Bestandteil ökumenischer Bewegung: Exerzitien, spirituelle Erfahrungen in Meditation, Erwanderungen. Die Gefahr besteht allerdings, dass Pilgern als theologisches Existential zur instrumentalisierenden Methode wird!
Zugleich aber ist Innerlichkeit not-wendiger Rückhalt für strukturelle Veränderung des Gemeindelebens, der gesellschaftlichen Verantwortung. Glaube wächst im Herzen, nimmt aber ebenso mit Füßen und Händen teil am Reich Gottes! Auch Orthopraxie kann zum Glauben führen. Geist als Gnadengabe fährt auch in die Hände und Füße!
Eine Prävalenz der Erweckung gegenüber der Erarbeitung kann ich daher nicht akzeptieren.
Der Weg zum Glauben ist prinzipiell offen für beide Ursprungssituationen
(vgl. ora ET labora; Luther: Auch das Schweinestallausmisten ist Gottesdienst!).

So Christus in der Welt identifizierend finde ich es auch ausgedrückt im Lied 69:
((alle singen diese Strophe))

        2. Wenn das Leid jedes Armen uns Christus zeigt
            und die Not, die wir lindern, zur Freude wird,
            dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut,
            dann wohnt er schon in unserer Welt.
            Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht
            in der Liebe, die alles umfängt,
            in der Liebe, die alles umfängt.

‚Ach, wir kennen uns doch ...?!‘ - ein ahnungsweise bekanntes Gegenüber von nebenan.
Nachbarn: Man fühlt sich verbunden, tut was für einander, miteinander. Man lernt sich kennen, allmählich: Lebensgewohnheiten, Stärken, Eigenheiten, Fähigkeiten. Und: Man kämpft auch für die Änderung schädlicher Lebensbedingungen - 30-Zone für die Kinder, Zebrastreifen für die Schüler; gegen den Fluglärm, das AKW, das Endlager...

Ja, auch Gott und ich - wir sind Nachbarn!

...um der Gesellschaft den Herrschaftsbereich des Willens Gottes näher zu bringen, ihr zu erschließen - eben AUCH mit der Tat, der verändernden - nicht nur mit dem Gruppengefühl.
Der palliativen in-group-Szenerie (Ich und Christus - wir kennen uns, was will ich mehr?)
stelle ich einen identifikatorisch-kreativen Glaubenstypus zur Seite.

Wir sind eingeladen zur Mitarbeit am Reich Gottes, an dem, was das innige Hören und Fühlen auf das Wort Gottes zwischen Menschen und in Lebensräumen in Gang setzt. Denn Christus sagt: „Was ihr GETAN habt den Geringsten" - nicht nur empfunden; und im ‚Geringsten‘ lebt Christus!
Dies zu erkennen, ist geistliche Erneuerung des Handelns!
Denn das Reich Gottes ist zugleich in uns und mitten unter uns!
Ebenso reflexiv wie identifikatorisch!

((beide Lieder einander zusingen: erst rechte Hälfte der Gemeinde 358,5 und linke Hälfte 69,2; danach umgekehrt!))

Ich möchte beide Stile von Christentum verbunden sehen und leben - als 2-Takter gewissermaßen. Eines geht nicht ohne das andere! Sonst hätte Glaube keinen Zugriff, Handeln keinen Rückhalt. Das ist der Gnadenauftrag an die Getauften!
Diese Glaubens- und Lebenshaltung wiederspiegelt auch das Doppelgebot der Liebe! Es sind 2 Typen von auf Christus bezogener Lebensverantwortung: das Christentum des Fühlens, Empfindens, der Innerlichkeit, Spiritualität, der Liebe und das Christentum des Handelns, Eingreifens, Veränderns, der Gerechtigkeit.
Wir brauchen in unserer Kirche heute eine geistliche Erneuerung des Handelns!
Liebe ist nicht nur lindernde Pflege, Palliatives - auch schädigende Strukturen zu verändern, gehört dazu. Also ist Glaube in seiner identifikatorisch-kreativen Seite immer auch politisch!

In je beiden Fällen ist es Gottes Gnadengabe, das jeweils zu erkennen und danach handeln zu können. Darin wird Gott uns als die Seinen kennen und werden die anderen uns als tätige Zeugen für die Nachbarschaft Gottes erkennen.
Gnadengabe und Gnadenauftrag sind nicht immer ein Genuss, nicht immer leicht zu handhaben. Stimmt. Aber: ... die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, sind selig - jetzt schon!

Amen

 

 



Pastor Dr. Wolfgang Schillak
Nörten-Hardenberg
E-Mail: schillak@gmx.net

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