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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

August 2012, verfasst von Erika Reischle-Schedler Teil 1

Predigt zu EG 503, 1-7 »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«   - Teil 1 -


Liebe Gemeinde!

[EG 503, 1-3]

Wenn man sich mit Leben, Persönlichkeit und Dichtung Paul Gerhardts beschäftigt, erfährt man sehr bald, in wie starkem Maße dieser Dichter und Seelsorger mit Schwermut behaftet war. „Schwing Dich auf zu Deinem Gott, Du betrübte Seele, warum liegst Du, Gott zum Spott, in der Schwermutshöhle?", kann er an anderer Stelle dichten. Gibt es Mittel, die helfen wider die Schwermut? O ja, sagt der Dichter, selbst inmitten des namenlosen Grauens eines nicht enden wollenden Krieges, selbst in der bitteren Erfahrung immer neuer menschlicher Verluste: Es gibt die Zuflucht bei Gott, den Trost im Gedanken an den Schöpfer der Welt und des Lebens, der für seine Geschöpfe zu sorgen versprochen hat. Es gibt den Trost im Gedanken an Jesus Christus, der sich nicht fern hält von menschlichem Elend und irdischer Not, sondern hineinkommt und sich uns Menschen zugesellt. Wir könnten für solchen Trost, den Paul Gerhardt für sich und andere immer wieder neu findet, manches Beispiel anführen - und vor allem singen. Aber das, was uns heute beschäftigen soll, liegt noch an anderer Stelle.

Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an Deines Gottes Gaben!" - die Schönheit der göttlichen Schöpfung als wirkungskräftige Hilfe wider die Schwermut. Und der Dichter nimmt uns mit auf seinen Spaziergang durch die Landschaft des Sommers, er nimmt sie wahr mit all seinen Sinnen und malt uns ihr Bild mit der Gabe, die ihm gegeben ist, mit der Gabe des Wortes.

Da ist zunächst das Auge an der Reihe: „Schau an der schönen Gärten Zier und siehe, wie sie mir und Dir sich ausgeschmücket haben!" Es war der Erbauungsschriftsteller Johann Arnd in seinen ‚Vier Büchern vom wahren Christentum‘, dem meistgelesenen Erbauungsbuch über Jahrhunderte, der diesen Zusammenhang aufs Neue ins Bewusstseins evangelischer Christen rückte: Wie gerade die Betrachtung der Natur dem Menschen zu geistlicher Vertiefung dienen kann. - Und natürlich ist Paul Gerhardt Schüler Arnds; kein namhafter Theologe jener Zeit, der nicht in irgendeiner Weise mit Arnd in Berührung gekommen wäre. - Die Gärten, die Blumen, die Bäume, all das, was Gott auf Erden wachsen, gedeihen, sprießen und blühen lässt, ist nicht um seiner selbst, sondern um des Menschen willen, um unseretwillen da: um deinet- und meinetwillen. Für dich und für mich hat die Natur sich ein so prachtvolles Kleid angezogen. Das ist natürlich die Aussage des 1. Schöpfungsberichtes: Alles, was in den ersten fünf Schöpfungstagen entsteht, Licht und Finsternis, Land und Meer, Sonne und Mond, Pflanzen und Tiere, ist Plattform für die Krone der Schöpfung, den Menschen. Um seinetwillen hat alles andere seine Gestalt, und erst, nachdem er, der Mensch, erschaffen war, konnte Gott ausruhen von allen seinen Werken.

Bei Paul Gerhardt sind in einem weiteren Sinne die Augen angesprochen. Nicht nur für sie, sondern für alle Sinne des Menschen gilt: Was wir äußerlich wahrnehmen, das ist das Entscheidende nicht. Entscheidend ist, wie viel von dem, was wir mit unseren leiblichen Sinnen wahrnehmen, unser innerer Sinn der Seele vermitteln kann. Sie können an einem Tag, Sie können in mehreren Wochen sehr viel sehen. Und trotzdem dringt von dem, was Sie äußerlich sehen, kaum etwas nach innen. Und dann bleibt Ihr Herz kalt und Ihr Inneres leer. Und Sie können andererseits ein Leben führen, das ganz wenig äußere Reize enthält. Aber Ihre Seele verwandelt die wenigen Eindrücke in farbenfrohen Reichtum. Dann ist Ihre Seele reich, auch wenn alle Welt behauptet, Sie seien arm dran.

Die Bäume stehen voller Laub, das Erdreich decket seinen Staub mit einem grünen Kleide." Grün, alles, alles grün, schauen Sie nach oben, schauen Sie vor sich hin, schauen Sie nach rechts, schauen Sie nach links, und vergessen Sie für eine Weile das, was es zu Paul Gerhardts Zeiten noch nicht gab: Asphalt, laute Autostraßen, hässliche Betonbauten. Grün, grün, alles Grün! Haben wir vergessen, dass das die Farbe der Hoffnung ist? Also doch: Der bewusste Blick ringsum als Hilfe wider die Schwermut! Die ganze Schöpfung strahlt uns Hoffnung entgegen, und wir verzweifelten Menschlein allein, wir wollten sie fahren lassen?
Und wie viel kühlenden Schatten vermag nicht ein dicht belaubter Baum zu spenden? Wie viel Geborgenheit unter seinem schützenden Blätterdach! Und wie viel reges Leben spielt sich nicht ab in den Ästen und Zweigen eines solchen Baumes! Solltest Du, Mensch, da abseits stehen bei so viel Güte des Schöpfers? Solltest Du Dich wohl nicht anstecken lassen von der Fülle des Lebens, die Dir entgegenkommt? Solltest Du Dich nicht mitnehmen lassen in die Freude hinein, in die Geborgenheit, die nicht von Dir abhängt, sondern die Du nur wahrzunehmen, in die hinein Du Dich nur fallen zu lassen brauchst! „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, da die Spötter sitzen, sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn und sinnt über sein Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit. Und was er macht, das gerät wohl, und seine Blätter verwelken nicht."

Und es geht ja noch weiter: Noch immer heißt es, die Augen gebrauchen zu lernen, dass sie etwas weiterzugeben imstande sind an die Augen der Seele: „Narzissen und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide." „Seht die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen. Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, und ich sage Euch, auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit ist nicht bekleidet wie derselben eine!" So verschwenderisch geht Gott mit Leben um. ER schenkt es nicht portiönchenweise, in Hungerrationen, nach dem Motto: Zu viel, um zu sterben, aber zu wenig, um zu vegetieren. Nein: Prachtvoll, im Überfluss schenkt Gott das Leben. Die Schönheit in leuchtenden, prächtigen Farben. Und dann machen wir uns Sorgen darum, ob das, was Gott uns zum Leben schenkt, wohl ausreichend sein kann: „Wenn er das Gras auf dem Felde, das doch heute blüht und morgen in den Ofen geworfen wird, also kleidet, sollte er da nicht vielmehr für Euch sorgen, o Ihr Kleingläubigen!" Der so redet, möchte uns den gütigen Vater nahebringen, und Paul Gerhardt tut nichts anderes, als in seiner Sprache diese Rede nachzuzeichnen.

Aber weiter: Nachdem die Augen ihre Lektion erhalten haben, wird es nun Zeit für die Ohren. „Die Lerche schwingt sich in die Luft ..." Wer hätte das nicht einmal erlebt, wie erfrischend das ist, wenn wir über Felder wandern, und unser Weg ist begleitet vom Gesang der Lerchen. Und wieder tönt es als Refrain zurück: Hoffnung, Hoffnung, nicht in der grünen Farbe der Blätter, aber im Schwung des Vogelfluges: Jeder Vogel, der seine Schwingen erhebt, hoch in die Lüfte empor, der Sonne entgegen, ist ein Zeichen von Hoffnung. Und der Gesang sucht in unserer Seele nach Widerhall, ob sich da nicht ein Echo finden, ob da nicht etwas ins Schwingen geraten könnte, was vielleicht lange, lange verstummt war.
Johannes Calvin hat vom Gesang der Vögel beinahe verächtlich gesprochen: Die Vögel, sagt er, singen ja wohl schön, Aber sie verstehen nichts von dem, was sie singen. Der Mensch allein kann verstehen, was er singt, und sich damit über die Kreatur erheben. Martin Luther sieht den gleichen Sachverhalt völlig anders: Er lässt Frau Musica ihr eigenes Lied singen und betitelt es noch dazu: „Vorrede auf alle guten Gesangbücher". „Die beste Zeit im Jahr ist mein", singt Frau Musica, „da singen alle Vögelein. Himmel und Erde sind der voll, viel gut Gesang da lautet wohl. Voran die liebe Nachtigall, macht alles fröhlich überall mit ihrem lieblichen Gesang, des muss sie haben immer Dank, vielmehr der liebe Herre Gott, der sie also geschaffen hat, zu sein die rechte Sängerin, der Musica ein Meisterin. Dem singt und springt sie Tag und Nacht, seins Lobes sie nichts müde macht, den ehrt und lobt auch mein Gesang und sagt ihm ewiglichen Dank!" (EG 319, 1-4).
Natürlich ist Paul Gerhardt Schüler Luthers. Und natürlich ist auch für ihn der Gesang der Vögel, vor allem der der Nachtigall, nichts anderes als unerreichbares Vorbild für alles menschliche Singen. Lob des Schöpfers geschieht unermüdlich durch das nie endende Lied der Vögel. Lob des Schöpfers soll genauso unermüdlich durch den Gesang des Menschen geschehen. Wer die Nachtigall singen hört, kann der schweigen? Kann der noch verharren in der Schwermut?

Doch wir müssen noch auf eine Einzelheit achten: Zwischen Lerche und Nachtigall macht sich ja bei Paul Gerhardt noch ein Vogel bemerkbar, der allerdings alles andere ist als ein hoch begabter Sänger: Die plumpe Taube mit ihrem eher nervenaufreibenden als gemütsergötzlichen Gegurre. Auch ein Geschöpf Gottes, jawohl. Offenbar kann es auf der weiten Welt nicht nur Hochbegabte geben. Gott in seiner Schöpferweisheit hat es gefallen, dazwischen auch sehr einfältige, schlichte Gemüter zu erschaffen, und sie alle sollen einander gegenseitig befruchten und nicht etwa nur einander gegenseitig auf die Nerven fallen.
Es gibt dazu eine köstliche Geschichte: Sie handelt zwar nicht von einer Taube, aber auf jeden Fall auch von einem in Punkto Gesang wenig begabten Exemplar in Gottes guter Schöpfung: dem Pfau.
Man hatte nämlich so viel erzählen hören vom wundervollen Gesang der Nachtigall, dass im Rat der Vögel beschlossen wurde, dem doch einmal nachzugehen. Der Pfau und die Lerche wurden ausersehen, sich die Nachtigall anzusehen und anzuhören. Entrüstet kommt der Pfau zurück und berichtet: Bei dem hässlichen Federkleid, das die anhat, habe ich überhaupt nicht auf den Gesang gehört, der ist gar nicht an mich herangekommen, so entsetzt war ich über ihr Aussehen ... Die Lerche erzählt genau anders herum: Ich kann mich beim besten Willen nicht an ihr Federkleid erinnern, denn ihr Gesang war so überirdisch schön, dass ich nichts mehr sonst wahrgenommen habe.
Wie gehen wir mit der guten Schöpfung Gottes um: Suchen wir eine prächtig gekleidete Nachtigall, die prächtig singt? Die werden wir, und wenn wir um die ganze Welt reisen sollten, nicht finden können. Wir werden nur den prächtig gekleideten Pfau finden, der beim besten Willen nicht singen kann, und wir werden die unansehnliche Nachtigall finden mit ihrem wundervollen Gesang. Wir werden die Lerche finden und die Nachtigall und in ihrer Mitte ein so sangesunkundiges Geschöpf wie die Taube - und alle haben sie ihre Berechtigung in der guten Schöpfung Gottes. Sollte nicht auch das eine Hilfe sein wider die Schwermut? Kein Mensch braucht ein anderer zu sein, als der, der er ist. So wie er ist, hat er seinen Platz in Gottes großem Garten, und ganz gewiss seine sinnvolle Aufgabe.

[EG 503, 4. 5]

Von der Freude im großen Garten der Schöpfung Gottes sprachen wir, von den Sinnen, die gebraucht werden, um diese Freude wahrzunehmen, und wie all dies für den Dichter Hilfe zur Hoffnung werden will. Wenn wir die nächste Strophe anschauen, so atmet hier alles, was da gesagt wird, Geborgenheit.

Die Glucke führt ihr Völklein aus." Ohne Geschrei geht das ganz sicher nicht ab. Und ohne Hackordnung auch nicht. Aber die Glucke wird schon schauen, dass keinem ihrer Schützlinge Unheil geschieht. Weder von außen noch aus den eigenen Reihen.
Die Glucke und ihr Völklein sind ein Clübchen für sich! Und akzeptiert kann dort nur werden, wer sich der Hühnerhofatmosphäre nach Kräften anpasst. Wir kennen den Streit, der zwischen einem Hühnerhofbesitzer und einem Vogelschützer entbrennt, weil der Hühnerhofbesitzer unter seine Tiere einen Adler aufgenommen hat und es sein ganzer Stolz ist, dass der sich zu einem vollkommenen Huhn entwickelt hat. Auch er sucht nichts anderes, als seine Körner vom Boden zu picken, bis der Vogelschützer kommt und den grausamen Irrtum entdeckt. Drei Anläufe muss er nehmen, bis er dem Adler wieder zeigen kann, was es bedeutet, zu fliegen. Erst, als der Vogelschützer den Kopf des Adlers nimmt und ihn direkt der Sonne entgegenhält, da fühlt dieser seine Schwingen stark werden, sodass er sich in die Lüfte erheben und Freiheit atmen kann. Von weit, weit oben fällt dann sein Blick zurück auf seinen ehemaligen Hühnerhof mit seinem Geschrei, seiner Hackordnung und seiner Geborgenheit, die aus der Adlerperspektive ja aber nichts anderes bedeuten kann als Sklaverei und Gefangenschaft. Eines schickt sich nicht für alle. Wenn die Küken geborgen sind in der Hackordnung des Hühnerhofes unter einer allzeit fürsorglichen Glucke, so ist die Geborgenheit des Adlers die Freiheit um sich her, die Weite der Lüfte und die Nähe zur Sonne.

Auch der Storch braucht seine Geborgenheit, aber weder in der Hackordnung des Hühnerhofes noch in der Freiheit der Lüfte: Er braucht sein Haus, sein Nest, das er mit Liebe bauen muss, in unendlicher Geduld und Kleinarbeit. „My home is my castle", mein Haus ist meine Burg, sagt der Engländer, und ein Theologe unserer Tage sagt von Gott, dass er das Haus sei, das uns schützt. Das Haus, das ganz unser ist, von keinem unerlaubt betreten werden darf, aber dennoch erlaubtermaßen betreten werden kann von dem, dem wir es zulassen. Schutz und Freiraum zugleich, das ist Gott für den Menschen, das ist das Haus als Lebensraum. Und das Bild sagt auch etwas von dem, dass Geborgenheit doch nicht nur einen abgeschlossenen Raum meint, sondern zugleich den Freiraum, der zum Ausgangspunkt wird für ganz neue Erfahrungen und weite Horizonte.

Das Schwälblein und die Jungen - wieder ein anderes Bild für Geborgenheit: Hilfe zum Leben. Und zu gegebener Zeit auch: Das Schwälblein speist die Jungen nicht mehr, damit sie selber lernen, zu fliegen, damit sie selber sich einmal versorgen lernen, damit sie lernen, einmal ihre Jungen zu versorgen, so, wie sie jetzt noch von ihrer Mutter versorgt werden. Alles zu seiner Zeit. Nichts zu unrechter Zeit. Genauso schlimm, wenn die Rabenmutter ihre Jungen vernachlässigt, wie wenn die Gluckenmutter ihre flügge gewordenen Jungen immer noch meint versorgen zu müssen wie in jener Zeit, als sie noch nicht fliegen konnten. Genauso schlimm, wenn die alt gewordene Mutter Schwalbe, krank an Flügel und Schnabel, sich nicht versorgen lassen dürfte von den Jungen, die sie einstmals versorgt hat ... Sorgen und umsorgt werden, tragen und getragen werden, helfen und Hilfe erfahren - beides, im richtigen Miteinander, machen das Leben aus. Und nicht gut ergeht es dem, der nur die eine Seite kennt und nicht die andere, der nicht zu unterscheiden weiß die Zeit, die Hände zu regen, und die Zeit, sie ruhen zu lassen.

Noch ein viertes Bild von Geborgenheit: Reh und Hirsch wagen die Freude. Im tiefen Gras finden sie ihre Geborgenheit, das Ziel ihrer Lebenslust. Freudensprünge, weil die Sonne lacht, weil die Welt so voller Duft und Gesang, so voller Pracht und Schönheit ist, so voller Frieden. Wäre da einer in der Nähe, von dem Hirsch und Reh Grausamkeit befürchten müssten, sie könnten keine Freudensprünge machen. Sie würden in ihrem Versteck bleiben, scheu, von keinem gesehen - und wir merken schon: Ein Versteck ist keine Geborgenheit, das wäre der Inbegriff von Unbehagen, von Heimatlosigkeit, von Ausgestoßen-Sein. Das tiefe Gras inmitten all des blühenden sommerlichen Lebens, im warmen Sonnenschein ist da schon etwas anderes.

Aber nun wieder, nachdem die Bilder an unseren Augen vorbeigezogen sind, klingen die Ohren: „Die Bächlein rauschen in dem Sand ..." Wer kennte das nicht, das muntere Geplätscher des Baches am Wege, das beruhigende Geglucker, die Freude, zumal an einem heißen Tag, Kühlung bei einem solchen Gewässer erhoffen zu dürfen. „Der Du Menschenherzen lenkst wie Wasserbäche ...", richtet der Psalmist sein Gebet an Gott. Hierhin und dorthin kann er sich ja schlängeln, der Bach, plötzlich sich teilen, plötzlich unter der Erde verschwinden, um alsbald, ebenso überraschend, an anderer Stelle wieder hervorzukommen - Gottes Schöpfung ist reich! Wo solche Wasser fließen, da belebt sich ringsum das Land. Wo Wasser ist, da kann es ringsum wachsen, blühen und gedeihen. Man kann es hören, wie fruchtbar rings das Land werden wird!

Aber man kann noch etwas anderes hören: das Lustgeschrei von Schafen und Hirten auf den Wiesen. Hatten wir vorhin sichtbare Geborgenheit, haben wir hier hörbare Geborgenheit. Nichts vom Wolf, der da angeschlichen kommt und Herde und Hirten in Unruhe versetzt - nichts von dem einen Schaf, das sich ins Dornengestrüpp verläuft und seine Herde nicht mehr findet, weil es hilflos da hängt und sich aus eigener Kraft nicht befreien kann. Nein, das alles nicht. Freude, an vom Wasser des Baches getränkten, saftig grünen Wiesen, Freude am Sommer, der Winter wird noch lange genug dauern.
Die Maus Frederic, die beschließt, im Sommer genügend Sonnenstrahlen zu sammeln, damit sie sich einen genügend großen Vorrat davon für den langen Winter anlegen kann, ist eine kluge Maus. Und auch das ist eine Hilfe wider die Schwermut: An der Freude, die jetzt und hier auf uns wartet, selbst Anteil zu nehmen. Wir alle haben in unserem Herzen ein Schatzkästchen, das nur darauf wartet, gefüllt zu werden mit kostbaren Erinnerungen, die wir sorgsam dort aufbewahren und hervorholen können, wenn es grau und dunkel um uns her wird. Um unseretwillen ist diese wunderbare Schöpfung Gottes da, zu unserer Freude. Nehmen wir davon, soviel wir können, lassen wir unser inneres Auge und Ohr weit werden, um so viel wie möglich davon einzulassen in unsere Seele!

[EG 503, 6. 7]

Nachdem Auge und Ohr aufgerufen waren, die Wunder der Schöpfung wahrzunehmen, muss nun auch der Geschmackssinn beteiligt werden. „Die edle Honigspeise...", und gleich hinterher: „Des süßen Weinstocks starker Saft..." Nicht um Wasser und Brot geht es hier, nicht um das, was der Mensch unbedingt braucht, damit er überhaupt leben und überleben kann, sondern um den Überfluss, um das, was dem Menschen zur Freude dienen soll.

Ich habe im Alten Testament gesucht, was ich über den Honig finden konnte. Das Land, das Gott den unterdrückten Israeliten verheißt, die in Verzweiflung oft genug nicht aus noch ein wissen, ist ein Land, darin Milch und Honig fließen. Nicht Wasser und Brot, sondern Milch und Honig. In einer Zeit, in der es keinen Zucker und keine Schokolade gibt, ist dies der Inbegriff des Köstlichen, Angenehmen, Süßen, Liebreichen. Und das Manna, das ihnen als wunderbares Brot in der Wüste von Gott selbst gereicht wird, damit sie dem Tod durch Verhungern entgehen, hat einen Geschmack süß wie Honig. Es ist nicht bitter wie Galle, sondern angenehm, überraschend wohlschmeckend. Wir leben nicht von Wasser und Brot allein - damit könnten wir allenfalls überleben. Wir leben auch nicht von den unumgänglichen menschlichen Beziehungen, rein geschäftlich, rein aus Zweckgründen. Wir leben vom Überfluss. Immer wieder aufs Neue leben wir vom Überfließen der Güte Gottes.
Da lebt die Patientin im Krankenhaus, sie hat keinen Hunger, sie klagt. Sie ist langzeitkrank über viele Jahre. „Und wenn es nun wäre wie im Märchen, wie im Schlaraffenland", sage ich, „wenn Sie sich wünschen könnten nach dem Motto: Tischlein, deck dich, was Sie jetzt essen möchten, hätten Sie keinen Wunsch?" „Nein", antwortet sie, „keinen. Ich weiß nicht, es gibt nichts mehr, was mir schmeckt." Und wenige Sätze später, völlig logisch und stimmig zu dem, was sie vorher gesagt hat: „Ich warte auf den Tod, das ist das einzige, was ich noch tun kann. Und er kommt nicht." Ein Leben, das nicht mehr rechnen kann mit dem Überfluss, das ist nur noch ein Vegetieren.

Aber auch das andere müssen wir noch sagen, wenn wir vom Honig sprechen: Die Beter des Alten Testaments haben darum gewusst, dass es Süßeres gibt als Honig: „Dein Wort, o Herr, Dein Gesetz", bekennen sie, „ist süßer als Honig." Und so kann es Philipp Nicolai in sein Lied aufnehmen, indem er zu Christus sagt: „Dein süßes Evangelium ist lauter Milch und Honig." Es gibt eine geistige Süße, deren der Mensch ganz genauso bedarf wie der leiblichen, und das ist die Liebe, die Liebe, wie sie uns von Gott entgegenkommt in seinem Wort und erst recht in Jesus Christus, seinem Mensch gewordenen Wort.

„Der Wein erfreuet des Menschen Herz", lesen wir im großen Lobgesang auf die Schöpfung, Ps. 104, und im Sprichwort sagen wir: "in vino veritas", der Wein bringt es an den Tag, was im Menschen wirklich ist. Der Wein, der, zumindest nach der Aussage unserer Liedstrophe, Menschen in angeregte, freundliche Stimmung versetzt, dunkle Wolken dahinschwinden und heitere Gelassenheit einkehren lässt. Nichts vom Unheil, das er anzurichten vermag. Nur von der Kraft, die in ihm schlummert, in seiner Unscheinbarkeit und Dürftigkeit, davon weiß der Dichter zu singen.

Und noch weiter geht es, und immer noch sind Geschmack und Genussfähigkeit des Menschen angesprochen: „Der Weizen wächset mit Gewalt ..." Es hat mich betroffen, wie ich mir irgendwann einmal zum ersten Mal klargemacht habe, dass wir Städter kein Verhältnis mehr zur Natur haben. Das Brot kommt uns ins Haus, auch wenn um uns herum Bauern Missernten zu beklagen haben. Zur Zeit Paul Gerhardts hing das Leben nun wirklich daran, dass die Ernte gut wurde. Unsägliches Elend kam über Menschen, wenn Unwetter und Katastrophen die Ernten vernichteten. Die Menschen spürten auf diese Weise körperlich ihre Abhängigkeit von Gott. Vielleicht hatten sie es leichter als wir heute, einen Weg zu Gott zu suchen und zu finden. Wir haben als gesamte Gesellschaft diese handfeste Abhängigkeit zu Gott nicht mehr. In Einzelfällen, wenn wir z. B. erleben, dass um uns herum schwere Unfälle sich ereignen, vielleicht eher. Wir merken auf einmal, dass ja auch wir von einem solchen Unglück genauso betroffen sein könnten wie Nachbar oder Verwandter, und dass ein Gebet um Bewahrung im Verkehr und bei der Arbeit gar nicht so etwas Exotisches wäre, und dass es schon Grund zu Freude und Dankbarkeit genug bedeutete, wenn wir am Ende eines Tages oder einer Woche einmal wieder sagen könnten: Ich bin bewahrt geblieben. Aber wir haben in aller Regel diesbezüglich eine sehr dicke Haut. Wenn alles gut geht, ist es selbstverständlich, und wenn es nicht gut geht, dann meinen wir allerdings das Recht zu haben, Gott anzuklagen. So sieht das bei uns aus, in aller Regel.
Vielleicht liegt uns auch deswegen die Freude oft so fern, weil wir das Gute so selbstverständlich nehmen und von Kindheit an kaum gelernt haben, dankbar zu sein. Was uns hier bei Paul Gerhardt entgegenklingt, ist helle Freude, überschwängliches Glück: „Darüber jauchzet Jung und Alt und rühmt die große Güte des, der so überflüssig labt und mit so manchem Gut begabt das menschliche Gemüte." „Unser tägliches Brot gib uns heute", beten wir im Vaterunser, und wir meinen damit auch zunächst das Brot, das uns nährt und das wir zum Leben brauchen, aber wir meinen auch das andere, was wir so nötig brauchen wie Brot, weil wir nicht allein vom Brot leben: die Liebe. „Unsere tägliche Liebe gib uns heute!" „Der mit so manchem Gut begabt das menschliche Gemüte..." Es ist viel, das hier zu sagen wäre. Viel, das unter uns Menschen geschieht und geschehen muss, damit wir es noch aushalten in dieser Welt. Aber nicht zuletzt und vor allen Dingen ist es seine Liebe, die er uns schenkt Tag um Tag, die er uns hat zuteilwerden lassen in Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Ob wir in den Lobpreis, den die Menschen um Paul Gerhardt anstimmen und für den er nur Sprachrohr ist - ob wir in diesen Lobpreis hineinfinden können, heute, morgen, übermorgen? Es lohnt den Versuch, und der Dichter ermutigt uns (EG 503, 8), ihm einfach nachzusingen! Amen.



Liedvorschläge:

Eingangslied: EG 446, 1-4 Wach auf, mein Herz, und singe
Schlusslied: EG 446, 8. 9 Sprich ja zu meinen Taten

Gebet
[aus Afrika]: Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel. Die Nacht ist verflattert, und ich freue mich am Licht. Deine Sonne hat den Tau weggebrannt vom Gras und von unseren Herzen. Was da aus uns kommt, was da in uns ist an diesem Morgen, das ist Dank. Herr, ich bin fröhlich heute am Morgen. Die Vögel und Engel singen, und ich jubiliere auch. Das All und unsere Herzen sind offen für Deine Gnade. Ich fühle meinen Körper und danke. Die Sonne brennt meine Haut, ich danke. Das Meer rollt gegen den Strand, ich danke. Die Gischt klatscht gegen unser Haus, ich danke. Herr, ich freue mich an der Schöpfung, und dass Du dahinter bist und daneben und davor und darüber und in uns. Ich freue mich, Herr, und freue mich und freue mich. Die Psalmen singen von Deiner Liebe. Die Propheten verkündigen sie, und wir erfahren sie: Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Himmelfahrt ist jeder Tag in Deiner Gnade. Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel. Ein neuer Tag, der glitzert und knistert, knallt und jubiliert von Deiner Liebe. Jeden Tag machst Du. Halleluja, Herr, Amen.

 



Erika Reischle-Schedler Teil 1
Göttingen
E-Mail: e.reischle-schedler@t-online.de

Bemerkung:
Die Liedbetrachtung zu EG 503 erfolgt an zwei aufeinander folgenden Sonntagen. Teil 1, zum 11. Sonntag nach Trinitatis (19. August 2012), umfasst die Strophen 1-7.


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