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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

, verfasst von Kira Busch-Wagner

Predigt über das Lied "Er weckt mich alle Morgen" (EG 452)

Liebe Gemeinde,

das vermutlich älteste Stück in der Bibel ist ein Lied: Ein Vers, den Mirjam, die Schwester des Mose singt am Schilfmeer: Eine herrliche Tat hat er getan, Ross und Reiter warf er ins Meer.

Psalmen, die Lieder und Gedichte der Bibel sind wohl der meistgelesenste und meistzitierteste Teil der Bibel.

Am Ende der Welt, so sieht es der Visionär Johannes in der Offenbarung, singen die Erwählten das Lied des Mose und des Lammes.

So ist es mit den Liedern schon etwas besonderes. Die Kindergärten, in denen gesungen wird, erhalten besondere Auszeichnungen. Und neben den eigentlichen Gesangvereinen sind die Gottesdienste wohl diejenige Art von Veranstaltungen in unserem Land, wo am meisten und gesungen wird und aus unterschiedlichstem Liedgut. Wo auch gestritten wird um die Lieder. Zu modern? Zu altmodisch? Zu getragen? Zu schwierig?

Und doch gibt's fast in jeder Konfigruppe doch ein Lied, was irgendwie das Lied dieses Jahres ist, zu der Gruppe dazugehört. Lieder sind prägend und bleiben.

Im Gesangbuch stehen Lieder, deren Ursprung so alt ist, dass sie noch in die Antike gehören, ins römische Reich, vielleicht schon in Christenverfolgungen gesungen wurden. Bei manchen weht uns noch die Kühle der mittelalterlichen Klöster und Kreuzgänge entgegen.

Im Gesangbuch finden wir Lieder, die entstanden, weil die Gedanken, von ihnen sie erzählen, auf diese Weise viel schneller bekannt wurden. Vom Himmel hoch, da komm ich her - das ist ein Weihnachtslied von Luther. Das ist aber auch Luthers Meinung von Gottes Wort, dass es eine gute Mär sei, wie es im Weihnachtslied heißt, eine gute, eine hilfreiche und frohe Botschaft.

Unsere Lieder erzählen von Gott; sie erzählen aber auch von den Menschen, denen sie aus dem Herzen gesprochen sind. Von dem, worüber sie sich freuen oder was ihnen auf der Seele liegt.

Eine der immer beides verknüpft hat, der von Gott erzählen wollte und gleichzeitig ganz viel von sich selbst erzählt hat, ist Jochen Klepper. Vor 70 Jahren ist er gestorben. Nächtes Jahr hätte er den 110. Geburtstag.

Das Lied, von dem heute ausführlich in der Predigt die Rede sein soll, hat er mit 35 Jahren geschrieben. Da war er also noch nicht so alt, hatte aber schon eine ganze Menge Erfahrungen gemacht, gute und belastende. Eigentlich hatte er Pfarrer werden wollen, genau wie sein Vater. Aber er hat das einfach nicht geschafft. Er war eine ganze Zeit lang ziemlich arm und hat sehr darum gekämpft, mehr zu verdienen. Er hat eine Frau geheiratet, die schon zwei Kinder hatte und älter war als er, und liebend gern hätte er selbst noch ein Kind gehabt. Weil die Eltern der Frau jüdisch gewesen waren, galt sie auch als Jüdin und auch ihre Kinder, ob sie wollte oder nicht, und Jochen Klepper litt sehr mit ihnen, weil es zum Beispiel den Mädchen verboten war als jüdischen Mädchen ins Schwimmbad zu gehen oder eine richtige Ausbildung zu machen. Er hatte viel Angst um seine Frau und die Kinder. Er wäre gerne ein berühmter Schriftsteller gewesen und im Krieg gab es nicht einmal immer genug Papier, um seine Gedichte und seine Romane zu drucken. Er schrieb einen Roman, so dick, dass ihn heute fast niemand mehr liest, eine unglaubliche Arbeit, allein die Hunderte von Seiten mit der Hand zu schreiben, und quälte sich selbst mit der schriftstellerischen Arbeit sehr herum.

Den biblischen Gott aber hat er immer wie einen guten Freund erlebt. Einen väterlichen, gerechten, mächtigen, auch fordernden Freund. Aber als einen, bei dem er sich wirklich verstanden erlebte, den er an seiner Seite wusste, jeden Tag neu.

 

452, 1

 

Die Worte für den Freund, für Gott, für seine Nähe, hat Jochen Klepper in der Bibel gefunden, im Buch des Propheten Jesaja. Da war schon davon die Rede: Der Herr weckt mir alle Morgen das Ohr ....

Das war für Jochen Klepper das Stichwort. Gott weckt mir das Ohr! Wenn das kein Morgenlied werden könnte. Und so hat er ausgeführt, was er biblisch schon angelegt sah.

Gott hält sich nicht verborgen - das sagt Jochen Klepper sich selbst. Das predigt er sich selbst. Und das predigt er auch anderen. Er erzählt es aller Welt weiter. Selbstverständlich ist ihm das nicht. Es geht ihm und seiner Familie oft so schlecht, dass er das Gefühl hat, Gott hält sich versteckt. Der verborgene, verdunkelte, scheinbar abwesende Gott - den Schrecken darüber, die Erfahrung, die Frage teilt Jochen Klepper mit vielen anderen. Auch mit großen Theologen wie Martin Luther. Zweifel, Einsamkeit, Dunkelheit, Schrecken - Klepper verbindet das mit der dunklen Nacht. Jetzt aber, der frühe Morgen, der Beginn des Tages, der Aufbruch, das Licht, lässt ihn anderes erfahren. Gott ist nah und spricht. Und er selbst, der Mensch, zu dem Gott spricht, hat auch das Geschenk empfangen, ein offenes, ein sensibles Ohr zu haben. Wenn er, Klepper, in der Bibel liest, wenn er das Losungsheftchen zur Hand nimmt, wenn er den Tag vor sich hat, da ist Gott dabei.

 

452, 2

 

Schöpfung ist für Klepper keine ferne Angelegenheit, nichts, was sich vor Millionen Jahren ereignet hat. Schöpfung Gottes, das erlebt er an diesem Morgen an sich selbst. Das erlebt er jedes Mal wieder neu an der eigenen Person. Gott spricht - und siehe, es ist sehr gut. Den Bund, den Gott mit Abraham schließt, Israel am Sinai bestätigt, auf den sich die Propheten beziehen, den Gott in Treue hält und immer neu in Kraft setzt, der uns in der Taufe zugesprochen wird um Jesu willen - in der Schöpfung von jeher und immer neu sieht Klepper den Bund wirkend, Zeichen der Treue Gottes. Er muss auch an die so genannten Klagelieder gedacht haben, biblische Lieder wie die Psalmen. Sie reden vom Exil, von der Verbannung, als das Volk Israel aus Gottes Land nach Babylon verschleppt war, elend, politisch am Boden, sicher auch unter dem Eindruck und voller Scham über die eigenen Taten, derentwegen Gott sich abgewandt haben mochte.

Man hat die Klagelieder oft dem leidenden Propheten Jeremia zugeschrieben hat, so berührend sind sie. Und dann leuchtet in ihnen plötzlich eine große Hoffnung auf: Des Herrn Gnade hat kein Ende. Seine Treue ist groß. Groß und unerschütterlich. Die Treue Gottes erst ermöglicht uns, auf Gott zuzugehen. Die Treue Gottes schenkt uns den Weg mit Gott zusammen. Die Treue Gottes ruft schließlich die Kirche in ihre Dasein, in ihren Dienst.

 

452, 3

 

Der Gottesknecht, der das Wort hört, behält es nun nicht bei sich. Gottes Wort fordert hin heraus. Gerufen zu sein und berufen zu sein liegt nah beieinander. Freiheit ist nicht nur Freiheit von etwas, sondern immer auch Freiheit zu etwas. Mit Gott, bekennt Klepper auf den Spuren der Bibel, bin ich frei von allen möglichen, die Anspruch auf mich erheben wollen. Mit Gott bin ich vor allem aber auch frei, zu gestalten, zu wirken, etwas zu machen. Wenn ich von Gottes Wort herkomme und mit Gottes Wort daherkomme, bin ich auf der richtigen Spur.

Klepper selbst tat sich mit dem Wirken und Gestalten nicht leicht. Er war zwar einer der Pioniere beim Rundfunk gewesen, hatte sich dieses brandneue Medium erschlossen und viele Menschen erreicht. Und trotzdem war er eher ein zurückhaltender Mensch, fühlte sich unsicher, wenn es darum ging, politische Vorgänge zu beurteilen, empfand sich als Dilettant in den großen gesellschaftlichen Veränderungen, unterlegen, eher als Opfer. Sein christliches Gewissen zu wandeln in eine gemeinschaftliche Ethik, in eine Weisung für eine Gemeinde, für seine Gedanken eine politische Form zu finden, das war nicht seine Sache. So spricht auch in den meisten seiner Lieder ein „Ich", nicht ein „Wir".

Die politische Situation in den dreißiger Jahren, die Macht der Nationalsozialisten, ihre Bereitschaft zu Gewalt und Brutalität hat er immer wieder unterschätzt. So sind am Ende tatsächlich seine Bedränger stärker gewesen. Am Ende hatte er seine Familie nicht schützen können vor Drangsalierung, vor Verfolgung und Deportation. Doch auch für den Tod, in den er sich mit der Frau und der jüngeren Tochter vor dem Drohenden flüchtete, galt für ihn am Ende: Gott löst mich aus den Banden, Gott mach mich ihm genehm.

 

452, 4+5

 

In seinem Theologiestudium hat Klepper viel über Luther gearbeitet. Den hatte man zu dieser Zeit gerade wieder neu entdeckt, wollte ihn neu verstehen. Und all die Gedanken, dass Gott uns gerecht macht, also richtig und ganz und liebenswert, weil wir selbst bei allem Bemühen es gerade nicht sind, sondern angewiesen darauf, dass Gott uns solches gibt; die Gedanken, dass Gott sich einlässt auf einen Wechsel, der für uns Menschen nur fröhlich sein kann, befreiend, erlösend, dass Gott sich selbst die Arbeit der Gerechtigkeit und Rechtfertigung auflastet und uns solche schenkt, dass sich der Herr zum Knecht macht und seine Diener zur Würde erhebt, dass er uns zukommen lässt, was wir doch gar nicht verdient haben und es doch erhalten, gratis, ganz wörtlich: aus Gnaden, umsonst, ohne dafür einstehen zu können - das alles steht für Klepper im Hintergrund, um seinen Tag mit seinem Lied und Gottes Hilfe fröhlich zu beginnen und uns mit hinein zu nehmen in solche Fröhlichkeit. Amen.

 



Pfarrerin Kira Busch-Wagner
Ettlingen (Baden
E-Mail: Kira.Busch-Wagner@kbz.ekiba.de

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