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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Monatliche Liedpredigten zur Lutherdekade, 2012

, verfasst von Siegfried Krückeberg

 

Predigt über das Lied: "Die Nacht ist vorgedrungen" EG 16

 

Trost im Advent

Liebe Gemeinde,

Das erste Mal Weihnachten feiern ohne ihn. Ohne unseren Vater und Schwiegervater. „Wie soll das gehen?" haben wir uns gefragt. Ob wir überhaupt einen Baum aufstellen können? Den hat er immer so geliebt! Und können wir am Heiligen Abend zusammen singen? Wahrscheinlich nicht. Keinen einzigen Ton werden wir herausbringen, sondern eher weinen. Trauer und Schmerz über den Verlust sind einfach noch zu stark.

So kann es Menschen gehen, die im Laufe dieses Jahres einen lieben Verwandten oder Freund verloren haben. Für sie scheint die allgemeine Advents- und Weihnachtsstimmung nicht zu passen zu ihren Gefühlen. Sonst haben sie sich auf den Advent gefreut. Mit Weihnachtsmarkt, illuminierten Buden, Lebkuchen, Glühwein und gebrannten Mandeln, Plätzchen backen und flackernden Kerzen überall. Aber in diesem Jahr ist es anders. Da sucht man nicht den Rummel, sondern Ruhe und Besinnung, eher die leisen Töne. Nicht die vielen Lieder, die jetzt überall gespielt werden, sie sind zu aufgedreht und fröhlich.

Ganz anders dieses Lied: „Die Nacht ist vorgedrungen". Es klingt so. (Der Organist spielt nur die Melodie.) Melancholisch, fast traurig beginnt die Melodie, sozusagen in Moll, aber dann ändert sich die Stimmung. Sie wird hoffnungsvoller, positiver. So wie es ist, wenn man jemandem von seinen Sorgen und Ängsten erzählt, und im Laufe des Gesprächs fühlt man sich ein bisschen besser. Weil der andere zuhören kann, einen versteht und vielleicht sogar in den Arm nimmt. Man fühlt sich getragen und bekommt neue Kraft. Und nun der Text dazu. Die erste Strophe.

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

Ich stelle mir vor: da hat jemand die ganze Nacht wach gelegen, ist manchmal sogar aufgestanden und durchs Haus oder die Wohnung gewandert. Konnte einfach nicht schlafen. Vielleicht aus Trauer, vielleicht weil er körperliche Schmerzen hat, oder aus Angst davor, wie es in seinem Leben weitergeht. Aber eine Stimme sagt ihm: „Auch wenn du jetzt verzweifelt bist, es verändert sich etwas, die Nacht wird vergehen, der Tag wird kommen. Es wird wieder hell werden in deinem Leben, und vor allem in dir selbst. Warum? Weil es etwas gibt, was dich durch Nacht und Dunkelheit begleitet. So wie der Morgenstern, der heller ist als alle anderen Sterne." Und wer ist dieser Stern, wer ist dieses Licht, wer ist dieser Begleiter? Das Lied sagt: Es ist Gott selbst. Die zweite Strophe:

Dem alle Engel dienen
wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen
zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.

„Wenn er dem Kinde glaubt." Ja, das muss man erst mal glauben, dass Gott so ist, wie er hier beschrieben wird! Gar nicht, wie ich ihn mir als Kind vorgestellt habe, allmächtig und hoch oben im Himmel auf einem Thron, erreichbar nur für die Engel. „Nein", sagt das Lied, „Gott fühlt sich jetzt genauso wie du. Er ist hilflos wie ein Kind, angewiesen auf Schutz und Fürsorge. Und er kann und will dir auch nicht sagen, wo es jetzt lang geht, sondern er steht dir einfach nur bei, wie ein Diener. Er ist da. Er will dir auch nicht ins Gewissen reden und dich zur Rede stellen für das, was du vielleicht falsch gemacht hast. Was du vielleicht versäumt hast und was du dir jetzt selber vorwirfst: Hätte ich lieber nicht ... oder: Hätte ich doch noch ... Nein, Gott will, dass du aufrecht gehst. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber wenn du es möchtest, dann bist du frei von aller Schuld. Dafür steht Gott ein. Und das kam so."

Dann beginnt das Lied, die Geschichte vom Kind im Stall zu erzählen. So, dass wir sie mit unserem inneren Auge sehen können. Und es ist, als wären wir mitten im Geschehen. Zuerst bei den Hirten auf dem Feld, die ihre Schafe hüten. Wie sie plötzlich merken, dass es heller wird um sie herum, und wie sie angesprochen werden. Die dritte Strophe.

Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah.

„Die Nacht ist schon im Schwinden." Es ist gar nicht mehr so dunkel - um uns herum und in unserem Herzen. Es wird langsam hell. Und das liegt daran, dass uns jemand ansieht, uns wahrnimmt. Das tut gut. Wenn jemand unsere Trauer fühlt und die richtigen Worte findet. Oder wenn uns jemand anspricht auf unser schlechtes Gewissen. Einfühlsam, ohne Vorwürfe, und sagt: „Ja, da hast du vielleicht einen Fehler gemacht. Aber daran brauchst du nicht zu verzweifeln. Ich stehe zu dir. Und wenn du willst, geh ich mit dir zu den dunkelsten Ecken deiner Seele. Die du sonst meidest, wo du nicht hingucken willst." Denn da ist Gott, im dunklen und dreckigen Stall.

Begleitet werden auf einem schwierigen Stück Weg. Wer diese Erfahrung macht, der fühlt sich nicht mehr so niedergedrückt, sondern er kann aufblicken, vielleicht sogar aufbrechen und losgehen. Aber wohin? Vielleicht endlich raus aus der Trauer und hinein in eine fröhlichere Welt! „Na ja", sagt das Lied, „so schnell geht es nicht." Die vierte Strophe.

Noch manche Nacht wird fallen
Auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
Kam euch die Rettung her.

„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld." Wie realistisch! Wer trauert, der weiß: Mal fühlst du dich etwas besser und denkst, du hast das Schlimmste hinter dir, und dann plötzlich, ausgelöst durch ein Wort oder ein Bild, kommt die schmerzhafte Erinnerung wieder zurück. Ähnlich ist es mit Schuld. Da habe ich mich entschuldigt und mir vorgenommen, in Zukunft alles besser zu machen, und dann schaffe ich es wieder nicht. Auf den hellen Tag folgt die Nacht. Aber - da ist der Stern. Er erhellt nicht nur die Dunkelheit. Und er weist nicht nur den Weg, er geht mit. So wie die Israeliten das auf ihrem Weg durch die Wüste erfahren haben. Dass Gott bei ihnen war. So wie viele Menschen das erleben, wenn sie ganz unten sind.

Zu diesen Menschen gehört auch der Mann, der diese Zeilen gedichtet hat: Jochen Klepper. Im Dezember 1937 hat er dieses Lied geschrieben, viereinhalb Jahre nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Klepper war verheiratet mit einer verwitweten Jüdin. Deshalb bekam er quasi Berufsverbot, konnte nicht als Journalist arbeiten und Nichts mehr veröffentlichen. Und ich vermute, er hat sich oft die Frage gestellt: Wo ist jetzt Gott? Die fünfte Strophe.

Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.

„Wer glaubt, kommt aus dem Gericht." So endet das Lied. Und das zeigt, worauf es Klepper letztlich ankam: dass wir freigesprochen werden von allem, was wir in unserem Leben falsch gemacht haben und noch falsch machen: wenn wir schlecht über andere reden, undankbar sind, zornig und eifersüchtig. Wenn wir nur an uns denken und mehr gelten wollen als andere. Wenn wir neidisch sind und uns freuen, dass andere auch mal den Schaden haben. Von all dem und noch viel mehr werden wir frei gesprochen, von aller Schuld, die uns letztlich runterzieht. Und wir werden befreit von der Angst, bestraft zu werden. Weil Gott die Strafe quasi selbst auf sich genommen hat, in seinem eigenen Sohn. Er erfährt es am eigenen Leib: Ungerechtigkeit und Leid, Ohnmacht, Trauer und Schmerz. Er wohnt in der Dunkelheit und nimmt uns den Schrecken davor. Mit seinem hohen Einsatz zeigt er uns wie weit wir uns von ihm entfernt haben und tut uns damit gleichzeitig unendlich gut. Davon können wir singen und damit können wir auch anderen Mut machen: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern."

Amen.

 



PD Pfarrer Dr. Siegfried Krückeberg
60318 Frankfurt am Main
E-Mail: medio.ffm@ekkw.de

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