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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Psalm 31,10-15 , verfasst von Uwe Vetter

 
 
 
 
Herrschaftszeiten

Angstgebet eines Säufers

________________________________________

Psalm 31 : 10-15 (Lutherbibel)

(10) HERR, sei mir gnädig, denn mir ist angst!
Mein Auge ist trübe geworden vor Gram,
matt meine Seele und mein Leib.
(11) Denn mein Leben ist hingeschwunden in Kummer,
und meine Jahre in Seufzen.
Meine Kraft ist verfallen durch meine Missetat,
und meine Gebeine sind verschmachtet.
(12) Vor allen meinen Bedrängern bin ich ein Spott geworden,
eine Last meinen Nachbarn
und ein Schrecken meinen Bekannten.
Die mich sehen, fliehen vor mir.
(13) Ich bin vergessen in ihrem Herzen wie ein Toter;
Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
(14) Denn ich höre, wie viele über mich lästern:
„Schrecken ist um und um!"
Sie halten Rat miteinander über mich
und trachten danach, mir das Leben zu nehmen.
(15) Ich aber, HERR, hoffe auf Dich und spreche:
„Du bist mein Gott!
Meine Zeit steht in Deinen Händen,
errette mich..."

 

(wörtlichere Übertragung in Anlehnung an die Interlinearübersetzung)

Begnade mich, HERR, denn mir ist angst!
Es wurde dunkel in Gram mein Auge, meine Seele und mein Leib.
Denn in Kummer schwanden
meine Leben
und meine Jahre im Seufzen,
es verging (strauchelte) durch mein Vergehen (Missetat) meine Kraft,
und meine Gebeine
(wurden dunkel) zehrten aus.
Von allen meinen Bedrängern wurde ich zum Schimpf,
für meine Nachbarn insbesondere,
und ein Schrecken für meine Bekannten.
Die mich draußen sehen, flohen vor mir.
Ich ward vergessen wie ein Toter, den man aus dem Herzen verliert, ich bin geworden wie ein zerbrochener Krug.
Ja, ich hörte sie, die Verleumdung
(wenn viele lästerten):
>Das Grauen geht um!<
Ihr Beratschlagen gegen mich nimmt zu,
nach meiner Seele trachteten sie.
Doch ich, auf Dich habe ich vertraut, HERR,
Ich habe gesagt : Eloháj, mein Gott bist
DU.
In Deiner Hand
sind/warten meine Zeiten.
Mach mich entrinnen....!

 

 

I


Dieser Psalm hat ein Gesicht. Der Psalm hat ein Gesicht. Für mich hat er das Gesicht eines ehemaligen Schulkameraden, genauer gesagt : eines Menschen, von dem kaum noch etwas übrig war. Gebeugt, kraftlos und zittrig, mit einem kümmerlichen Restbestand an Zähnen, zur besten Arbeitszeit im fleckigen Jogginganzug daheim, umgeben von ungespültem Geschirr, Zeitungsstapeln, Essensresten und überquellendem Aschenbecher. Die Haare unfrisiert, und morgens, zur zweiten Frühstückszeit, eine halbvolle Flasche Wein auf dem Tisch. Ich stehe in der Tür, und er starrt mich an, dann so etwas wie Wiedererkennen, dann Ärger : Was gaffst du so! Dann Verlegenheit : Sieh dich bloß nicht um! Dann Kapitulation: Ja, sieh dir ruhig an, was aus mir geworden ist!

Es wurde dunkel in Gram mein Auge, meine Seele und mein Leib.
Denn in Kummer schwanden
meine Lebem
und meine Jahre im Seufzen,
es verging meine Kraft...

 

HERR, sei mir gnädig, wer ist das ?! Es dauert eine ganze Weile, bis die Erinnerung wieder einsetzt. Dieser war zur Schulzeit einer von den richtig Begnadeten, einer von den Blitzgescheiten in der Jahrgangsstufe. Einer, denen nichts richtig schwer fiel. Witzig, zungenfertig, lebenslustig, mit stattlichem Freundeskreis, ein Kenner der Schriften Paul Sartres und eine auffallend attraktive Erscheinung. Was ist passiert, seitdem? Ich wüsste keinen Grund und keinen Anlass, sein Leben in Alkohol zu versenken. Zu Anfang war alles im grünen Bereich und in Ordnung und in kultivierten Bahnen. Samstagabends traf man sich in einer angesagten Schüler-Altbier-Pinte, und das Geld war disziplinierend knapp. Karnevalsfeiern konnten auch mal feucht fröhlich geraten. Aber Sturz betrunken zu sein war peinlich, das machte einen zur Lachnummer, vom Elend am Morgen danach ganz abgesehen. Nein, es gab keinen Grund zur Unruhe, zuerst. Kein Schicksalsschlag hatte ihn getroffen, kein Leid war zu betäuben. Die Flasche Wein am Abend war kein „Sanitäter in der Not", sie war „kein Fallschirm und kein Rettungsboot"1. Sie war zuerst einfach ein gemütlicher Begleiter, ein launiger Kumpel, ein auflockernder Spaß, für eine Mark achtundneunzig die Literflasche Liebfraumilch von Albrecht (wie ALDI damals noch hieß). Cheers.


Irgendwann allerdings wurde dieser süße Flaschengeist ein Muss. Ohne Wein keine Stimmung. Die Frage, wer was zu trinken besorgen kann, geriet zunehmend nervös. Irgendwann kreiste die Bottle nicht, sie blieb an seinem Platz. Die Welt wurde enger, als es die Runde der Freunde nicht mehr brauchte, als er sich zur Not auch allein traf mit seinem Freund, der täglichen Flasche. Auch der geistige Themenkreis wurde enger. Aufgekratzter Partytalk und weinseliges Geblödel sind ja nur begrenzt zu ertragen. „Herrscher des Himmels, erhöret das Lallen" - irgendwann hatten die ´normalen` Leute genug2. Thekenbekanntschaften und Gewohnheitszecher nahmen ihre Plätze ein. Nach drei Schoppen ist jeder eine nette Gesellschaft. Blutalkohol-Brüderschaft versteht sich und gibt einen aus und hält zusammen und stützt einander auf Heimwegen. Irgendwann wusste er, was man gegen den Kater trinken muss, und was bei Stress Entspannung bewirkt, und bei Trübsinn als Aufheller, als Mutmacher gegen Angst. Im Keller wurde es eng, da stapelte sich das Leergut (weil die Nachbarn reden, wenn sie zu viele Flaschen im Müll entdecken). Auch im Studium wurds eng, als die nüchternen Lernphasen schrumpften. Als es ans Examen ging, setzte massive Prüfungsangst ein, Versagenspanik ... sei mir gnädig, denn mir ist angst! Wenn die Angst kam, stieg man aus den Klausuren aus und besorgte sich ein Attest und für daheim ein Prost zum Trost. Schwerer fiel das Lügen am Telefon, wenn die Eltern fragten, wie es ging. Eines Tages war es dann vorbei, das Studium, vorbei, ohne Abschluss.


II


Das etwa war der Zeitpunkt, wo er es wohl selber merkte: Mir entgleitet mein Leben, mein Leben schwindet dahin ... meine Kraft vergeht... Es war nicht gerade leicht, einen Job zu finden, erst recht nicht ohne Abschluss. Noch schwieriger sich irgendwo vorzustellen ohne Glauben an sich selbst. Und so begann ein langer grausamer Abstieg : Zweitausbildung und Abbruch, Anstellunge und Entlassung, Gelegenheitsjobs. Irgendwann brauchte er auch morgens schon ein Gläschen-fürs-innere-Gleichgewicht und noch eins gegen die Angst, es könnte einer bemerken. Er erschien zur Arbeit mit wehender Fahne. Abmahnung, Entziehungskur. Rückfall. „O.k., das wars".


Herbert Grönemeyer hat mit seinem Klassiker „Alkohol" dieses a-rhythmische Lebensgefühl eindrücklich und mit Kennerblick ins Bewusstsein gesungen :

Wir haben wieder die Nacht zum Tag gemacht / ich nehm mein Frühstück abends um acht / Gedanken fließen zäh wie Kaugummi / mein Kopf ist schwer wie Blei, mir zittern die Knie //
Gelallte Schwüre in rot-blauem Licht / vierzigprozentiges Gleichgewicht / graue Zellen in weicher Explosion / Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangsvisionen. // Was ist hier los was ist passiert ? / Ich hab bloß meine Nerven massiert //
Alkohol ist dein Sanitäter in der Not /
Alkohol ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot /
Alkohol ist das Drahtseil auf dem du stehst /
Alkohol ist das Schiff auf dem du untergehst //
Alkohol, Alkohol, Alkohol.


Da hockt er nun, mit dem Rücken zur Wand, ausgezehrt, nicht wieder zu erkennen, mit einem Blick wie ein verängstigtes Tier in der Falle:
(10) HERR, sei mir gnädig, denn mir ist angst!
... Denn mein Leben ist hingeschwunden in Kummer,
und meine Jahre in Seufzen.
Meine Kraft ist geschwunden durch mein Vergehen ...

Manchmal werden Bibelverse realer als einem lieb ist. Jede Zeile passt:

° Vor allen meinen Bedrängern bin ich ein Spott geworden, alte Freunde bedrängen mich, meinen, ich sollte mich mal zusammen reißen, sie reißen launige Witze auf meine Kosten (Bei dem ist alle Tage ´red nose day`).

° Ja, ich höre die Verleumdung hinter meinem Rücken, wenn sie lästern: „Das Grauen geht um!"
° Eine Last
bin ich meinen Nachbarn, sie haben sich alle beim Vermieter über mich beschwert.
° Sie halten Rat miteinander über mich, wie sie mich aus dem Haus kriegen.
° Für meine Familie bin ich ein Schrecken, ein Alptraum meinen Bekannten.
° Die mich draußen sehen, fliehen vor mir
, sie wechseln auf die andre Straßenseite.
° Ich bin vergessen in ihrem Herzen wie ein Toter, manchmal wechsle ich die ganze Woche kein Wort.
° Ich bin geworden wie ein zerbrochener Krug, untauglich, für nichts mehr gut.

Psalm 31 hat (in diesem Bildausschnitt, Verse 10-15) für mich ein Trinkergesicht, aus dem die Angst spricht, Angst, die begreift, was los ist, Angst, die merkt, dass nichts mehr geht. HERR, sei mir gnädig, denn mir ist angst!


III


Wenn Sie fragen: Wo bleibt das Evangelium? Wie geht es jetzt weiter? dann achten Sie bitte zuerst darauf, wie es nicht weiter geht. - Der Psalm sagt nicht: Die andern müssen! Alle andern müssen jetzt alles stehn und liegen lassen und die Welt in ein Sanatorium verwandeln, ohne Versuchungen. Alle für einen! - Nein, so geht es im Psalm nicht weiter, und so wäre es auch nicht gerecht. - Auch Gott kommt hier nicht als gelber ADAC-Pannenhelfer daher: Sie haben ein Problem? Wir haben die Lösung. - Hören Sie bitte genau hin, wo sich etwas tut. Das Evangelium rührt sich in diesem Kranken selbst. Ihm kommt ein Gedanke. Bei ihm setzt Erinnerung ein, wird zum Aufstand, zum Lebenswillen.

Doch ich, auf Dich hab ich vertraut3, HERR,
Ich habe gesagt: Eloháj, mein Gott bist
DU.
In Deiner Hand
- sind/warten - meine Zeiten.


In Deiner Hand - sind/warten - meine Zeiten.

... meine Zeiten.- eine seltsame Ausdrucksweise, finden Sie nicht? Meine Zeiten - nach unserm Sprachgebrauch gibt es eine Lebenszeit, eine Spanne, in der sich alles, was wir erleben, sammelt und stapelt wie in einem Lagerhaus. Kindheit, Jugend, Berufleben und Ruhestand. Wir haben immer alles dabei, was gewesen ist: die erhebenden Erlebnisse und die erdrückenden Momente, die Pokale und Siegerurkunden genauso wie die Scherben, Trümmer und Versager - alles wie Kraut und Rüben. Lebenszeit erscheint wie ein Quartier ohne Müllabfuhr und Sperrmüllservice, aus dem es kein Entkommen gibt. Morgen ist die Folge von gestern. Was war, das ist und bleibt, vergebungslos, unentrinnbar, ohne Gnade.


Und nun schauen Sie, wie anders der Psalm es uns predigt. Das Leben hat Zellwände, es hat Zeiten, es ist nicht alles eins!

In Deiner Hand, mein Gott - sind/warten - meine Zeiten.

Zeit ist unterteilt. Wie es Jahreszeiten gibt, Alltag und Festzeiten, so hat unser Leben lauter „Fristen"4. Zwischen den Lebensabschnitten sind Türen, Schleusen, Schotts. Wenn wir da durchschlüpfen, lässt der Himmel nicht alles passieren. In Deiner Hand - sind/warten - meine Zeiten, sagt der Psalmbeter. Die Leben, die hinter mir liegen, sind in Kummer dahin geschwunden. Es waren Zeiten, da war ich nicht Herr meines Lebens - durch mein Vergehen/Missetat. Hinter mir liegen verdämmerte Zeiten. - Aber jetzt, mein Gott, betrete ich eine neue Zeit. Mach mich entrinnen....! Lass mich durch eine Vergebungsschleuse gehen. Mach die Tür hinter mir zu, wie eine Brandabschnittstür. In Deiner Hand warten meine Zeiten, die Leben, die mir noch bleiben: Herrschaftszeiten. Ich will endlich wieder Herr meines Lebens sein!


 

Sehen Sie, liebe Gemeinde, auf dieser Schwelle lauert das Evangelium, sprungbereit, bereit, beim kleinsten Lebenszeichen helfend beizuspringen. In dem Moment, wo der Hunger nach Leben erwacht, durchschreiten wir eine Zeitenpforte, und Hilfe kommt entgegen und greift nach uns. So erzählt es der Psalm, so haben es viele Menschen erlebt. So verkünden sie es uns, gegen die Leidensgeschichten, die sich oft unter unsern Augen zutragen, und man denkt: da ist nichts zu machen. Mein Gott, in Deiner Hand warten meine Zeiten - darauf, dass ich sie betreten will. Erzählen Sie es weiter.

Amén

 



Pfarrer Dr. Uwe Vetter
40212 Düsseldorf
E-Mail: uwe.vetter@evdus.de

Bemerkung:
1 Kehrvers in Herbert Grönemeyers Song „Alkohol".

2 In Kölner Platt hat der BAP-Sänger Wolfgang Niedeggen diese Gesprächsform eindrücklich benannt, in einem der stimmungsvollsten Lieder, die es über das Elend der Alkoholkrankheit gibt :
Mit dem Rücken zur Wand, spaßend /
Und jede Nacht voll war ich /
Mein bisschen Verstand hassend / total von der Roll´ war ich ... /(was war ich erlöst, dass du mich nicht ausgelacht hast) für all den Stuss, der aus mir kam /
Für all den Laber, den ich gebracht hab´/ - noch immer hörenswert und anrührend!

3 Das hebräische Wort an dieser Stelle steht im Perfekt, ist aber in Luthers Übersetzung und bei Martin Bubers Verdeutschung mit der Gegenwartsform wiedergegeben, weil sie dieses Gottvertrauen in der Vergangenheit beginnend und fortdauernd bis in diesen Krisenmoment von Psalm 31 : 10-15 lesen. Das hat eine gewisse Logik, denn das Bekenntnis einer „Missetat" (Vers 11) ist nicht nur das Eingeständnis eines Fehlers, sondern setzt eine andauernde Beziehung voraus, die verletzt wurde. Andererseits geht damit verloren, dass wirklich eine Gottesfinsternis eingetreten sein könnte, die die Glaubensbeziehung für lange Zeit unterbrochen haben könnte. Ich bevorzuge, den Störfaktor, der in dieser Vergangenheitsform „ich vertraute/ich sprach" mitschwingt, stehen zu lassen. Im Beispielsfall liegt es ohnehin näher bei der Wahrheit.

4 So übersetzt Martin Buber das hebräische Wort „Et", Zeit, Zeitraum, Phase.


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