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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Psalm 39, verfasst von Dörte Gebhard

 

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

 

es ist Passionszeit. Als Predigttext hören wir nachher den 39. Psalm.
Es ist ein Psalm über die Angst.
Aber es ist mehr.
Es ist auch ein Psalm über den Anfang der Angst.
Wir stehen auch erst am Anfang der Passionszeit!
Aber der Psalm ist noch mehr.
Es ist auch ein Psalm über das Davor.
Er spricht schon über unsere Angst vor der Angst.

 

Ins Davor wagen sich unsere Seelen-Schritte meistens nicht, ja nicht einmal unsere Worte! Mit der Angst vor der Angst dünkt jeder sich allein, obwohl es nicht wahr ist ...

Aber der Psalm ist noch mehr!

Es ist auch ein Psalm über das Danach: über das künftige Ende der Angst.

Es ist ein Psalm davon, wie jede Angst bei Gott schon ‚aufgehoben‘ ist und einst aufgehoben wird.

Vom Aufgehobensein unserer Angst sollten wir also nachher ein Lied singen können! (Der Chor wird es uns zum guten Beispiel tun und ein Danklied singen.)

Ich lese den Psalm in der Übersetzung der Zürcher Bibel:

Lass mich erkennen, HERR, mein Ende

1 Für den Chormeister. Von Jedutun. Ein Psalm Davids.

2 Ich dachte: Ich will achthaben auf meine Wege,
dass ich nicht sündige mit meiner Zunge.
Ich will meinen Mund im Zaum halten,
solange der Frevler vor mir steht.

3 Und ich blieb stumm und schwieg,
blieb still, fern vom Glück.
Doch Schmerz erfasste mich,

4 mein Herz glühte in meiner Brust,
bei meinem Seufzen entbrannte ein Feuer.
Da sprach ich mit eigener Zunge:

5 Lass mich erkennen, HERR, mein Ende
und was das Mass meiner Tage ist.
Ich will erkennen, wie vergänglich ich bin.

6 Sieh, nur handbreit hast du meine Tage gemacht,
wie nichts ist meine Lebenszeit vor dir.
Nur ein Hauch ist der Mensch.
Sela

7 Nur als Schatten geht er einher,
um ein Nichts macht er Lärm, häuft zusammen
und weiss nicht, wer es einbringen wird.

8 Und nun, was habe ich zu hoffen, Herr?
Meine Hoffnung ist allein bei dir.

9 Errette mich von allen meinen Sünden
und mache mich nicht zum Spott des Toren.

10 Ich bin verstummt, will meinen Mund nicht auftun,
denn du hast es getan.

11 Nimm deine Plage weg von mir,
unter der Wucht deiner Hand vergehe ich.

12 Mit Strafen züchtigst du jeden für seine Schuld
und zerstörst wie die Motte, was ihm kostbar ist.
Nur ein Hauch ist der Mensch.
Sela

13 Höre mein Gebet, HERR,
und vernimm mein Schreien,
schweige nicht zu meinen Tränen.
Denn ein Fremder bin ich bei dir,
ein Beisasse, wie alle meine Vorfahren.

14 Blicke weg von mir, damit ich heiter werde,
bevor ich dahingehe und nicht mehr bin.

 

Liebe Gemeinde,

alle möglichen Ängste kommen in diesen wenigen Worten vor: vor dem Sterben und dem Tod, vor Spott und Hohn, vor Leid aller Art. Aber eine Angst fehlt: die lauteste, die Schreck- und Schreiangst, die in einem Moment entsteht und im nächsten - gottlob - vergeht, die rasend schnell über mich hereinbricht und mit ihrem Anlass untergeht. Es ist die Angst, die von den anderen ablenkt, die sich aufspielt und wichtig nimmt und doch letztlich auf die Länge der Zeit unbedeutend bleibt.

Aber alle anderen Ängste kommen vor: die leisen, die langen, diejenigen Ängste vor dem Ende bis ans Ende. Ängste, die bis zuletzt bleiben, kommen hervor. Sie werden erkannt und genannt und gebannt, mit Gottes Hilfe.

Das zuvor: Jede Angst und erscheint sie noch so peinlich klein, will zuerst überhaupt erkannt werden. Angst kann sich verkleiden in die Kleider der Überzeugung, dass alles immer schlimmer wird. Angst kann auch nichts anderes als Gegenwartsvergessenheit sein: wer vollauf mit Fürchten beschäftigt ist vor der einholenden Vergangenheit und vor der ungewissen Zukunft, der hat keine Zeit, im Jetzt zu leben und zu sein.

Aber ist eine Angst erkannt, sind es noch viele Seelenschritte, bis sie auch genannt wird. Davon kann schon der Psalmist ein Lied singen:

2 Ich dachte: Ich will achthaben auf meine Wege,
dass ich nicht sündige mit meiner Zunge.
Ich will meinen Mund im Zaum halten,
solange der Frevler vor mir steht.
3 Und ich blieb stumm und schwieg.

 

Alle langen, leisen Ängste lassen die Kehle und das Herz eng werden. Wie oft schon habe ich mir vorgenommen zu schweigen ...

... weil man mehr als einmal zu viel gesagt hat und doch eigentlich wusste: „Sage nicht alles, was du weisst, aber wisse immer, was du sagst!" Aber Worte sind wie Vögel, einmal freigelassen, fängt sie niemand mehr ein. Sie sind auf und davon oder bleiben nahe, doch uneinholbar.

Wie oft schon habe ich meinen Mund verschlossen ...

... weil ich zu oft eine blöde, demütigende, kleinmachende Antwort bekam auf eine große, kluge Frage, die ihre Antwort bis heute noch sucht: Guter Gott, warum lässt du deine Menschenkinder noch leiden? Wozu?

... weil ich zu oft missverstanden wurde, weil niemand sich Mühe gab, mir zuzuhören, weil alle schon Rat wussten, als ich noch gar nicht darum gebeten hatte.

... weil mein Vertrauen schon zu oft missbraucht wurde, weil ich mich einem Menschen anvertraut hatte, der das Verborgene nicht hüten konnte, der meine Angst ausnutzte gegen seine eigene Angst.

... weil ich an die Falschen geriet, an Neidische und Neugierige, an Menschen, die keine Angst zu kennen scheinen, die sich mit Sammeln und Zusammenraffen gegen die Angst zu schaffen machen.

 

Aber davon schweigt des Sängers Höflichkeit nicht, sondern gerade davon singt der Psalmist sein Lied, gefährlich genau:

7 Nur als Schatten geht der Mensch einher,

um ein Nichts macht er Lärm, häuft zusammen
und weiss nicht, wer es einbringen wird.

 

Jeder Angst muss man gefährlich nahe kommen, wenn ein Mensch sie bannen soll. Sich selbst muss man näher treten, denn die erste große Angst ist immer schon in uns und immer schon vor uns da. Angst kann ich immer nur vorfinden.

Doch Schmerz erfasste mich,
4 mein Herz glühte in meiner Brust,
bei meinem Seufzen entbrannte ein Feuer.

 

Ist das ein treffendes Bild? Angst lässt das Herz heiss werden, breitet sich als brennender Schmerz aus, versengt die Triebe der Hoffnung, legt Mut und Vertrauen in Schutt und - Asche. So weit, so nicht gut. Hinreichend bekannt, bislang aber nicht gebannt.

 

Genau jetzt nimmt alles eine überraschende Wende: Die Zunge, die zum Schweigen gebracht wurde, die aus Angst wie gelähmt war, die sich seither in vollkommener Trostlosigkeit - fern vom Glück - befindet ... diese gleiche Zunge kann doch noch sprechen, kann noch schreien, kann noch beten zu Gott:

 

Da sprach ich mit eigener Zunge:

5 Lass mich erkennen, HERR, mein Ende
und was das Mass meiner Tage ist.
Ich will erkennen, wie vergänglich ich bin.

6 Sieh, nur handbreit hast du meine Tage gemacht,
wie nichts ist meine Lebenszeit vor dir.
Nur ein Hauch ist der Mensch.
Sela

 

Hier findet die Angst ihre Grenze, auch ihr Ende!

Wenn ich meine Endlichkeit erkenne, kenne ich auch das Ende meiner Angst.

Das Maß meiner Tage ist auch die Grenze meiner Furcht.

Ich könnte erkennen, wie unbeständig meine Sorgen sind, wie vorübergehend meine Feigheit ist, wie vergänglich meine Verzweiflung ist.

Meine Tage sind eine Handbreit vor Gott, meine Mutlosigkeit ist auf keinen Fall breiter und größer.

Der Mensch ist nur ein Hauch, seine Furchtsamkeit aber genau genommen noch flüchtiger.

Unsere Angst ist jetzt schon aufgehoben bei Gott, bis sie aber einst aufgehoben wird von Gott, ist Geduld vonnöten, Geduld beim Klagen und Weinen, beim Beten wie es im Psalm gelehrt wird:

 

Höre mein Gebet, HERR, und vernimm mein Schreien,schweige nicht zu meinen Tränen.

Zuletzt erzähle ich eine jüdische Geschichte, die aber auch uns Christen gilt. Sie ermutigt sehr, auf das kommende Ende der Angst zu vertrauen, aber vor allem: bis dahin Geduld zu haben mit jeder Angst, die uns plagt. Es ist wohlgemerkt eine Geschichte für den Anfang der Passionszeit.

 Ein jüdischer Rabbi sass einst beim Mittagsmahl und seufzte und aß nichts. Seine Schwester fragte mehrmals, warum er solchen Kummer habe. „Hast du nicht auch vernommen, wie schlimm es in der Welt zugeht?" fragte er. „Mich dünkt, dass all das schon zu den Wehen der Messiaszeit gehören könnte", antwortete da seine Schwester. Der kluge Rabbi besann sich. „Wohl, wohl", sagte er dann, „aber wenn die Not größer und größer wird, dann schreit Israel zu Gott, es könne sie nicht länger ertragen, und der barmherzige Gott hört darauf, er lindert das Leid und - verschiebt die Erlösung!"1

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft und unsere Angst, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne, Amen.

 



Pfarrerin und PD, Dr. Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken/Aargau
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

Zusätzliche Medien:
1 Frei nacherzählt nach Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, 11. Aufl., Zürich 1990, S. 516.


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