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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Psalm 39, verfasst von Thomas Ehgart

 

"Ich hatte mir vorgenommen, mich richtig zu verhalten"

 

(Ps 39, 2-4, NGÜ/BasB)

Ich hatte mir vorgenommen, mich richtig zu verhalten
und mich nicht durch Worte zu versündigen,
die rasch über die Lippen kommen.

In der Nähe gottloser Menschen wollte ich
meine Zunge im Zaum halten.
So schwieg ich denn und blieb stumm -
ohne dass es viel genützt hätte.
Denn in mir bohrte weiter der Schmerz. 

Mein Herz brannte in meiner Brust.
Schon mein Seufzen setzte es in Flammen.
Da löste sich mir die Zunge und es brach aus mir heraus:

       „Halt´s Maul, Faschist! Halt dein dreckiges Maul!
Macht euch raus aus diesem Bus! Und lasst den Typen endlich in Ruhe!
Und lasst euch sagen: Keiner, keiner auf der Welt gibt euch das Recht,
allen hier Angst zu machen."

 

Hätte ich gerne gesagt...

Habe ich aber nicht.

 

Sondern ich schwieg und blieb stumm, wie alle anderen,
die da hinter mir und vor mir waren. Wir saßen da und schauten zu,
wie gebannt, wie die Ölgötzen.

 

Und dabei waren das nur fünf Leute. Nicht zehn oder zwanzig, nein, fünf.
Jung, laut und breit und von dem Moment an, als die sich entschieden, ihren Treffpunkt an der Bushaltestelle zu verlassen und in unseren Bus, der da zufällig gerade hielt, einzusteigen, beherrschten sie den Raum. Beherrschten uns. Am helllichten Tag, Kinder im Bus, Omas... Marburg, Unistadt, nicht irgendein NPD-Dorf.

Und ich sage ihnen - und Sie merken es ja auch - ich kann Ihnen das erzählen, als ob es letzte Woche passiert wäre, obwohl die Geschichte selber jetzt schon über zehn Jahre her ist. Aber ich weiß es noch wie gestern und werde es nicht vergessen, denn damals brannte mein Herz. Vom Zorn entzündet brannte es wie Feuer und raste und schlug mir bis zum Hals. Blut im Kopf und Watte in den Ohren und alles in mir schrie. Schrie auf und doch... bekam ich nicht ein Wort über die Lippen! Und das natürlich nicht, weil ich mich vor der Sündhaftigkeit meiner Worte fürchtete, sondern nur, weil ich Angst hatte: simple, blöde Angst.

 

Da löste sich mir die Zunge und es brach aus mir heraus? Nein, nichts ist aus mir herausgebrochen, nur stummes Geschrei. Und so geschah es, dass ich mich nicht mit Worten versündigte, sondern mit meinem Schweigen. Ja, mein Schweigen machte mich zum Sünder. Und dabei hatte ich mir doch vorgenommen, mich gerade in dieser Situation immer richtig zu verhalten.

 

(Ps 39, 5-6, NGÜ)

Lass mich begreifen, Herr, dass mein Leben begrenzt ist
und meine Erdentage kurz bemessen sind! Lass mich erkennen
,
wie vergänglich ich bin! Meine Lebenszeit gleicht in deinen Augen
nur einer Handbreite, meine Zeit auf dieser Erde ist vor dir wie ein Nichts.
Der Mensch ist nur ein Hauch, selbst wenn er noch so kraftvoll dazustehen scheint.

 

Ich bin damals weggerannt aus diesem Bus. Nicht wie ein Hauch, sondern eher wie der Wind. Ich hab nicht nach rechts und nicht nach links geschaut, sondern bin einfach nur gerannt. Denn spätestens in dem Moment, wo sich die Aufmerksamkeit der fünf auf mich richtete, wurde meine Angst so übermächtig, dass ich nur noch rausspringen und davonlaufen konnte. Leider bin ich so schnell gelaufen, dass ich dann gegen einen Maschendrahtzaun gerannt bin und mich dabei überschlagen und mir eine Rippe gebrochen habe.

 

Herr, lass mich begreifen, wie vergänglich ich bin, ein Hauch, ein Nichts. Jede Böe kann mich wegblasen, und dabei meinte ich doch, so kraftvoll dazustehen. Lass mich erkennen, Herr, wie sehr mein Leben begrenzt ist.

 

Wie selten im Leben habe ich in den darauffolgenden Wochen das Gefühl gehabt, immer wieder meine eigene Begrenztheit vor Augen geführt zu bekommen. Ich meine, von so einer gebrochenen Rippe hat man ja lange was, immer wenn man die falsche Bewegung macht. Aber letztlich war es damals natürlich nicht nur der gebrochene Knochen, sondern vor allem mein gebrochenes Ego, das so weh tat. Kein Held und keine Heldentaten, sondern gelaufen wie ein Hase. Komisch... im Fernsehen geht es irgendwie immer nur um die Schreihälse oder die Schreibtischtäter und um die, die sich beiden mutig entgegen stellen. Aber nie geht´s um uns, um die Feiglinge, wie dich und mich.

 

(Ps 39, 7-9, NGÜ)

Wie ein Schatten geht der Mensch über die Erde, um sinnlose Dinge machen die Leute viel Lärm. Sie häufen Besitz auf, aber letztendlich weiß niemand, für wen.

Worauf soll ich denn nun meine Hoffnung setzen, Herr? Mein Warten und Hoffen
gilt allein dir! Befreie mich von all meiner Schuld, gib mich nicht dem Gespött von Dummköpfen preis! 

 

Viel Lärm um sinnlose Dinge? Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen Sie heute Morgen hier sitzen und was diese, meine Geschichte von eben bei Ihnen ausgelöst hat. Ob sie denken: „O, jetzt geht´s aber los", oder ob sie gerade das Gefühl haben: „Was soll das denn? Ich wollte einen schönen Gottesdienst haben und jetzt macht der so viel Lärm um nichts. Das Thema nervt mich. Kann er doch für sich behalten."

 

Stimmt, kann ich für mich behalten. Und ob ich das Thema Faschismus nehme und diese Bus-Szene, oder irgendeine anderes Thema und eine andere Geschichte, das - und das wird sie vielleicht überraschen - ist tatsächlich egal. Was aber nicht egal ist, und worauf ich bestehe, ist: Wenn wir ernsthaft an den Psalm 39 heran wollen, dann müssen wir an unsere eigenen Erinnerungen. Wenn wir die die Angst und die Not, die dieser Psalm atmet, ernsthaft begreifen wollen, müssen wir an unsere eigenen Ängste und Nöte. Und das heißt, an eigene echte Erinnerungen.

 

Wir müssen uns erinnern, wie es ist, nur noch ein Hauch zu sein, ein Nichts, das über die Erde wandelt.
Müssen uns erinnern, wie sie sich anfühlt, die „Angst vor dem Gespött der Dummköpfe", die alle mit den Fingern auf einen zeigen, weil man sich im Kindergarten wieder in die Hose gemacht hat.

Erinnern, wie es ist, wenn der Vater wieder spät nachts betrunken nach Hause kommt. Angst erinnern, die Angst, die uns stumm macht und still... im Bus oder in der U-Bahn.

 

(Ps 39, 10-13a, NGÜ)

Ich will still sein...
und mache meinen Mund nicht mehr auf.
Denn von dir kommt alles, was geschehen ist. 

Nun nimm das Leid, das du mir auferlegt hast,
von mir, damit ich unter deiner strafenden Hand nicht vergehe. 

Wenn du einen Menschen
wegen seiner Schuld bestrafst,
lässt du seine Schönheit vergehen
wie ein Kleid,
das die Motten zerfressen.

Ja, nichts weiter als ein Hauch
ist jeder Mensch.
Höre auf mein Gebet, Herr,
und vernimm mein Schreien!
Schweige nicht zu meinen Tränen!

 

[Video in der Predigt zum Fall Dominik Brunner,
http://www.youtube.com/watch?v=6RXCC2sMMF8
Min 0:59 - 1:39, bis zum Wort „... Erklärungsversuche:", dann cut!]

 

Nein, nein... bitte nicht! Bitte keine Erklärungsversuche!

Ich weiß, wir wollen das immer alles erklären, manche mit Gott und manche ohne.

Weil wir das nicht aushalten, das Sinnlose und Unglückseelige, die Lebensläufe ohne Happy End.

 

Und klar, das geht uns allen so und ich würde Ihnen jetzt gerne noch was Schönes zum Schluss erzählen, was Ermutigendes.. Aber ich finde das unehrlich.

Denn meine Erfahrung ist, dass am Ende eben ganz oft die Tränen bleiben, ein Meer voller Tränen. Und Psalm 39 verteilt keine Taschentücher und keine Trostpflaster, sondern bleibt bis zum Schluss ganz schrecklich offen.

 

Sicher: es gibt hier und anderswo Mut und Schönheit und Liebe, aber die gewinnen nicht immer automatisch. Ganz oft gewinnen das Schreien, die Angst und das Versagen. Und das einzige was uns dann bleibt, ist das Ausharren. Keine Schoko-Eier am Sonntag Reminiszere, sondern ausharren, warten und beten:

 

(Ps 39, 13b-14, NGÜ)

Ich bin ja nur ein Gast bei dir,
ein Fremder wie alle meine Vorfahren.
Blicke nicht länger im Zorn auf mich,
damit ich wieder froh werde,
bevor ich
diese Erde verlassen muss
und nicht mehr bin.

 

Amen.



Pfarrer Thomas Ehgart
37581 Bad Gandersheim
E-Mail: thomas.ehgart@lk-bs.de

Bemerkung:
NGÜ = "Neue Genfer Übersetzung - Neues Testament mit Psalmen"
BasB = "BasisBibel, das Neue Testament"


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