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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Psalm 39, 2-14, verfasst von Wolfgang Petrak

 

 

 

2 Ich sagte: Ich will auf meine Wege achten, /damit ich nicht sündige mit meiner Zunge. Ich lege meinem Mund einen Zaum an, / solange der Frevler vor mir steht. 3 So blieb ich stumm und still; /ich schwieg, vom Glück verlassen, / doch mein Schmerz war aufgerührt.4 Heiß wurde mir das Herz in der Brust, /bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer; / da musste ich reden:5 Herr, tu mir mein Ende kund und die Zahl meiner Tage! /Lass mich erkennen, wie sehr ich vergänglich bin! 6 Du machtest meine Tage nur eine Spanne lang, /meine Lebenszeit ist vor dir wie ein Nichts. / Ein Hauch nur ist jeder Mensch. [Sela]7 Nur wie ein Schatten geht der Mensch einher, /um ein Nichts macht er Lärm. / Er rafft zusammen und weiß nicht, wer es einheimst.8 Und nun, Herr, worauf soll ich hoffen? /Auf dich allein will ich harren.9 Entreiß mich allen, die mir Unrecht tun, /und überlass mich nicht dem Spott der Toren!10 Ich bin verstummt, ich tue den Mund nicht mehr auf. /Denn so hast du es gefügt.11 Nimm deine Plage weg von mir! /Unter der Wucht deiner Hand vergehe ich.12 Du strafst und züchtigst den Mann wegen seiner Schuld, /du zerstörst seine Anmut wie Motten das Kleid, / ein Hauch nur ist jeder Mensch. [Sela]13 Hör mein Gebet, Herr, vernimm mein Schreien, /schweig nicht zu meinen Tränen! Denn ich bin nur ein Gast bei dir, / ein Fremdling wie all meine Väter.14Wende dein strafendes Auge ab von mir, /sodass ich heiter blicken kann, / bevor ich dahinfahre und nicht mehr da bin

 

Liebe Gemeinde, wir haben gehört:

Unerhörtes, das widersprüchlich sich als Bitte Ausdruck verschafft und nichts anderes zu meinen scheint als: „Sieh Du doch endlich weg, damit es mir gut geht". Unausgesprochenes, das trotzdem sich in Worte kleidet, um das zum Schutz selbst aufgelegte Schweigen zu brechen: „Egal, wer Du bist, ich rede". Ungeheures, das sich hinter weisen Gedanken über das Sein und die Zeit des Menschen verbirgt und statt Beschaulichkeit oder auch tiefer Nachdenklichkeit nichts als Angst hinterlässt: Hinter allem diese alles übersteigende Macht, diese Hand, die mit Wucht zuschlägt: „Aus und vorbei". So lese, so höre ich diesen Psalm und spüre, dass ich mich ihm nicht nähern kann, vielleicht auch nicht nähern will. Aus Angst?

 

Angst will ja eigentlich schützen, indem sie sichere Räume schafft, also einengt. Will ich versuchen Angst zu überwinden, muss ich den Radius erweitern, mich trotz der möglichen Unsicherheiten dem nähern, das die Angst ausgelöst. Gelingen kann der Versuch, wenn ich die Grenzen, die die Worte darstellen, überwinde und mir vorstelle, was gewesen ist.

 

„Ich will auf meine Wege achten, /damit ich nicht sündige mit meiner Zunge. Ich lege meinem Mund einen Zaum an, / solange der Frevler vor mir steht" (Ps 39,2). Wer so was sagt, stelle ich mir vor, muss jemand sein, der glauben kann. Und der sich deshalb umso schärfer gegen einen anderen abgrenzt. Gegen den, der über ihm steht. Der der Frevler, der Gottlose ist. So einer muss Angst machen. Denn seine Worte sind nicht zum Aushalten, weil sie ihn, der unten ist, im Innersten treffen und verletzen, in dem, was ihm unbedingt wichtig ist und was ihn unbedingt angeht. Trotzdem will er den Mund halten? Er tut es ja auch nicht, sondern fährt fort mit dem Klagen und Bitten, gelobt, setzt Ziele der Zeit, um dann zurückzufallen, zu klagen, zu bitten und zu flehen. Letztlich hallen die Schreie eines Wehrlosen, der Tiefschlägen ausgesetzt ist, durch die Zeilen des Psalms zu uns herüber.

 

So könnten wir ihn hören und sehen in jener fernen Zeit, als Jerusalem noch einen Tempel hatte. Vielleicht ist er von Krankheit geschlagen gewesen, liegt unweit des Schafstores an eine Mauer gestützt, reckt eine Hand aus, eine Gabe von denen erbettelnd, die milde gestimmt zum Tempel schreiten. Über ihm das, was im Englischen als ‚dropping' bezeichnet wird: klar, es tröpfeln einzelne Münzen in seine Mütze, vor allem aber sind es Worte, wie „Muss das denn sein/ haben die den überhaupt keine Achtung mehr/ der Herr wird schon wissen, warum/Jedem so, wie er es verdient/Gott sei Dank, dass es uns so gut geht" und so weiter...So also, dass die, die da zum Tempel wandeln, für ihn die Gottlosen sein müssen. Der aber, zu dem jene in wohlgeformten Litaneien und gesicherten Riten sich spirituell zu ergeben pflegen ergeben, ist für ihn so fern, so unerreichbar. Das Einzige, was der am Boden liegende spürt, ist die Wucht der Hand dessen, der über ihm ist.

 

Nein, es ist nicht heiter, wenn ich an ihn denke, der damals oft an unserer Kirche vorbei die Straße hinauf zog in Richtung Parkbank, um dort die mitgenommenen Dosen zu leeren. Jeder kannte ihn, keiner mochte ihn. Sein lautes Grölen konnte die Orgel drinnen übertönen, wenn er draußen vorüber ging. Kinder liefen weg, wenn sie ihn auf der Straße hoch torkeln sahen, und Frauen auf dem Rad traten in die Pedale, wenn er am Bürgersteig stand, in der einen Hand die Plastik-Tüte mit den Dosen, in der anderen den Stock, mit dem er drohte und fuchtelte und nachzurufen pflegte, was ganz anders war als das, was eine Altherrenbemerkung in der Hotelbar sein kann.

 

Es war Sonnabendnachmittags gewesen, als er laut bei mir klingelte. Er müsse unbedingt was sagen, ging, ohne eine antwort abzuwarten, durch die Tür, stellte Tüte und Stock ab, setze sich und sagte, dass seine Mutter mit ihm aus Schlesien geflohen waren, nach Dresden, sie hätten auf den Elbwiesen übernachtet. Mitten im Februar. Und dann seien die Bomber kommen. „Ich sehe jetzt noch die Tannenbäume am Himmel, wie sie verglühten. Und dann die Menschen. Wie Motten im Licht. Kennen Sie Marlene Dietrich? Er sang leise, aber bitter. „Menschen, nur noch Schatten. Was soll das hier alles"? Er machte eine kreisende Bewegung über mein Bücherregal. „Menschen wie Schatten". Dann stand er auf, schwankte dabei etwas, fing sich wieder, und sagte, dass er dann als Junge bei den Thomanern in Leipzig gewesen sei. „Günther Ramin, wenn der Ihnen was sagt". Und dann sei er abgehauen, in die Fremdenlegion. Algerien. Menschen- wie Schatten. „Und der da", er fuchtelte mit der Hand nach oben, „auch". Im Gehen sang er die Marseillaise, in die sich wohl Töne der Internationale mischten. Dann drehte er sich um. „Ich kann Orgel spielen, habe ich gelernt bei Ramin. Kann ich mal"? „Natürlich", sagte ich, „morgen, nach der Kirche". Er ist nicht gekommen. Nicht an jenem Sonntagmorgen. Und an keinem anderen. Und viel später, im Krankenzimmer, da war die Orgel nicht mehr Thema. Ob es daran gelegen hat, dass ich keine richtigen Worte gefunden hatte?

 

„Schweig nicht zu meinen Tränen! Denn ich bin nur ein Gast bei dir, / ein Fremdling wie all meine Väter"(39,13). Keinen Ort zu haben, und nur die Stille über den Tränen: Das ist das, was die größte Angst ausmacht. Und was den Glauben ausmacht, ist s eine größte Stärke, dennoch von dem einen zu reden, und sei er nur ein Schatten und Grund der Angst. Sprachlich, aber auch von innen, persönlich, und von außen, meinetwegen kulturell wäre auch anderes denkbar, nämlich nicht von einem Gott zu sprechen (wenn man so will) sondern von verschiedenen, den einen für das Gute, die andere für das Böse, die eine für den Anfang und den anderen für den Untergang: so wäre alles religiös benennbar, würde sich nicht vermischen. Auch hätte so mit der Vielgötterzahl alles seine Ordnung, was manche auch für Frieden halten. Doch der Klagende im Psalm und im Pfarrhaus hält an dem Einen fest. „Du hast es getan (Ps 391,0). Wenn es nur einen Gott gibt, der Grund des Seins ist, dann gibt es auch nur einen, der Grund des unfassbaren ist. Ihm gilt der Schrei, die Wut, die Tränen, die ganze Ausdruck dessen, was ein Mensch denken, fühlen und sagen kann. Zu ihm kann man nur persönlich reden.

 

Und so stelle ich mir vor, dass damals, als die vielen, scheinbar wohl gestimmten und gottesdienstlich gut Eingeübten mit milder Hand und spitzer Zunge an dem bettelnde, krank daliegenden Menschen am Schafstor vorbei gingen, zum opferbereit Tempel eilten oder gesegnet geläutert zurück, - dass einige ihn gehört haben mit seinen Klagen und Geloben, mit seinem Zorn und dem Unerhörten, Unausgesprochenen, Ungeheurem, den Schreien und Tränen letztlicher Angst. Dann aber ein ganz anderes Wort: „Und nun, Herr, worauf soll ich hoffen? /Auf dich allein will ich harren". Es steht nicht am Ende, wo es liturgisch wäre, es steht nicht am Beginn, wo es rhetorisch unüberhörbar wäre. Sondern Mittendrin und unvermittelt. Hoffnung aus der Mitte der Erfahrung heraus: einige, die vorbeigingen, um drinnen zu beten, werden es gehört haben, das draußen, in der tiefsten Klage die Hoffnung auf Gott gesetzt wird. Ganz persönlich. Sie werden diese Worte sich zu Eigen gemacht und überliefert haben. Weil sie das Gesagte kennen. Ganz persönlich.

Jahre später besuchte ich eine Frau, die mit ihm, der Orgel spielen wollte, mal befreundet gewesen ist. Ich hatte ihr ein Bild der unserer Kirche mitgebracht. Sie sagte: „Wie schön. Hier haben wir oft auf der Bank gesessen. Und draußen die Orgel drinnen gehört".

 



P.i.R. Wolfgang Petrak
37077 Göttingen
E-Mail: w.petrak@gmx.de

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