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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Psalm 88, verfasst von Christine Hubka

 

 

2 HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir.

3 Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien.

4 Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.

5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mensch, der keine Kraft mehr hat.

6 Ich liege unter den Toten verlassen,wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen
derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind.

7 Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.

8 Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten.

9 Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus,

10 mein Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu dir täglich; ich breite meine Hände aus zu dir.

11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

12 Wird man im Grabe erzählen von deiner Güte und deine Treue bei den Toten?

13 Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens? Aber ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich:

 

Gott ist nicht lieb!

Dieses Gebet eines total fertigen Menschen beendet die merkwürdige Rede vom „lieben Gott". Generationen von Kindern bekamen den „Lieben Gott" als Vorstellung ins Gemüt gepflanzt. Was für ein Schock, wenn sie eines Tages bemerken. Gott ist gar nicht lieb. Er streicht dem Leidenden nicht über den Kopf und verspricht dabei: alles wird wieder gut. Alles wird wieder so wie vorher. Alles wird, wie du es gerne hättest. Vom Wetter angefangen bis zum Verhalten der anderen Menschen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sage ich noch dazu: Gott sei Dank ist Gott nicht lieb.

Wem es so geht, wie diesem Menschen, wer so todtraurig ist, wer so todmüde ist, wer so fertig ist, der braucht nicht den lieben Gott.

Der braucht zuerst jemanden, der sich seine Klagen, sein Leid anhört.
Nicht lieb. Sondern ernsthaft. Aufmerksam. Da bleibend.

Wir haben von klein auf gelernt, dass klagen unerwünscht ist.
Schnell heißt es: Hör auf zu jammern. Schnell merken wir, dass unser Leid den Leuten auf die Nerven geht. 

Schwerkranke Menschen versichern mit angestrengtem Lächeln:
Mir geht es schon viel besser. Nur ja keine Angst zeigen ob das noch einmal besser wird. „Na, dann", die Besucher erheben sich erleichtert.
„Na dann kann ich ja jetzt gehen. Zurück zu meinen Geschäftigkeiten." 

Trauernde ziehen gleich nach der Beerdigung das schwarze Gewand aus.
Niemand trägt mehr bis zum ersten Todestag des Verstobenen diesen kleinen schwarzen Flor am Ärmel. Leute, die bei der Beerdigung gemurmelt haben: „Mein aufrichtiges Beileid", erwarten, dass am Tag danach alle, wirklich alle, zur Tagesordnung zurückkehren. Denn schließlich muss ja das Leben weiter gehen. Der ängstlichen Frage: "Was wird denn jetzt aus mir, so allein, so verlassen?", blüht die Antwort: „Na, irgendwie wird es schon gehen."
Wer schweigt, erspart sich dieses.

Die Erschöpften und Erledigten, die Todtraurigen, Verstörten, Verängstigten,bekommen schnell auch noch eine Krankheit umgehängt. Die Arme hat eine Depression, heißt es dann. Aber nicht alle Traurigkeit, nicht jeder Schmerz im Gemüt ist eine Krankheit. Nicht jede Angst ist das Symptom für eine Neurose. Das Leben ist nicht immer nur lustig. Anders als unsere Mitgeschöpfe, die Tieren, haben wir von unserem Schöpfer auch die Fähigkeit bekommen, herzhaft zu weinen.

Wer nicht an seiner unausgesprochenen Klage ersticken will, wer nicht in den allein geweinten Tränen ertrinken will, kann, darf, soll sich an Gott wenden.

Dazu ermuntert dieser Psalm.

2 HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir.

3 Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien. Hör mir zu. Es ist mehr eine Forderung als eine Bitte. Lass mich endlich reden, weinen, klagen,ja, auch jammern.
Ich halte das stumme Leiden nicht mehr aus.

Und dann überschlagen sich die Worte .Eindrucksvoll fließen die Bilder.

5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mensch, der keine Kraft mehr hat.

Dieses kleine Wörtchen „wie" löst für mich das Rätsel, woher dieser todmüde, todtraurige, vielleicht auch todkranke Mensch die Kraft aufbringt für solche starken Bilder. Er ist gar nicht am Ende seines Lebens. In seinem Körper, in seinem Geist steckt noch genug Kraft. Aber sie ist verschüttet.

Ich fühle mich wie ....
Eigene Erfahrungen schwingen mit, wenn ich das höre:
Keine Kraft mehr: O ja, das kenne ich.
Die Freunde entfremdet, -

Manche ziehen sich zurück, halten das Elend, die Krankheit, die Trauer der Verwitweten, die Wut der Geschiedenen nicht aus.

8 Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten. Heiß und kalt zugleich, und durcheinander.

Im Hebräischen steht ursprünglich Hitze, nicht Grimm.

Die Hochschaubahn der Gefühle, zwischen heißer Verzweiflung und kalter Hoffnung, zwischen kalter Verzweiflung und heißer Hoffnung hin und hergerissen.
Beides ist quälend, lässt nicht aufatmen.

Die Fähigkeit, das alles auszudrücken, schöpft der Mensch aus seinem Gegenüber. Der Gott, der das alles nicht mit einem Schlag beendet, der Gott, der das alles zulässt, ist die Kraftquelle.
Der Gott, der da bleibt, ermöglicht dass das Leid einen Namen bekommt.

Der Gott, der sich fragen lässt:

11 Werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?
12 Wird man im Grabe erzählen von deiner Güte?

Dieser Mensch weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Du weißt es nicht.
Aber - und immer wieder aber, und dennoch, und trotzig und stur:

Aber ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich:

Unausgesprochen schwingt in diesem ganzen Gebet für mich mit: Wenn ich lange genug schreie,
wenn ich hartnäckig genug frage,
wenn ich laut genug klage,
wenn du alles, wirklich alles gehört hast,
was mir auf der Seele liegt,
dann wirst du zu mir in die Grube steigen.

Du wirst mich an den Händen fassen.
Mit einem einzigen starken Ruck.
wirst du mich vom Boden hoch ziehen.

Dann machst du mir die Räuberleiter.
Ich steige auf deine zur Stufe geformten Hände, dann auf deine Schultern.

Und dann stehe ich aus eigener Kraft.
Hinter mir die Falle, die Grube.
Am Ende steht Gott in der Grube.

Nicht den lieben Gott brauchen wir und dieser Beter.
Nicht den allmächtigen Zauberer.
Wir brauchen diesen, der herunter kommt, ganz tief in die Grube,
in das Loch, in das jeder Mensch auch einmal fallen kann.

Noch sehen wir es nicht.
Noch ist die Zeit der Klage und der Angst.
Aber - so dürfen wir jetzt schon wissen,
der Tag wird kommen, wo Gott,
die Toten und die Trauernden und die Ermatteten
mit seiner Lebenskraft neu beschenken wird.

Anders als dieser Dichter und Sänger der hebräischen Bibel,
haben wir in Jesus ein Vorbild, das uns genau das vor Augen hält.

Der Gott, der so gar nicht lieb ist, ist doch stärker als der Tod.

Dazu lässt er sich ganz in den Tod hinein. Taucht darin unter. Steigt selber in die Grube. Das macht es möglich, wenn es sein muss, durch das Tal der Tränen zu gehen. Voll Angst, voll Klage aber mit diesem Gott, der so gar nicht lieb ist.
Dafür sei Gott Lob und Preis in Ewigkeit.



Pfr. i.R., Dr. Christine Hubka
1160 Wien
E-Mail: christine.hubka@gmx.at

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