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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Psalm 88, verfasst von Marc Wischnowsky

Liebe Gemeinde,

Sie haben vor sich ein Bild des betenden Christus, gemalt von Wolfgang Fräger.

Die Szene kennen Sie: Jesus in Gethsemani, kurz vor seiner Gefangennahme. Er ist alleine und betet: „Abba, mein Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir!" (Mk 14,36)

Wir haben dieses Bild auch im Konfirmandenunterricht vor Augen gehabt. Und Ihr habt dem Betenden eigene Worte in den Mund gelegt: Oh Vater, hilf mir! Ich weiß nicht was ich tun soll!

Ich muss mein Schicksal so nehmen wie es ist, doch ich habe Angst - schreckliche Angst.

Lieber Gott, bitte lass meine Stunde noch nicht kommen, ich fürchte mich vor dem Tod.

Gott, halte Judas zurück.

Gottvater, ich bitte dich, wache über mich in dieser schrecklichen Zeit. Sie werden mich holen, doch ich bitte dich, schütze meine Begleiter und lass die Soldaten die Wahrheit erkennen.

Und dann hat jemand von Euch geschrieben: Lass bitte durch meinen Tod die Menschen glücklich werden ... hilf mir und nimm mir meine Angst!

 

Wir sind in der Mitte der Passionszeit angekommen, liebe Gemeinde:, Okuli - unsere Augen richten sich auf Gott, der uns hilft.

Zeit sich zu erinnern, dass der Mensch, dessen Passion, dessen Leiden wir in diesen Tagen bedenken, keineswegs soldatisch heldenhaft in den Tod gezogen ist - wie es manche unserer Gesangbuchlieder mit ihren Bildern von Victoria und Sieg und dem Durchbrechen aller Bande nahelegen. Auch Gleichmut, Härte, Todesverachtung, die bis heute Mannsbilder prägen - in Werbung und Film oder im Computerspiel - waren jedenfalls keine Leitmotive der Evangelisten. Sie schildern Jesus als jemanden, der weder erhobenen Hauptes voranschreitet noch stumm sein Leiden hinnimmt. Nein, Jesus ringt mit seinem Schicksal. Er will verstehen und sucht nach dem Sinn. Er kennt die Einsamkeit und leidet darunter. Er betet und klagt - und schleudert noch am Kreuz seinem Gott die Frage entgegen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15,34)

Das ist ein Wort aus Psalm 22, wie man ja überhaupt den Psalter auch und gerade als eine Schule des Klagens beschreiben kann. Ein besonders beredtes und in seiner Bildsprache auch besonders eindrückliches Beispiel haben wie eingangs aus dem Mund der Konfirmanden gehört: Psalm 88. „Herr Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor Dir. Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien. Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tod." (Ps 88,2-4) Im ganzen Psalm findet sich kein Wort des Vertrauens, kein Zurücknahme, keine tröstende Verbrämung.

Leider finden wir diesen Psalm wieder nicht im Gesangbuch - zu anstößig diese Klage. Dabei ist das ein großer Verlust. Nicht nur, dass das Klagen einem Menschen gut tut, das wissen wir alle. -Nein, die Klage ist theologisch geradezu nötig, um bei der Wahrheit zu bleiben. Denn es ist ja nun mal so, dass Menschen leiden. Dass wir uns ängstigen und fürchten. Dass da eben manchmal nur Angst ist und keine Hoffnung mehr.

Ihr Konfirmanden habt neulich beim Seminar einen weiten Horizont solcher Ängste genannt: die Angst vor der Dunkelheit und dem Unbekannten, die Angst davor, verletzt zu werden oder krank. Die Angst um Freunde und Familie, die Angst jemanden zu verlieren, die Angst vor der Einsamkeit, die Angst vor dem Sterben.

Das alles kennt der Beter von Psalm 88: „Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf." „Ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat." Das Gefühl unter zu gehen wie in Fluten und gefangen zu sein in den Wehen eines leidvollen Schicksals. Bilder der Todesnähe dominieren den Psalm: „Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren." „Ich liege unter den Toten verlassen." „Du hast mich hinunter in die Grube gelegt in die Finsternis und in die Tiefe." Und alle Verzweiflung gipfelt im Gefühl, für die anderen gestorben zu sein: „Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und meine Verwandten hältst du fern von mir." Nur noch die Einsamkeit bleibt, der soziale Tod.

Zu diesen Empfindungen und Ängsten zu stehen ist nicht nur eine Frage der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Dass der Psalm sie so klar und schmerzhaft benennt, ist auch ein Gebot der theologischen Wahrhaftigkeit gegenüber dem Menschen und seiner zerbrechlichen und gefährdeten Existenz. Manchmal geht es Menschen so.

Bemerkenswert ist nun, dass der Beter dieses Psalms nicht im Jammern stecken bleibt. Wie Jesus am Kreuz schleudert er Gott sein 'Warum!?' entgegen: „Warum verstößt du, Herr, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir?" (Ps 88,15). Und in diesem 'Warum' klingt ja nie nur die Frage nach dem Sinn, sondern immer auch der Vorwurf mit: Wie kannst du das geschehen lassen?

Gott sitzt hier auf der Anklagebank. Er wird als Urheber oder zumindest Nicht-Verhinderer des Leides ernst genommen. Der Beter behaftet Gott bei seiner Verantwortung.

Aber wie es manchmal beim Beten ist, da hören wir nicht gleich den Widerhall seiner Antwort. Manchmal bleibt Gott bleibt stumm. Und es gehört auch zur Ehrlichkeit der Theologie das zuzulassen: Manchmal gibt es keine Antwort auf die Warum-Frage - keine jedenfalls, die uns genügen würde.

Nein, die Antwort liegt woanders. Die Antwort liegt im Beten selbst.

Entscheidend ist die Frage, die an Gott gerichtete Herausforderung: Zeig dich! Denn wer das Gespräch fordert, hält an der Beziehung fest. Wer mit Gott ringt, hat ihn - und sich! - noch nicht aufgegeben. Wer betet, ist noch nicht tot.

Mein alttestamentlicher Kollege Christoph Hardmeier prägte im Blick auf unseren Psalm mal das Wort vom „Evangelium der Klage": Denn - so sagt er - „der Aufschrei gegen Gott ist im wörtlichen Sinne ein Freispruch, der im Gegenüber zu Gott die Zunge des Verzweifelten löst und den Tod-Geweihten bei den Lebenden hält." (Christoph Hardmeier in einer Predigt zu Psalm 88 im Semestergottesdienst am 31.01.1999 in St. Nicolai Greifswald, zitiert nach http://at.uni-greifswald.de/ uploads/ hardmeier/ vortraege.htm)

Wenn es eine Wende im Beten von Psalm 88 gibt, dann liegt sie da, in diesem Aufbäumen, das sich im Gebet vollzieht. Schauen wir noch einmal genau hin. Drei Fragen legt der Beter Gott vor - und alle erwarten ein Nein:

Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

Wird man im Grabe erzählen deine Güte - und deine Treue bei den Toten?

Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?"

Nein, nein, nein, denn die Toten haben keine Verbindung mehr zu Gott. Das hat der Beter schon festgestellt: Sie sind - wie schrecklich! - „von deiner Hand geschieden" (Ps 88,6) und Gott gedenkt ihrer nicht mehr.

Drei rhetorische Fragen, die diesen Gedanken ins Unerträgliche steigern.

Doch dann der entscheidende Aufschrei: Aber Ich! Aber ich, ich schreie zu dir - schon am Morgen! Ich gehöre noch nicht zu den Toten - auch wenn ich mich so fühle. Ich bin noch am Leben. Von deiner Hand nicht geschieden! Also kümmere dich!

Ich lebe. - Und damit ist alles offen.

Diese offene Zukunft ist es, die der Beter gewinnt in seinem Ringen mit Gott. Er entflieht dem Todesschatten. Beten macht lebendig.

Liebe Gemeinde,

Beten macht lebendig. Noch in der Einsamkeit der Angst und sogar des gefühlten Todes. Dramatisch führt uns das Psalm 88 vor. Und doch bleibt da ein Rest, eine Frage bei mir, eine Irritation. Und ich denke an einen anderen Psalm, den ich gerne ans Ende meiner Predigt stellen möchte, Psalm 139. Denn was dem Beter von Psalm 88 gar nicht zur Frage wird - Trennt der Tod wirklich von Gott? - Psalm 139 findet eine andere Antwort darauf. „Führe ich gen Himmel, so bist du da", das erwarten wir. Aber dann: „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da." (Ps 139,8)

Nichts und niemand kann mich von Gottes Hand scheiden: Ja, „nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten." (Ps 139,9) So weit kann sich niemand von Gott entfernen, dass diese Beziehung abbricht. Selbst in meiner größten Gottesentfremdung ist Gott immer noch da. Radikaler lässt sich das Du-bist-da wohl nicht ausdrücken, dieses Du-bist-da, dass Grundlage jedes Gebetes ist und das sich im Akt des Betens schon vollzieht: So lange da ein Ich ist, das betet, ist Gott da.

Liebe Gemeinde, mit dem „Flügeln der Morgenröte" ist Ostern noch nicht angebrochen. Aber es scheint doch am Horizont schon auf. Und als Psalmen betende Christengemeinde wissen wir: Das Kreuz wird überstrahlt vom Ostermorgen. Nicht mal der Tod kann uns trennen von Gott. Der betende Jesus ist auch der auferstehende Christus. „Abba, mein Vater, Dir ist alles möglich."

Amen

Wir hören Psalm 139, gesprochen von den Konfirmanden und Konfirmandinnen.



Pastor Dr. Marc Wischnowsky
37085 Göttingen
E-Mail: mwischnowsky@arcor.de

Bemerkung:
[Die Konfirmandengruppe gestaltet den Gottesdienst mit und hat Psalm 88 in einer Sprechmotette im Eingangsteil des Gottesdienstes zu Gehör gebracht. Vorne zu sehen ist ein Bild von Wolfgang Fräger, Jesus in Gethsemani, aus dem Bildersatz zu KU-Praxis 48, Gütersloh 2005]



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