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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionsandachten, 2013

Johannes 16,33, verfasst von Güntzel Schmidt



Jesus spricht:

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.


"Vor gut zweihundert Jahren zogen einmal die Ärmsten der Pariser Bevölkerung nach Versailles, wo der französische König und seine Frau wohnten. (...) Die armen Leute stellten sich vor dem Schloss auf und riefen: 'Wir haben kein Brot!' (...)
Die Königin Marie Antoinette stand am Fenster und fragte einen hohen Offizier: 'Was wollen die Leute?'
'Majestät', antwortete der Offizier, 'sie wollen Brot, sie haben zuwenig Brot, sie haben zu großen Hunger.'
D
ie Königin schüttelte verwundert den Kopf. 'Sie haben nicht genug Brot?' fragte sie. 'Dann sollen sie doch Kuchen essen!'
(...) sie wusste nicht, was Armut ist! Sie dachte, wenn zufällig nicht genug Brot da ist, isst man eben Kuchen. Sie kannte das Volk nicht, sie kannte die Armut nicht, und ein Jahr später wurde sie geköpft. Das hatte sie davon."
[1]


Liebe Gemeinde,

die Dummheit der Marie-Antoinette und ihr berühmter Satz "Sie haben nicht genug Brot? Dann sollen sie doch Kuchen essen!" sind sprichwörtlich geworden. Das ist, als würde man jemandem, der kein Geld hat, raten: "Dann zahlen Sie doch mit der Scheckkarte!"

Man lacht über solche Patzer. Aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Denn das, was dahinter steht - der Hunger, die Armut - sind keinesfalls zum Lachen, sie sind bitter ernst.

Auch uns unterlaufen regelmäßig solche peinlichen Patzer; doch meistens bemerken wir sie nicht.

Was antworten Sie, wenn Ihnen jemand sagt: "Ich habe Angst"?
In neun von zehn Fällen lautet die Antwort: "Du brauchst doch keine Angst zu haben!" - Eine klassische Marie-Antoinette-Antwort.

Denn natürlich verschwindet die Angst nicht dadurch, dass man sie dem anderen auszureden versucht, und seien die Argumente noch so gut. Sie verschwindet auch nicht dadurch, dass man dem anderen zu sagen versucht: "Ich bin da und passe auf dich auf, deshalb brauchst du doch keine Angst zu haben", wie es besonders Eltern gegenüber ihren Kindern oft tun. Denn wäre die eigene Anwesenheit wirklich so tröstend, hätte der andere ja keine Angst und bräuchte das also nicht zu sagen. Er hat aber Angst, und darum hilft ihm die Beteuerung, man sei doch da, gar nichts. Im Gegenteil: Sie lässt ihn verstummen, weil er merkt: Der andere versteht mich nicht und kann mir nicht helfen. Ich bin mit meiner Angst allein.


I

Auf den ersten Blick scheint Jesus auch eine Marie-Antoinette-Antwort zu geben: "In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost" - man könnte auch übersetzen: "fürchtet euch nicht!". Aber wenn man genau hinhört, sagt Jesus nicht: "ihr braucht keine Angst zu haben", sondern er sagt: "Ich habe die Welt überwunden."

Jesus versucht nicht, die Angst wegzureden, sondern stellt fest: "In der Welt habt ihr Angst. Diese Feststellung wird nicht abgemildert; sie steht in ihrer Härte da und lässt sich nicht wegdiskutieren: In der Welt habt ihr Angst. Mit anderen Worten: Es gibt kein Leben ohne Angst. Jede und jeder hat Angst. Das Leben ist nicht ohne Angst zu haben.

Und noch eine andere harte Wahrheit erfahren wir durch diesen Satz: Auch Jesus kann und wird uns die Angst nicht nehmen. Solange wir leben, solange wir auf dieser Welt sind, werden wir Angst empfinden. Sie gehört zu unserem Menschsein dazu wie die Liebe, wie die Freude. Sie lässt uns nicht los, und wir werden sie niemals los. Nicht in diesem Leben.

Und doch lässt uns Jesus nicht ohne Hoffnung: "Seid getrost, ich habe die Welt überwunden."

Jesus sagt nicht: Ich habe die Angst überwunden. Die Angst gehört zu dieser Welt, zu unserem Menschsein, wie Leid und Schmerz. Das ist eine bittere Nachricht für alle, die sich von Jesus ein Ende des Leides erhoffen. In dieser Welt, in diesem Leben ist es nicht zu haben. In dieser Welt, in diesem Leben bedeutet das Ende der Angst, das Ende von Leid und Schmerz: den Tod.

Deshalb ist auch jedes Hadern mit dem Schicksal - so verständlich und so notwendig es manchmal ist, um eine schwere Situation überhaupt aushalten und bestehen zu können - eine typische Marie-Antoinette-Antwort. Es ist ein Hadern mit der Tatsache, dass man überhaupt am Leben ist. Das Leben ist nur als eine Mischung von Glück und Leid zu haben. Niemand hat Glück, Gesundheit und Erfolg gepachtet. Niemand hat Anspruch darauf, dass sie, dass er von Schwerem verschont bleibt. Man kann sich diesen Anspruch auch nicht, wie manche meinen, durch ein gesundes Leben, durch regelmäßigen Sport oder Verzicht erwerben. Glück, Gesundheit, Erfolg stehen niemandem zu, sie sind immer Geschenk. Und das Leben ist immer auch leidvoll.


II

Nun sagt Jesus aber: "Seid getrost, ich habe die Welt überwunden."

Was soll das bedeuten? Was meint er damit?
Verdreht er da nicht die Tatsachen?
Nicht er hat die Welt überwunden: Die Welt hat ihn überwunden.
Sie hat den Sohn Gottes nicht erkannt.
Sie hat ihn nicht haben wollen, ihn nicht aushalten können.
Sie hat ihn ans Kreuz geschlagen, und dort ist er gestorben.
Er ist gescheitert. Die Welt war stärker als Gott und hat ihn besiegt.

Wir könnten jetzt die Auferstehung ins Feld führen,
die natürlich ein starkes Argument dafür ist,
dass Gott am Ende doch gesiegt hat, - wenn auch sozusagen heimlich,
wie das Samenkorn heimlich in der Erde neues Leben hervorbringt
und man den zarten Keimling zunächst übersieht,
wenn er aus der Erde hervorbricht.
Wir könnten jetzt die Auferstehung anführen.
Aber noch ist nicht Ostern.

Im Johannesevangelium spricht Jesus diese Worte beim letzten Abendmahl, in den sogenannten "Abschiedsreden" an seine Jünger. Natürlich weiß Johannes, weiß die geneigte Leserin, dass Jesus von seiner Auferstehung spricht.
Aber die Jünger wissen es nicht.
Was können sie davon wissen, dass Jesus die Welt überwunden hat?
Was haben sie erlebt, das sie in diesem Moment trösten könnte?

Man könnte jetzt im Geiste das Johannesevangelium durchgehen, von der Hochzeit zu Kana bis zur Auferweckung des Lazarus, wo ja dann schon einmal von Auferstehung die Rede ist. Aber das ist gar nicht nötig. Unmittelbar vor den Abschiedsreden Jesu findet sich etwas, das darauf hindeuten könnte, wie Jesus die Welt überwindet: Es ist die Geschichte von der Fußwaschung.

Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße und sagt ihnen anschließend: "Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe. Das Beispiel ist, dass Jesus sich nicht zu schade ist, sich klein zu machen, sich herunterzubeugen.

Obwohl er der Meister ist, verzichtet er auf das, was ihm nach allgemeiner Auffassung zusteht.
Obwohl er der Herr ist, verzichtet er auf die Herrschaft.
Obwohl er ein Star ist, wie sein Einzug in Jerusalem zeigt, hat er keinerlei Starallüren.


III

"In der Welt habt ihr Angst."

Das griechische Wort, das Johannes hier benutzt, thlípsis, bedeutet Bedrängung, Drangsal. Es geht hier also gar nicht um Ängste, an die wir wohl zunächst denken würden: Angst vor der Dunkelheit. Angst vor dem Tod. Lampenfieber. Oder eine der vielen Phobien, die Menschen plagen können: Angst vor Spinnen, Höhenangst usw.

Johannes geht es um eine viel gravierendere Angst. Eine Angst, die viele von uns zum Glück nicht kennen: Es geht um Existenzangst. Um die Angst, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Die Angst, seine Schulden nicht zurückzahlen zu können. Die Angst, das Haus, die Wohnung zu verlieren, den Kindern die Ausbildung nicht finanzieren zu können. Um die Angst, im Beruf zu versagen. Das ist thlípsis, Bedrängung.

Thlípsis ist auch die reale Angst von Menschen, zu verhungern, wie sie täglich Millionen ausstehen müssen. Die Angst, das nackte Leben zu verlieren, wenn man das Pech hat, zur Zeit in Syrien zu leben, oder in einem anderen Krisengebiet dieser Welt.

Gott sei Dank haben viele von uns solche Ängste bisher nicht kennen lernen müssen. Ander wieder können sich noch zu gut daran erinnern, wie sich thlípsis anfühlt. Und manche stecken mittendrin und müssen diese Angst um ihre Existenz gerade jetzt aushalten.

Wenn wir uns jetzt diesen Satz Jesu noch einmal anschauen: "In der Welt habt ihr Angst", dann wird uns bewusst, dass es nicht nur darum geht, dass jeder Mensch manchmal Angst hat. Jesus sagt - ohne damit unsere kleineren und größeren Alltagsängste abwerten oder schmälern zu wollen - wie es in der Welt zugeht: Dass Menschen in Bedrängnis leben. Und dass die Welt so ist, dass Menschen thlípsis erleiden, die Angst um ihre nackte Existenz.


IV

So, wie die Welt eingerichtet ist, tragen wir unseren Teil zur thlípsis bei. Weil es uns im reichen Norden so unverschämt gut geht, müssen Menschen im armen Süden hungern. Weil wir wenig Geld für Kleidung und Elektronik ausgeben wollen, arbeiten Menschen in Asien unter unmenschlichen Bedingungen. Weil wir aufs Autofahren nicht verzichten zu können meinen, steigt die globale Erwärmung, die Wüsten breiten sich aus, der Wasserspiegel steigt, und das bedroht Menschen in ihrer Existenz. Aber eben meist noch nicht bei uns, sondern so weit weg von uns, dass wir die Folgen nicht bemerken und die Bedrängnis dieser Menschen für ihr persönliches Schicksal halten, das uns nichts angeht.


"Ich habe die Welt überwunden."

Indem Jesus diese Behauptung aufstellt, die zunächst einmal nicht mit dem Augenschein und der Erfahrung übereinstimmt, sagt er vor allem dies: die thlípsis, die Angst um die Existenz, ist kein Schicksal, gegen das wir ohnmächtig sind. Sie kann überwunden werden. Menschen können aus ihrer Bedrängnis erlöst werden, so wie Gott das Volk Israel aus seiner Bedrängnis in Ägypten befreit hat. Dazu helfen freilich nicht gute Worte, kein "du brauchst keine Angst zu haben". Um die thlípsis anderer zu beenden, müssen wir selbst etwas tun. Wir müssen bei uns anfangen, indem wir dem Beispiel Jesu folgen und nicht meinen, dass unser Wohlstand, unser Glück etwas wären, das uns zustünde. Indem wir uns ohne Angst um Gesichts- oder Machtverlust herunterbeugen zu den Menschen, die unter der Angst um ihre Existenz leiden.

 

Wo das geschieht, passiert ein kleines Wunder:

Wo wir die Angst anderer wahrnehmen und sie nicht wegdiskutieren, sondern erst einmal aushalten, nimmt die eigene Angst nicht mehr einen so großen Raum ein. Sie wird vielleicht sogar überwunden, weil die Sorge um Andere unsere Sorgen vertreibt. Weil die Freude und das Glück, das andere uns schenken, wenn wir ihnen helfen, ihre thlípsis zu überwinden, wenn wir sie mit ihrer Angst ernst nehmen, unsere Angst einfach hinwegfegt.


V

Die Welt, das Leben, ist nicht ohne Angst zu haben.
Aber Jesus hat uns gelehrt zu sehen, dass wir manche Ängste überwinden können, die ihre Ursache in der Ungerechtigkeit unserer Welt haben, weil er die Welt überwunden hat. Aus der Perspektive dessen, der sich herunterbeugt und sich klein macht, um anderen zu dienen, erscheint die thlípsis der anderen zunächst riesengroß. Zugleich sieht man aber auch, in welch großem Glück man selbst leben darf, und dass man davon abgeben, dass man es teilen kann. Man erkennt, wie man anderen wohl tun kann, und wie gut das einem selbst tut.


Die Welt wird man dadurch wahrscheinlich nicht verändern. Das Leben wird weiterhin Angst, Leid und Schmerz für uns bereit halten, und wir werden sie tragen und ertragen müssen. Aber wir werden dabei nicht allein sein. Die vielen, denen wir geholfen haben, ihre thlípsis zu überwinden, werden uns beistehen - tatsächlich, oder im Geiste. Sie werden uns Mut machen, dass man gemeinsam die Welt überwinden kann, weil Jesus das schon für uns getan hat an jenem Abend, als er seinen Jüngern die Füße wusch.

Amen.



 



Pfarrer an der Klosterkirche Riddagshausen, Güntzel Schmidt
38104 Braunschweig
E-Mail: guentzel@me.com

Zusätzliche Medien:
[1] Erich Kästner, Die sechste Nachdenkerei: Von der Armut, in: (ders.) Pünktchen und Anton, Berlin o.J. (1931), s. 71f.



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