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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Die Bergpredigt , 2013

Geistlich arm sein, Predigt zu Mt. 5, 1-3 , verfasst von Andreas Noé


1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:


3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“


So wie Moses auf den Berg Sinai stieg, um die zehn Gebote von Gott entgegenzunehmen, so steigt Jesus auf einen Berg. Matthäus unterstreicht für seine judenchristlichen Leser damit die Autorität dessen, was Jesus gleich sagen wird. Die Zehn Gebote waren Gottes direkte Anweisungen an sein Volk. So drückt auch das, was Jesus zu sagen hat, Gottes Willen direkt aus. Immer wieder in seinem Evangelium weist er darauf hin, dass Jesus im Alten Testament angekündigt wurde. In Matth. 4, 14 – 16 etwa wird aus dem Buch Jesaja zitiert: „…das Volk, das in der Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.“


Oben auf dem Berg setzt sich Jesus und beginnt, seine Jünger und das Volk, das mit auf den Berg gestiegen ist, zu unterrichten. Matthäus hat in seiner Bergpredigt Jesusworte zu einem um das Vater Unser herum gruppierten Gesamttext zusammengestellt. Jesu Lehre ist dabei nicht eine Aufhebung des jüdischen Gesetzes, sondern eine endgültige Konkretion: (Matth. 5, 17) „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“


Jesus eröffnet seine Predigt mit neun Seligpreisungen. Mit der ersten möchte ich mich heute befassen: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“ Die Bergpredigt hat ihre Entsprechung bei Lukas in der Feldrede, Luk. 6, 20 – 49. Lukas erwähnt nur vier Seligpreisungen, gefolgt von vier Weherufen. Bei ihm lautet die erste Seligpreisung etwas anders: (Luk. 6, 20) „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.“ Und der erste Weheruf: (Luk. 6, 24) „Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt den Trost schon gehabt.“ Anhand der Literaturstellen, die ich mir angesehen habe, scheint die Mehrheit der Theologen die Meinung zu vertreten, dass die lukanische Version der ersten Seligpreisung die ursprüngliche war. Demnach hat Matthäus das Wort „geistlich“ hinzugefügt. Als Gründe gelten, dass eher etwas hinzugefügt als weggelassen wird und dass die lukanische Fassung mit der im Thomasevangelium übereinstimmt.


Ich könnte mir hier aber auch vorstellen, dass Lukas, dessen Adressaten gebildete griechischsprachige und wahrscheinlich entsprechend wohlhabende Kreise waren, den Gegensatz zwischen arm und reich besonders betonen wollte. Daher hat er vielleicht auch die Weherufe hinzugefügt. Genauso gut könnte aber auch der ebenfalls nach 70 n.Chr. schreibende Matthäus das „geistlich“ hinzugefügt haben; denn nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. waren ja die meisten überlebenden Juden bzw. Judenchristen, für die Matthäus schrieb, verarmt. Die lukanische Fassung hätte dann nicht den Sinn getroffen, in dem Matthäus das Jesuswort verstand. Beide Varianten erscheinen mir möglich.


Bevor wir in die Thematik der Armut einsteigen, müssen wir erst einmal klären, was es mit dem Wort „Selig“ auf sich hat. Selig ist die Übersetzung des griechischen „makarios“, die sich in der Lutherbibel und der Einheitsübersetzung findet. Andere Bibelausgaben übersetzen mit „Freuen dürfen sich alle“ (Gute Nachricht) oder „Glücklich sind“ (Hoffnung für Alle). Jedenfalls wird mit dem Wort „makarios“ ein Zustand höchsten Glücks gemeint, nicht nur für den Moment, sondern andauernd.


In diesem Zustand dauerhaften Glücks sind nach Matthäus die „geistlich Armen“. Wer ist hier gemeint? Sicherlich erst einmal nicht die geistig behinderten, es heißt ja schließlich nicht „geistig Arme“. Die Deutungen, die in der Literatur zu finden sind, sind vielfältig und sehr verschieden. Ich will versuchen, mit meinem Verständnis nahe am Text zu bleiben.


„Arm“ meint zunächst einen Zustand der Bedürftigkeit, eines „nicht genug“. Gehen wir davon aus, dass die lukanische Fassung das Jesuswort korrekt wiedergibt, dann meint Jesus die materiell Armen, die nicht aus eigener Kraft für sich selbst sorgen können. In der matthäischen Fassung ist aber nicht die materielle, sondern die geistliche Armut gemeint. Geistlich arm meint dann diejenigen, die im geistlichen Sinne bedürftig sind, die die Erkenntnis nicht mit Löffeln gefressen haben und sich dessen bewusst sind. Diese Menschen geben zu, nicht die letzte Weisheit selbst gefunden zu haben. Das ist die Voraussetzung dafür, sich Gott gegenüber öffnen, sich ihm anvertrauen und sich von ihm leiten lassen zu können.


Das kann gleichzeitig auch materielle Armut bedeuten, denn wer nicht für sich selbst sorgen kann, wird nicht gleichzeitig höchste Erkenntnis für sich beanspruchen. Insofern beinhaltet die matthäische Fassung die nach Lukas. Eine sinngemäße Parallele findet sich auch im Jesuswort zu den Kindern und dem Himmelreich (Matth. 19,14): „Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich.“ Kinder sind naturgemäß geistlich arm und offen gegenüber Neuem.


Nun gilt es noch den Begriff „Himmelreich“ zu klären. Jesus macht nirgendwo exakte Aussagen zum Himmelreich, sondern erzählt von ihm in Gleichnissen. Das, was aber durchscheint, ist, dass das Himmelreich, das Reich Gottes, ein Ort ist, wo Gottes Wille und seine Gerechtigkeit gelten. Dieser Ort hat zunächst eine transzendente Komponente, liegt also nicht im Diesseits. Das Himmelreich bricht aber auch schon im Diesseits an, wenn Menschen sich zu Gott hin öffnen, mit ihm rechnen und gemäß Jesu Lehre in der Bergpredigt leben. Im Himmelreich gilt eine andere Gerechtigkeit als auf Erden, worauf das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matth. 20, 1 - 16) hinweist. Keiner ist mehr arm, jeder bekommt das, was er zum Leben braucht.


Im Diesseits gilt als Zusammenfassung der Gebote die Goldene Regel (Matth. 7, 12): „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Ich will selbst nicht arm sein, also soll ich dafür sorgen, dass auch der bedürftige Mitmensch genug zum Leben hat. Die Teilhabe am Himmelreich bedeutet aber auch, dass die eigene Existenz mit dem diesseitigen Tode nicht endet. Jesus lädt seine Zuhörer ein, ihren Geist zu öffnen für das, was er im Anschluss in seiner Bergpredigt zu sagen hat. Zugleich verspricht er den Bedürftigen Trost zu.


Was heißt das nun für uns heute? Ich formuliere die erste Seligpreisung einmal neu mit meinen Worten: „Dauerhaft glücklich und sinnerfüllt leben diejenigen, die wissen, dass sie nicht selbst endgültige Erkenntnis erlangen können, denn sie sind offen für etwas, was das Diesseits übersteigt.“ Mit diesem Verständnis meine ich natürlich nicht, dass die materielle Armut zu vernachlässigen ist. Ich meine mehr im lutherischen Sinn, dass zuerst die Erkenntnis der eigenen geistlichen Unvollkommenheit kommt, dann das Rechnen mit einem Mehr, sprich der Glaube an Gott, und dann aus diesem Glauben heraus die Lebensführung sich in christlichem Sinne ändert.


Ein Hauptproblem, was wir heute in unserer Gesellschaft haben, ist, dass auf Grund der rasanten Fortschritte in der Naturwissenschaft ein immer größerer Teil der Bevölkerung sich nicht mehr als geistlich arm sieht, sondern in der Naturwissenschaft die komplette Erkenntnis der Welt sieht. Und das, was man heute noch nicht weiß, wird man irgendwann in der Zukunft doch wissen. Eine solche Haltung schließt Transzendenz aus. Es gibt nur das Diesseits, kein Himmelreich. Da meine Existenz keinen tieferen Sinn hat, sehe ich zu, dass ich meine Zeit hier auf Erden möglichst angenehm und „glücklich“ absolviere. Die Goldene Regel befolge ich dann nur da, wo sie mir nützt. Mit dem Tod ist alles vorbei.


Hier sehe ich den größten Erklärungsbedarf für unsere Kirche. Unter dem Mantel der evangelischen Vielfalt werden derart unterschiedliche Ansichten vertreten, dass nicht mehr klar ist, ob die Kirche überhaupt noch geschlossen die Idee eines nicht diesseitigen Himmelreiches vertritt. Vielleicht kann sich die EKD ja zum Ende der Lutherdekade nach Unternehmer-, Gesundheits- und nun der Familienschriften mit dünnem theologischen Kapitel einmal zu einer rein theologischen Denkschrift entschließen. Hiermit meine ich eine theologische Standortbestimmung nach 500 Jahren Reformation im Hinblick auf u.a. Transzendenz, Gott, und das Verhältnis zu den Naturwissenschaften bzw. dem Atheismus. Warum bloß habe ich Zweifel, dass unsere führenden Theologen sich auf dieses Wagnis einlassen werden?


Eine offene Frage ist noch, ob denn nur den materiell Armen das Himmelreich gehört. In Matth. 6, 1 – 4, spricht Jesus darüber, wie man Almosen geben soll. Wenn nach Jesus nur die materiell Armen ins Himmelreich kämen, warum sollte Jesus dann Regeln für das Almosengeben aufstellen? Also haben auch diejenigen, die genug oder mehr als genug haben, eine Chance. Allerdings ist es für die Reichen schwierig, selig zu werden, denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr (Matth. 19, 23 – 24). Das Problem ist (Matth. 6, 24): „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“


Unser Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft war ursprünglich auf Wettbewerb und sozialen Ausgleich ausgelegt, um Armut zu verringern bzw. zu beseitigen. Mit der Zeit jedoch haben sich die Spielregeln verändert. Die Entwicklung zeigt, dass der eigentliche Herr, dem wir dienen, mehr und mehr der Mammon ist. Unsere Gesellschaft driftet auseinander. Viele, die in der Wirtschaft Verantwortung tragen, sind nicht mehr religiös. Die Vertreter der evangelischen Kirche und diejenigen in der Wirtschaft, die noch evangelisch sein wollen, kommen kaum in einen konstruktiven Dialog.


Trotzdem haben wir im Berufsalltag schon Entscheidungsspielraum. Für mich als Verantwortungsträger in der Wirtschaft ist jedenfalls die Frage, wem ich mit meiner Entscheidung nun diene, Gott oder dem Mammon, eine wichtige Leitplanke. Im Zeitalter globalen Wirtschaftens gibt es allerdings oft anstatt Schwarz-Weiß-Situationen solche mit mehr oder weniger dunkel erscheinenden Grautönen. Selbst nach Abwägung aller Argumente muss ich mich am Ende intuitiv entscheiden und werde mir dabei mal wieder meiner geistlichen Armut bewusst.


Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Amen.


 


 




Dr. Andreas Noé

E-Mail: andreas.noe@bwg-online.de

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