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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2013

Jahreslosung 2014, Psalm 73,28, verfasst von Michael Ebener


 „Der glückliche Matthias und das Glück der Nähe"

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

 

1.


© Michael Ebener, Göttingen --> Für eine große Ansicht des Fotos bitte hier klicken

 

Da, wo die mageren Kronen der knorrigen Wegbäume sich im Seewind landwärts neigen; da, wo die Felder im Sommer fruchtbar grün und nun im Winter traurig grau daliegen; da, wo das Meer alles umgrenzt, gibt und nimmt nach Belieben, und die Inselfriesen halten seit Generationen dagegen; da, wo die Dohlen um den verwitterten Kirchturm kreisen, an dessen Fuß der Friedhof liegt, auf dem die Einwohner der umliegenden Dörfer ihre letzte Ruhe haben - da steht eine mehr als mannshohe Grabplatte aufrecht in einer Gräberreihe.


Ins untere Drittel der Grabplatte ist das Siegel des Verstorbenen geschlagen. - Überhaupt ist es auf diesen Inselfriedhöfen so, dass die Grabsteine vom Leben erzählen. In Bildern, meist Schiffen in voller Fahrt oder abgetakelt im Hafen, in Symbolen: Kreuz, Herz und Anker, und in wohlgesetzten Worten erscheinen die Leben der Seefahrer und ihrer Familien vor den Nachgeborenen. So ist es auch hier, auf dem Kirchhof von St. Laurentii in Süderende auf der Nordseeinsel Föhr. - Das Siegel auf der Platte zeigt uns nun unter allerlei Ranken einen blasenden Wal, der aus den Eismeerfluten taucht. Über einem geflügelten Harnisch steht als junge Frau die Glücksgöttin „Fortuna maris" und hält ein geblähtes Rahsegel in den Wind. Der lateinische Text dazu, wahrscheinlich noch selbst vorformuliert, lautet: „Matthias Petersen, geboren in Oldsum, den 24. Dezember 1632 - gestorben, den 16. September 1706. Der Schifffahrt nach Grönland höchst kundig, wo er mit unglaublichem Erfolg 373 Walfische gefangen hat, so dass er nach aller Urteil den Beinamen des Glücklichen erhalten hat. Und Ehefrau Inge Matthiesen, geboren, den 7. Oktober 1641 - gestorben, den 5. April 1727. Ruhig im Tode ist, wer weiß, dass er aus dem Tod wiedergeboren wird. Tod kann dies nicht genannt werden, sondern ein neues Leben."

Matthias Petersen ist als „glücklicher Matthias" in die Annalen jener Inseln gegangen. Schon als Zwanzigjährigem wird er mit seinem ersten Kommando über einen Walfänger betraut. Die Navigationskunst hat er beim Pastor im Süderender Pfarrhaus gelernt. Bis in sein siebzigstes Jahr hat der „glückliche Matthias" dann seine Mannschaften in die Walgründe des Eismeers geführt. Seine Frau Inge muss Jahr für Jahr um das Leben ihres Mannes bangen, mal kentert er, mal wird er von Piraten aufgebracht. Und doch kehrt er im Herbst immer wieder auf seine Heimatinsel zurück: „Seht, da geht er, der Glückliche, Matthias!" In regelmäßigen Abständen von zwei Jahren hat Inge Matthiesen dem Kapitän dann zwölf Kinder geboren. Ansehen und Wohlstand der Kommandeursfamilie wachsen: 373 Wale - so viele kann keiner vorweisen. Die nächsten Konkurrenten von den Nachbarinseln Sylt und Amrum bleiben knapp unter der Hälfte: Der „glückliche Matthias" ist der erfolgreichste Walfänger der Nordfriesen! (nach: Uwe Steffen, Der erfolgreichste Walfänger der Nordfriesen. Matthias der Glückliche und seine Zweit, Bredstedt 2009)


2.

Matthias Petersen wird gewiss über seinen „unglaublichen Erfolg" nachgedacht haben, von dem sein Grabstein erzählt. Woher dieses außergewöhnliche Fangglück? Und was ist das: „Glück"? Warum fällt es dem einen überreich zu und bleibt dem anderen versagt?


Seeleute sind sich der Launen solchen „Glücks" bewusst, wenn sie durch die Stürme müssen, oder die Netze wieder einmal vergeblich auswerfen und nach langer Fahrt mit leeren Kammern in den Hafen laufen. Und das nicht nur auf Nordseeinseln - auch auf dem See von Genezareth sind Fischer unterwegs mit wechselndem Fangglück, und der HErr mit ihnen im selben Boot!

 

Waren solche Seeleute im christlichen Glauben verwurzelt, und auch für den „glücklichen Matthias" dürfen wir davon ausgehen, so schlagen sie den Bogen vom versagten oder gewährten „Glück" eine Reise hin zu Gott. Noch zu Zeit des Walfangs findet sich im Journal, dem persönlichen Tage- und Logbuch, eines anderen Föhrer Kommandeurs eine kleine und kluge Abhandlung über das „Glück": „Der liebe Gott teilt seine Güter und Gaben auf ungleiche Weise unter uns Menschen aus, einem gibt er viel, dem anderen gibt er wenig. Aber hierin handelt er gütig und weislich. Es hat seiner Weisheit gefallen, uns diesmal bei unserer Fischerei meist vergeblich arbeiten zu lassen. Er hat uns aufs Neue gezeigt, dass zum Laufen nicht hilft schnell zu sein; zur Nahrung hilft nicht geschickt zu sein; zum Reichtum hilft nicht klug zu sein, sondern es liegt alles an der Zeit und Glück. Dies Glück stehet weder in unserer, noch in anderer Menschen Macht, nach ihrem Gefallen zu lenken, sondern Glück und Unglück, viel fangen und nicht fangen, das kommt von Gott und beruht allein auf seiner alles regierenden Vorsehung." (Hinrich Brodersen, 1778). Auch Matthias Petersen ist Christ gewesen. Er glaubt nicht an das Glück als wankelmütige Macht, die unser Leben bestimmt, auch wenn er sich „Fortuna maris" für sein Siegel wählt. Er glaubt an Gott. Und für Christen ist „Gnade", was andere „Glück" nennen. Selbst wenn wir in der Umgangssprache vom „Glück" sprechen und mit Glücksgöttinnen spielen. Letztens ist es uns kein Zufall, sondern Fügung!


3.

„Gott nahe zu sein ist mein Glück" heißt es in Psalm 73. Die Frage nach dem „Glück" treibt also schon die biblischen Glaubensmenschen um, die lange vor Matthias und die noch länger vor uns lebten!

Hinter dem Wort „Glück" verbirgt sich Wohlergehen in allen Bezügen: Wohlstand und Gesundheit, gelungene Partner- und Elternschaft, Erfolg im Beruflichen und Sicherung des Erworbenen, Ansehen und ein gutes, langes Leben. „Glück" in diesem Sinne hat große Nähe zu „Segen" und „Freude". In der Übersetzung Martin Luthers lautet der Psalmvers denn auch: „Das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte..."


„Gott nahe zu sein ist mein Glück" soll nun die Jahreslosung für 2014 sein - das Bibelwort, das uns am Anfang des Neuen Jahres zugesagt wird und dass uns hier so eindringlich gepredigt ist, dass wir es dies ganze Jahr nun mit uns tragen.


„Gott nahe zu sein ist mein Glück" - das ist ein Bekenntnis und wie alles echte Bekennen aus der Not geboren:

„Mein Herz war verbittert,

mir bohrte der Schmerz in den Nieren;

ich war töricht und ohne Verstand,

war wie ein Stück Vieh vor dir, Gott" - so spricht uns der oder die unbekannte Beterin des Psalms vor. Diese Verbitterung rührt in der ungleichen Verteilung des Glücks - die, die es am wenigstens verdienen, denen geht es am besten:

„Ich habe mich über die Prahler ereifert,

als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging.

Sie leiden ja keine Qualen,

ihr Leib ist gesund und wohlgenährt.

Sie sehen kaum aus den Augen vor Fett,

ihr Herz läuft über von bösen Plänen.

Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum."

Über solch himmelschreiende Ungerechtigkeit straucheln nicht nur biblische Menschen. Die Rechnung: gottgefälliges Leben gegen Wohlstand und -befinden ist auch uns tief vertraut und gleichzeitig noch selten aufgegangen!

„Also hielt ich umsonst mein Herz rein

und wusch meine Hände in Unschuld.

Und doch war ich alle Tage geplagt

und wurde jeden Morgen gezüchtigt."

Das eigene Tun der Weltweisheit aber anpassen und selbst handeln wie die „Frevler" - das hebräische Wort ist schärfer, meint „Kriminelle, Verbrecher"! - kommt doch nicht in Frage, wäre „Verrat" an den „Kindern", an dem, was der nächsten Generation als richtig und wahr mit auf den Weg zu geben ist. Und so frisst sich das Gefühl von Gott ungerecht behandelt zu werden, nicht den dem eigenen Guttun entsprechenden Teil des großen Glückes zu bekommen, durch die fromme Seele. Erst in der Ruhe des Tempels, im „Heiligtum" wird der rasende, vermeintlich gerechte Zorn des Beters, der Beterin gestillt - im Nachdenken über Werden und Vergehen, Kommen und Gehen der Menschen, der Endlichkeit aller Dinge:

„Ja, du stellst sie, die Frevler, die Verbrecher, auf schlüpfrigen Grund,

du stürzt sie in Täuschung und Trug.

Sie werden plötzlich zunichte,

werden dahingerafft und nehmen ein schreckliches Ende,

wie ein Traum, der beim Erwachen verblasst,

dessen Bild man vergisst, wenn man aufsteht."


Das Unglück des biblischen Beters, der biblischen Beterin kommt aus dem Vergleich!

Leider sind wir Menschen nie frei davon. Es ist eine äußerst missliche Eigenschaft, die viel Kummer bringt, das eigene Leben permanent in Beziehung zum Leben anderer zu setzen: „Hat die mehr als ich, ist der stärker, klüger, schöner? Fällt dem mehr zu als mir, ist mein Weg dorniger als ihrer, meine Kinder wohlgeratener, mein Haus schöner, mein Auto schneller, meine Renommee größer, hab ich meinen Anteil...?" - Wären wir mehr bei uns, uns bliebe viel Unglück erspart! Auf der anderen Seite ist ja die Wahrnehmung des Beters ebenso betrüblich wie richtig, dass es den größten Schuften oft für unerträglich lange Zeit sehr gut geht und sie ihr Wohlergehen auf Kosten anderer erwerben. Trotzdem ist der Beter, die Beterin mit der Triade auf dem Holzweg, denn das Glück liegt nie in Dingen - es liegt in der Nähe! Das ist nebenbei ein schönes Wortspiel, denn das Glück ist meist zum Greifen nah. Das Glück ist nicht das ferne Ziel - es ist wahrscheinlich nicht einmal das Ziel, sondern das, was nur dann ein befriedigende Weile bleibt, wenn es sich grundlos einstellt.


Das Glück finden wir, wenn wir uns selbst nahe sind - nicht uns selbst die Nächsten, sondern uns selbst nahe, ein wichtiger Unterscheid! Wenn wir in dem, was wir tun, bei uns sind, wenn es uns leicht fällt, wenn es fließt und einfach ist. Wenn wir eine Zufriedenheit spüren, die nicht aus einem „mehr als andere" kommt, sondern aus sich selbst, dann sind wir uns selbst und dem Glück nahe.

Das Glück kommt ferner zu uns im anderen, in der anderen, in den anderen, die unser Leben teilen. Zum glücklichen Leben gehören bestimmt auch Momente des Alleinseins, aber wir sind Beziehungswesen und als solche auf ein Du uns gegenüber angewiesen. Auch einmal für sich alleine glücklich sein, kann nur, wer um eine Gemeinschaft, einen Freundeskreis, eine Familie weiß, die das Eigene trägt. Sonst ist man einsam - und das ist ein Unglück.

Das Glück kommt uns endlich nahe, wenn uns Gott begegnet. Gott führt uns über das eigene Kreisen hinaus, lenkt unseren Blick noch einmal aus anderer Warte auf den Nächsten und stellt unser eigenes kleines Leben so in einen großen Zusammenhang. Wenn Gott uns nahekommt, wir diese Nähe zulassen oder von ihr überwältigt werden, erfährt unser geschöpfliches Sein von seiner wahren und eigenen Würde. Aus eigener Kraft, aus eigenem Vermögen können wir dem Leben keinen Halt und wohl auch keinen Sinn geben. Alles entgleitet irgendwann, in Gott kommt es zum Ziel. Zum Glück!



4.

373 Wale sind nun ohne jeden Zweifel beeindruckend - wie so vieles, was Menschen schaffen, können und erreichen beeindruckend ist. Aber auch dieses „Glück" von Matthias Petersen, dem Föhrer Walfangkommandeur, hat natürlich nicht nur Bewunderer gefunden. Und auch aus heutiger Sicht ist dies Ergebnis natürlich ambivalent - der Walfang war bestimmt auch Naturfrevel! Neider waren damals schnell auf dem Plan und mit den Nachbarn seines Heimatdorfes war Matthias in kostspielige Händel verstrickt. Seiner Kirche in Süderende hat er trotzdem die zwei kostbaren Messingleuchter gestiftet, die noch heute dort strahlen. Und mit dem freundlich zugeneigten Pastor wurde vereinbart, dass gegen eine Zahlung von 100 Reichstalern seine Grabstätte nicht draußen auf dem Friedhof liegen solle, sondern dicht beim Altar. Allein den Erben stand dies Vermögen bald nicht mehr zur Verfügung und sie konnten die Selbstverpflichtung des Vaters nicht halten. Die Grablege des „glücklichen Matthias" samt den sterblichen Resten wurde deshalb posthum aufgehoben und seine Grabplatte steht nun, an den Ecken gestutzt, aufrecht auf dem Kirchhof. Kein glückliches, rühmliches Ende!


„Glücklich" ist Matthias Petersen also allein wegen der 373 Wale nicht zu nennen. Das Glück liegt nie in Dingen, in Zahlen und Erfolgen, die sind wechselhaft, selbst bei den Glücklichsten - es liegt in der Nähe!

Zum „Glücklichen" wird Matthias, weil er einen Beruf ausübt, bei dem er sich selbst nahe ist und der seinen Gaben entspricht: Navigieren kann man lernen, aber zum Führen eines Schiffes muss man geboren sein! Und einen „Riecher" muss man haben für die Wale und intuitiv, ohne sie zwingen zu wollen, spüren, wo sie aus den Fluten tauchen.

Zum „Glücklichen" wird Matthias, weil seine Frau Inge sein Leben teilt und zwar in solcher Nähe, dass daraus zwölf Kinder werden. Von denen leben manche noch, als er stirbt, und diese Töchter und Söhne tragen ihrer Eltern Linie fort bis heute.

Zum „Glücklichen" wird Matthias, weil er weiß, wovon sein Grabstein kündet - gleich, wo nun die Grablege ist: dass er „aus dem Tod wiedergeboren wird" in ein „neues Leben", und wenn sich die Kronen der knorrigen Wegbäume auch ewig landwärts neigen, die winterlichen Felder traurig grau daliegen und die Dohlen ungerührt um den Turm von St. Laurentii kreisen.


„Gott nahe zu sein ist mein Glück" - nahe sein: sich, der anderen, dem EINEN. Ein gutes Wort, ein gutes Ziel fürs Neue Jahr auf See und auf den Inseln - überall, wo Menschen sind.

Amen.



Pastor Michael Ebener
Göttingen
E-Mail: michael.ebener@refo-goettingen.de

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