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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2014

Jahreslosung 2015; Röm.15,7 , verfasst von Uland Spahlinger


Die Zeit scheint wieder einmal reif zu sein, liebe Gemeinde: reif für eine Besinnung auf das, was wir als Christenmenschen der Welt schuldig sind.


Die Zeit scheint wieder einmal reif zu sein für ein Heraustreten aus dem ständigen, besinnungslo­sen „Weiter so“.


Die Zeit scheint reif zu sein, zu unterscheiden: zwischen Unsinn und Sinn, zwischen Zündeln und Lö­schen, zwischen dumpfer Ausgrenzung und bedachtsa­mer Gastfreundschaft, zwischen subkutaner Gewalt­bereitschaft und offenkundigem Friedens­willen.


Die Zeit scheint reif zu sein für ein Wort der Er­munterung, der Aufforderung, der Richtungsanzei­ge. Die Jahreslosung für 2015 ist so ein Wort.


„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ (Röm. 15,7). Sie steht gegen Ende eines langen Briefes, den Paulus an die römi­sche Gemeinde gerichtet hat: Ein Empfehlungs­schreiben, wird immer wieder gesagt, ein Brief, mit dem er sich der ihm unbekannten Gemeinde in Rom vorgestellt hat.


Anders als seine übrigen verbürgten Briefe ist dieser denn auch keine Fortführung von Kontakten, keine Auseinandersetzung im Konfliktfall, keine Erinnerung an gemeinsame Er­fahrung, kein Entwi­ckeln gemeinsamer Pläne. Nein, Paulus wird grund­sätzlich – er stellt den großen Kosmos seiner missionarisch-christologischen Theo­logie dar, für Menschen, die er noch nie zuvor ge­sehen hatte. In diesem Brief steht am Anfang die Botschaft von der Rechtfertigung, die Gottes freie Gnadentat ist. Diese Botschaft setzt er in scharfen Kontrast zum jüdischen Gesetzesglauben, dem er letztlich vor­hält, er bringe die Menschen dazu, sich aufgrund ihrer Werke vor Gott recht­fertigen zu wollen. Die­sen Glauben sieht Paulus mit Kreuzestod und Aufer­stehung Jesu als Irrglau­ben, als Irrweg entlarvt. Denn er hat erfahren: Du kannst dich vor Gott nicht gerecht machen – aber du musst es auch nicht. Dein Glaube verlangt keine Vorgabe von dir, er fordert deine Antwort heraus. Die Vorgabe hat Gott längst gemacht, eine Vorgabe, die allen gilt, Juden wie Nichtjuden gleichermaßen.


Und deshalb warnt Paulus die Römer nachdrücklich vor Abgrenzungen und Ausgrenzungen und vor wech­selseitiger geistlicher Überheblichkeit: denn er weiß offenbar, dass auch in der römischen Gemein­de, Menschen mit jüdischem wie mit anderem Glau­benshintergrund versammelt sind. Stattdessen macht er stark, dass die einen in den anderen ihre Schwestern und Brüder sehen und erkennen sollen, dass die Starken Rücksicht nehmen sollen auf die Schwachen, dass Glaubensaussagen und Alltagsleben aufeinander bezogen sein sollen – sind sie doch miteinander die Antwort auf Gottes Barmherzigkeit. Sein Schlüsselwort ist – wie auch in anderen Zu­sammenhängen – die Liebe: die Liebe nämlich, die dem anderen mit höherer „Ehrerbietung“ (Röm. 12,10) begegnet, ja: zuvorkommt. „Respekt“ oder „Achtung“: das wären andere Begriffe für das, was Paulus hier meint – aber das alles nicht, weil der andere sich meinen Respekt zuvor verdient hätte oder gar verdienen hätte müssen. Nein, es genügt dem Apostel völlig zu wissen, dass der oder die andere auch zur Gemeinde gehört. Denn die Gemein­de, das ist sein Bezugsrahmen. Und seine Erfahrung lehrt ihn, dass schon innerhalb der Gemeinde genug Zündstoff vorhanden ist, um das geschwisterliche Miteinander in Asche und Rauch aufgehen zu lassen. Dogmatische Unduldsamkeit, Geltungssucht, geistli­che Sonderwege, Misstrauen, Beschädigung der Glaubwürdigkeit, Eitelkeiten, das Streuen von Ge­rüchten: es braucht nicht viel, um eine Glaubens­gemeinschaft zu beschädigen. Paulus weiß das. Und so stellt er den Judenchristen die Heidenchristen an die Seite, weist die Starken an die Schwachen, mahnt zur Gastfreundschaft, erinnert an das Bewah­ren der Botschaft und ans Gebet – und macht all das an der Liebe Gottes fest, die sich in Tod und Auferstehung Jesu offenbart haben. Endgültig, ein für allemal.


Und deshalb ist es für ihn eine logische und nicht einmal besonders herausfordernde Konsequenz zu sa­gen: „Nehmt einander an, wie Christus euch ange­nommen hat zu Gottes Lob.“ Wenn ihr miteinander ehrerbietig, achtsam und liebevoll umgeht, dann spiegelt euer Leben eigentlich nur wider, wie Gott sich euch sowieso schon gezeigt hat und immer wei­ter zeigt. Eine dergestalt achtsame Haltung ist für ihn tatsächlich nicht mehr als die Antwort des Glaubens auf Gottes Rettungstat.


Aber diese Rettungstat musst du dir erst einmal gefallen lassen. Du musst ja dazu sagen, dass Gott an dir so gehandelt hat. Du musst dich herausfüh­ren lassen aus dem Hamsterrad der permanenten Selbstbestätigung, der beruflichen und privaten Leistungsschau, dem Zwang, das ewige Leben – oder wenigstens die ewige Jugend – selbst produzieren zu sollen. Und anders als Paulus damals weitet sich für uns heute der Blick: wir schauen nicht mehr nur auf die kleine eigene Diasporagemeinde, unser Spielfeld ist die Gesellschaft in der Stadt und im Land, unser Bezugsrahmen ist die eng ver­netze globale Familie, ob wir das wollen oder nicht. Schon die Tatsache, dass das Christentum eine weltweite Gemeinschaft darstellt und wir Ge­schwister in aller Herren Länder haben, macht die­se Öffnung des Blicks unverzichtbar. Aber genauso gilt für uns auch die Einsicht, dass jeder Mensch – jeder Mensch – nach unserer Glaubensüberzeugung und nach den Grundsätzen des westlichen Wertekan­ons gleiche Würde genießt, egal woher er kommt, welche Sprache sie spricht, welcher Religion und Kultur er zugehört, welchen Geschlechtes oder wel­cher sexuellen Orientierung er oder sie ist.


So zeigt sich die Antwort des Glaubens auf Gottes vorauslaufende Barmherzigkeit in unserer Haltung gegenüber unseren Mitmenschen: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“


Das beginnt in Ehe und Familie: Leben Mann und Frau partnerschaftlich, oder wird ein Teil vom an­deren benutzt und ausgebeutet? Bekommen Kinder in der Erziehung die Chance, eigene selbstbewusste, sozial handlungsfähige Menschen mit guter Bildung und einer guten Zukunftsperspektive zu werden, oder kreisen über ihnen „Helicopter Mom“ und „He­licopter Dad“? Können wir uns gegenseitig loslas­sen, oder klammern wir?


Aber es geht weiter. Nehmt einander an: gilt das für radikale religiöse Eiferer in unserem Land, etwa für Salafisten oder die, die sich zur IS oder den Taliban rufen lassen? Viele würden da doch zu­rückzucken. Die sind doch eine Bedrohung für unser Gemeinwesen, oder nicht? Die Frage wäre vielleicht auch anders herum zu stellen: Was ist passiert, bis es für einige zu solcher Radikalisierung kam? Sind sie vielleicht vorher nicht so „angenommen“ worden, so willkommengeheißen worden, wie es sinn­voll und gut gewesen wäre? Müssten wir nicht – je­der für sich und alle gemeinsam – darüber nachden­ken, was das heißt in unserem Land: „einander an­nehmen“? Nicht dass ich mir eine schlüssige Ant­wort oder gar ein Konzept anmaßen würde: Aber die Frage muss gestellt werden in unserem Land mit seinen vielen Kulturen, Sprachen, Glaubensüber­zeu­gungen. Und sie wartet auf konstruktive Antworten.


Nehmt einander an, das müsste dann auch gegenüber den Mitmarschierern der „PEGIDA“-Demonstrationen gelten, die da, in sinnentstellender Manier christliche Advents- und Weihnachtslieder singend, ihrer Gesprächsverweigerung und Abgrenzungswut und ihrer diffusen Veränderungsangst Ausdruck geben. Auch sie müssten „angenommen“ werden, nicht in ih­ren Positionen, wohl aber in einer freundlich-kon­frontierenden Weise, die das Gespräch, den Dis­kurs, die Auseinandersetzung sucht und Fakten von Fiktionen trennt. Schwierig, das sehe ich wohl, wenn du Menschen gegenüberstehst, die gar nicht mehr reden wollen, die dem Reporter das Mikrofon wegschlagen und dem Kameramann sein Arbeitsgerät ins Gesicht drücken. Da braucht es Kraft und Ge­duld, das Gespräch zu suchen. „Nehmt einander an“.


Genau so schwer wird es sein, wenn in eine Stadt, in ein Dorf zu den Gutwilligen und Hilfsbereiten eben keine Flüchtlinge geschickt werden, keine Menschen aus den erkannten und anerkannten Kriegs- und Krisengebieten, die traumatisiert sind und tatsächlich Schutz und Hilfe brauchen – wenn statt ihrer Asylbewerber kommen aus Ländern, in die sie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zurückge­schickt werden, weil dort keine Gefahr zu erwarten ist. Helfen ja – aber den Richtigen, so denken viele, und das ist gut verständlich. Aber auch die Anderen werden in Turnhallen untergebracht, auch die Anderen kennen sich nicht aus, auch die Ande­ren brauchen Decken, warme Kleidung, Seife und Zahnpasta, etwas zu essen....


„Nehmt einander an“ - auch auf die Gefahr hin, dass ihr euch ausgenutzt fühlt. Ich glaube tat­sächlich, Paulus würde in seinem Denken so weit gehen. Und warum? Weil er weiß, dass „Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“.


Nun trägt die Jahreslosung eine spannende Frage in sich: nämlich ob wir einander annehmen sollen „zu Gottes Lob“ oder ob Christus uns angenommen hat „zu Gottes Lob“? Oder gilt beides?


In seinem Handeln und Reden, in seinem ganzen Le­ben hat Christus Gott die Ehre gegeben. Er hat in der Tat die Menschen angenommen zum Lob Gottes. Das kann man mit Fug und Recht sagen. Und das legt Jesus auch uns ans Herz: Nach seiner Erzählung vom barmherzigen Samariter fragt er seinen Gesprächs­partner „wer, meinst du, ist dem Überfallenen der Nächste gewesen?“, und erwidert auf die Antwort „der Barmherzigkeit geübt hat“: „dann geh und handle ebenso“. „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“


Wir werden als Einzelne nicht die ganze Welt ret­ten, das ist nicht zu schaffen und das fordert auch niemand. Wir sind aber gerufen, ernst zu ma­chen mit einer Ethik, mit Handlungsgrundsätzen und mit einer Alltagspraxis, die ja sagt zu dem Ge­schenk der Barmherzigkeit und Gnade, das Gott uns gemacht hat. Wir sind gerufen, unsererseits Zei­chen zusetzen, sichtbare Zeichen, dass ein barm­herziges und mit-fühlendes Leben möglich ist – da wo wir gerade sind. Was das genau bedeutet, wie das im Detail gehen kann, dafür gibt es keine all­gemeine Regel. Es gilt, von Situation zu Situation zu prüfen, was angemessen und notwendig ist. Die Jahreslosung kann uns aber als Leitwort dazu die­nen, diese Prüfung immer wieder vorzunehmen und so „danke“ zu sagen. Und so kann sie uns ein guter Begleiter werden im neuen Jahr, durch die Wochen und Monate hindurch, auf unseren Wegen des Glau­bens und des Lebens.


Amen.




Dekan Uland Spahlinger
Dinkelsbühl
E-Mail: uland.spahlinger@elkb.de

Zusätzliche Medien:
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