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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2014

Jahreslosung 2015;Röm.15,7, verfasst von Gert-Axel Reuß

Echte Freunde[1]

Kailash Satyarthi, Indien


F. L., Norddorf (in meiner Predigt werde ich den Namen des Flüchtlings
nennen)


Papst Franziskus, Rom


„Manni", Ratzeburg

Ulli Hoeneß, Landsberg[2]


...



Nehmt einander an, wie Christus
euch angenommen hat, zu Gottes Lob.
(Röm
15,7)


Liebe Gemeinde,

im Matthäusevangelium gibt es eine berühmte Aufzählung der Werke der
Barmherzigkeit:

Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.

Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben.


Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 


Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.

Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht.


Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. 


(Mt 25,35 + 36)

Sie endet mit der Feststellung: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen
geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (V. 40)

Das eigentlich Verblüffende im Gleichnis vom Großen Weltgericht ist die
Selbstverständlichkeit, mit der Menschen ihr Mitgefühl zeigen und tatkräftig
helfen.

Immer wieder treffe ich oder höre ich von Menschen, die mich in Erstaunen versetzen, weil sie mit einer Leichtigkeit, wie ich sie auch in den Seligpreisungen finde, etwas Richtiges, etwas Notwendiges, etwas Not wendendes tun.

"Haben wir den Mut, mit Zärtlichkeit die Schwierigkeiten und Probleme derer aufzunehmen, die uns nahe sind?", fragte Papst Franziskus bei seiner Weihnachtspredigt, nachdem er kurz vorher mit Flüchtlingen in einem kurdischen Lager telefoniert hatte.

Nehmt einander an, wie Christuseuch angenommen hat, zu Gottes Lob.


(Röm.15,7)



Ich möchte mit diesem Bibelwort beflügelt durch das neue Jahr gehen und genau dies wünsche
ich Ihnen auch.


Liebe Gemeinde,

natürlich sind mir auch eine Reihe Gegenbeispiele eingefallen. Ich will sie hier nicht
aufzählen. Was mir den größten Kummer macht, sind nämlich die inneren
Widerstände, die sich in mir selbst regen. Die Sorge, dass mir das Bibelwort
wie ein Mühlstein um den Hals hängen könnte.

Denn wie oft habe ich selbst die Bedürftigkeit anderer Menschen nicht wahrgenommen -
oder nicht wahrnehmen wollen. Wie oft bin ich konkrete Taten schuldig geblieben.



Liebe Gemeinde,

Paulus schiebt dieser Abwärtsspirale des schlechten Gewissens, die Taten der Liebe
nicht befördert sondern eher behindert, einen starken Riegel vor. Er erinnert
uns daran, dass Christus uns angenommen hat! Das ist das allererste. Dass es an
zweiter Stelle trotzdem gelegentlicher Ermahnungen bedarf, damit wir unsere
Trägheit überwinden und nicht in Lieblosigkeit verfallen, ist leider auch wahr.

Ein guter Baum trägt gute Früchte! behauptet Martin Luther. Man kann einen Baum
nicht dazu zwingen, zu blühen. Aber man kann Bedingungen schaffen, die eine
reichere Ernte wahrscheinlicher machen. Man kann den Baum beschneiden, ihn
wässern und düngen und möglicherweise einen Bienenkorb in die Nähe stellen.

Genau diese gärtnerischen Fähigkeiten legt Paulus an den Tag, indem er uns auf den
Zettel, hinter den Spiegel zu klemmen, schreibt: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.

„Christus hat euch angenommen! Und Ihr könnt dies auch, einander annehmen. Ihr habt es
doch selbst erlebt und tut es doch. Menschen begegnen euch mit Anteilnahme und
Freundschaft. Und Ihr tut dies auch. Merkt Ihr es denn gar nicht?" so höre ich den
Apostel sagen.



Liebe Gemeinde,
und so möchte ich dazu beitragen, das soziale Netz, in das wir integriert sind,
sichtbarer zu machen, indem ich frage:
In wessen Nähe fühlen wir uns wohl?
Wen haben wir gerne um uns herum?


Bei wem erfahren wir Annahme und Geborgenheit?

Es gibt sie doch, Menschen, auf die wir uns verlassen. Wie gut, dass wir sie haben!
Eltern und Kinder gehören dazu, Freundinnen und Freunde, die für uns da sind. Und
umgekehrt: Natürlich tun wir - wenn die Rahmenbedingungen stimmen - ganz
selbstverständlich, was wir können.


Auch Nachbarn und Arbeitskolleginnen gehören zu den Menschen, mit denen wir unser
Leben teilen. Hoffentlich gerne teilen. Wie gut, wenn es diese Gemeinschaft
gibt, in unseren Straßen und Dörfern, Städten. Auch in unserer Kirche. Ein
Geben und Nehmen, geteiltes Leid und doppelte Freude.



Sein, wie ich bin. Sich nicht verstellen müssen. Manchmal wachsen wir gerade deshalb
über uns hinaus, können hilfsbereit und großzügig sein. Gemeinsam füllen wir
Sandsäcke zum Schutz gegen das Hochwasser der Elbe. Menschen in unserer Stadt
verschenken gebrauchte Fahrräder, die schon lange unbenutzt in der Garage
standen, an Flüchtlinge und reparieren sie mit ihnen zusammen.


Albrecht Gralle[3] schreibt über ‚Echte Freunde': „Bei Freunden kannst du nachts um halb drei klingeln und sie fragen: „Kaffee oder Tee?" Freunde kennen sich nicht in deiner Brieftasche aus, dafür aber in deinem Kühlschrank. Freunde geben dir im Winter ihr letztes Hemd und behaupten, sie
wollten sich sowieso gerade sonnen. Freunde machen es so ähnlich wie Gott: Sie
mögen dich so, wie du bist, trauen dir aber zu, dass du dich verändern kannst."Liebe Gemeinde,
Christus hat uns die Sorge um uns selbst abgenommen. Uns befreit von der Angst, zu kurz
zu kommen. - Ich möchte hinzufügen: Und tut dies noch! Denn für mich ist dieser
Vorgang keineswegs abgeschlossen. Ich wenigstens brauche jemanden, der mir
beisteht im täglichen Kampf mit mir selbst. Die ‚echten Freunde', in denen mir
Christus begegnet, die nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Bei denen ich
loswerden kann, was mir auf dem Herzen liegt, auch wenn ich im Unrecht bin.
Denn manchmal beginnt die Befreiung von unseren Irrtümern damit, dass wir sie
durchs Aussprechen loswerden können.
Ich glaube allerdings nicht, dass unser Ringen mit uns selbst eine gute
Entschuldigung ist, den Freundinnen und Freunden vorzuenthalten, was sie uns
geben. Ich bin mir sicher, dass auch sie mit sich kämpfen und uns brauchen, um
mit sich ins Reine zu kommen.

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.


Liebe Gemeinde,

manchmal erweisen sich fremde Menschen als ‚echte Freunde'. Das ist das eigentliche
Glück. Dass wir einander den Christusdienst tun können aus einer
Selbstverständlichkeit heraus, die nichts Künstliches, nichts Gewolltes, nichts
Erzwungenes hat. Natürlich können wir auch danebenliegen - und so denke ich,
dass nicht diejenigen, die etwas für andere tun, die Geeignetsten sind, ihre
Motive offenzulegen. Diejenigen, die einen Christusdienst empfangen, die
Annahme und Mitgefühl erfahren, sie können ihn identifizieren.

Im Gleichnis vom Weltgericht fragen die Seligen: „Wann haben wir dich hungrig
gesehen oder durstig ... ?" Was sie getan haben, geschah ganz selbstverständlich,
leicht, natürlich. Sozusagen ohne, dass sie es bemerkten.

Ich habe Herrn Hoeneß nicht im Gefängnis besucht, ihm nicht einmal geschrieben. Aber ich
bin doch froh zu hören, dass seine Freunde es tun. Vielleicht ist eine
Zeitungsnotiz, ein bericht über ihn (Ulli Hoeneß) ein Anlass, sich etwas Zeit
zu nehmen, mit dem älteren Mann in der Nachbarschaft zu sprechen. Wer
weiß, wie viele Gespräche er in der Woche führt?

Wie oft gehe ich an „Manni" vorbei, seine Bettelei ist mir lästig. Im Grunde möchte ich
ihm kein Geld geben für die nächste Flasche Bier. Aber was hindert mich daran,
gelegentlich ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Ihn als Menschen wahrzunehmen.
Vielleicht schenke ich ihm doch einmal eine Flasche Bier, von mir selbst
gekauft (aber seine Marke!).

Möglicherweise wird die zuständige Behörde den Flüchtling Kifleyesus
Ghebrezghi ausweisen, weil ein anderes Land für sein Asylverfahren zuständig
ist. Aber jetzt ist er hier und kann ein Fahrrad gebrauchen. Ich erfahre, dass
er sich nach seiner Familie sehnt, aber auch, dass er für sich in seinem
Heimatland keine Lebensmöglichkeiten sieht.


Der indische Bürgerrechtler und Aktivist für die
Bildung und die Rechte der Kinder Kailash Satyarthi hat den Friedensnobelpreis
2014 erhalten. - Ich nehme mir vor, mich beim Kauf meiner Kleidung zu
erkundigen, wo und wie sie produziert wird.
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.
Ich wünsche uns allen ein gutes Neues Jahr unter Gottes Segen.


Amen.









[1]
s. unten, Anmerkung 3


[2]
(Ich lese zu Beginn eine Aufzählung von Namen, die den örtlichen Gegebenheiten
angepasst werden sollten. K. S. hat den Friedensnobelpreis erhalten, F. L. ist
ein Flüchtling aus dem Sudan, dessen Schicksal in der Lokalzeitung beschrieben
wurde, „Manni" ist ein stadtbekannter Obdachloser. Ich füge weitere Namen hinzu
- zunächst ohne weitere Erklärung. Mir ist bewusst, dass die
Gottesdienstbesucher nur einige Namen zuordnen können. In der Liste wechseln
„Barmherzige" und „Bedürftige" in loser Folge ab.)


[3]
gefunden
in: Freude - Schätze aus 20 Jahren „Der andere Advent", Hamburg 2014, S. 37



Dompropst Gert-Axel Reuß
Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

Zusätzliche Medien:
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