Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2014

Jahreslosung 2015; Röm.15,7, verfasst von Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Gemeinde,


heute beginnt es, das neue Jahr. Und es sind möglicherweise ganz gemischte Gefühle, mit denen wir in dieses Jahr gehen. Die einen sind voller Tatendrang und freuen sich auf das, was 2015 bringen wird. Vielleicht sind schon jetzt besonders schöne Ereignisse absehbar.
Der Eintritt in den heiß ersehnten Ruhestand. Der Abschluss der Schule oder eines Studiums. Ein runder Geburtstag, der Anlass bietet, sich einmal richtig feiern zu lassen. Oder sogar eine Hochzeit, die bevorsteht. Die Geburt eines Kindes, das sich ankündigt.


Andere schauen eher mit Bangen auf dieses Jahr. Vielleicht sogar mit dem Blick auf die gleichen Ereignisse. Weil der Abschluss der Schule oder des Studiums eben kein Anlass zur Vorfreude ist, sondern angesichts der damit verbundenen Prüfungen Unsicherheit oder gar Panik verursacht. Vielleicht auch die bange Frage aufwirft, was eigentlich danach
kommt. Oder weil der runde Geburtstag höchst ambivalente Gefühle weckt. Weil
das Älterwerden Angst macht. Weil Träume zerstoben sind.


Viele von uns nehmen Anteil an den Ereignissen in der Welt - etwa indem wir uns in Politik und Gesellschaft engagieren. Aber - das wage ich zu behaupten - am Ende sind beim Blick auf das
neue Jahr das Wichtigste unsere persönlichen Beziehungen. Alles, was wir für
die Welt tun, hängt davon ab, ob wir in unsere eigenen Beziehungen eine feste
Basis haben. Wie könnten wir für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt
eintreten, wenn man in unseren eigenen Beziehungen davon nichts spürt? Wie
könnten wir uns für Kinder anderswo auf der Welt einsetzen, wenn wir unsere
eigenen Kinder vernachlässigen?


Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass einer der Erfolgstitel der letzten Jahre in der Musikszene genau davon handelt. „Muss nur noch kurz die Welt retten", singt Tim Bendzko, „danach flieg ich zu dir. Noch 148 Mails checken, wer weiß was mir dann noch passiert, denn es
passiert so viel. Muss nur noch kurz die Welt retten und gleich danach bin ich
wieder bei dir."


Weil wir alle wissen, dass die so karikierte Lebenshaltung der sicherste Weg ist, seine eigenen Beziehungen zu ruinieren, darum ist es gut, wenn wir am Neujahrstag 2015 innehalten und über unsere Beziehungen nachdenken.


Es ist ein guter Brauch, dass uns jedes Jahr ein bestimmtes Bibelwort als
Jahreslosung durch die kommenden zwölf Monate begleitet. Im Jahr 2015 kommt die
Jahreslosung aus dem Römerbrief, und in ihr ist genau davon die Rede - von
unseren zwischenmenschlichen Beziehungen: „Nehmt einander an" - sagt Paulus im
Römerbrief - „wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob."

Man muss nicht Psychologie studiert haben, um zu wissen, wie sehr dieses
Wort das Zentrum unserer Wirklichkeit trifft. Sich angenommen zu fühlen, sich
selbst annehmen zu können, ist die Quelle für gelingende soziale Beziehungen.
Das Wort des Paulus ist nicht nur theologisch zentral. Es ist auch ein sehr
weises Wort. Denn sich bedingungslos angenommen zu fühlen, gehört zu den
schönsten Dingen, die Menschen erfahren können.


Warum sind Hochzeiten etwas so Besonderes? Warum werden sie mit einem
solchen Aufwand gefeiert, manchmal mit romantischen Hollywood-Elementen fast
schon überfrachtet, bis die Phantasie von einer Traumhochzeit den Anspruch so
hochrückt, dass man ihn kaum noch erfüllen kann? Warum fließen bei Hochzeiten
Tränen? Ich glaube, es liegt an der Sehnsucht nach Annahme. Ich glaube, es
liegt daran, dass wir dieses bedingungslose Ja, das Braut und Bräutigam
einander zusprechen, für unser eigenes Leben ersehnen - auch ganz jenseits von
Trauzeremonien und romantischer Liebe.


Denn wir erleben ja oft das Gegenteil von bedingungsloser Annahme. Und
sie fällt uns selbst so schwer. Wir haben ein bestimmtes Bild vom Anderen, wie
wir ihn uns wünschen, wie wir ihn haben wollen. Und sind enttäuscht, wenn er
nicht so ist. Versuchen vielleicht immer wieder, ihn so zu verändern dass er in
unser Wunschbild passt. Manchmal scheitern Ehen genau daran, dass wir den
Anderen einfach nicht so annehmen können wie er ist.  

Auch im Verhältnis zu unseren Kindern steht uns die Unfähigkeit, den
Anderen anzunehmen, im Wege. Vielleicht haben wir ein festes Bild von dem, was
unsere Kinder sein sollen. Eine bestimmte Schule, die sie besuchen sollen, ein
bestimmter Notendurchschnitt, den wir erwarten, ein bestimmtes Maß an Ehrgeiz,
das sie entwickeln sollen. Und die Kinder spüren die Botschaft: Du bist nicht
so, wie ich es mir vorgestellt habe. Und sind entmutigt, fühlen sich unzureichend,
können sich selbst nicht annehmen.


Da ist es ein schwergewichtiger Satz, ein lebensentscheidender Satz, wenn
Paulus sagt: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes
Lob.


Man muss es sich nur einmal vor Augen malen, wie es wäre, wenn wir so miteinander
umgehen würden. Nicht mehr am anderen rumkritteln, sondern ihn so nehmen, wie
er ist. Seine Andersartigkeit, seine Ecken und Kanten nicht nur hin-nehmen, sondern
an-nehmen, vielleicht sogar lieben lernen. Seine Verletzlichkeit sehen und an
seiner Seite stehen.

Wenn ein Mensch weint, haben die meisten von uns das spontane Bedürfnis, ihm
beizustehen, ihn zu trösten. Aber vielleicht können wir ihm ja schon beistehen,
bevor er in Tränen ausbricht. Vielleicht können wir ja unsere Sinne offen
halten und spüren, wenn ein anderer innerlich weint. Und da sein. Ihn annehmen. Ihn stärken.


Anderen so zu begegnen, bekommt in dem, was die Jahreslosung ausspricht, einen tiefen
und festen Grund. Wenn ich einen anderen annehme, dann tue ich das, was ich
selber erfahren habe: Christus hat mich angenommen, und zwar unabhängig davon,
ob ich dessen würdig bin. Ich muss es mir nicht verdienen. Weil Christus es für
mich verdient hat, am Kreuz. Weil wir Christen heute in der Gegenwart unseres
Herrn das erfahren dürfen, was die Menschen zu Lebzeiten Jesu auch haben
erfahren dürfen.



Warum hatte Jesus eine solche Ausstrahlung auf die Menschen damals, warum hat der auferstandene Christus für uns heute eine solche Kraft? Der Grund ist, dass wir uns heute genauso wie die Menschen damals in den Tiefen unserer Seele von ihm angenommen wissen dürfen und es auch spüren. Viele biblische Geschichten erzählen davon, wie Jesus die
Menschen erreicht und verändert hat, weil sie seine unendliche Liebe gespürt
haben, weil sie sich mit Haut und Haar angenommen gefühlt haben.

Eine Gruppe Männer wollen eine Ehebrecherin steinigen. Jesus sagt: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Die Männer werden still und gehen davon. Die Frau hört Jesus sagen: Geh hin und sündige hinfort  nicht mehr. Und versteht. Ein Aussätziger wird von Jesus geheilt. Er fällt nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankt ihm. Weil Jesus die Grenze überwunden hat, die ihn von seinen Mitmenschen trennte. Und der Verbrecher, der  am Kreuz neben Jesu hängt,  sagt zu Jesus: Gedenke an mich, wenn du in
dein Reich kommst. Und Jesus sagt: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.


Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Ihr
habt das doch selbst erfahren dürfen - sagt Paulus - dieses wunderbare Gefühl,
dass ihr einfach sein dürft, dass ihr aus der Fülle leben dürft, weil ihr
bedingungslos geliebt seid. Strahlt es nun einfach selbst aus! Nehmt die
anderen an, so wie Christus euch angenommen hat! Seid darin Salz der Erde und
Licht der Welt!


Man schmeckt das Salz in diesen Tagen und man sieht das Licht. Am 3.
Adventswochenende bin ich in Vorra gewesen, dem mittelfränkischen Dorf, in dem
kurz zuvor eine Asylunterkunft in Brand gesetzt worden war. Ich habe mit dem
Kirchenvorstand  der evangelischen Gemeinde gesprochen, die alles vorbereitet hatte, um die erwarteten Flüchtlinge willkommen zu heißen. Ich bin mit Erschrecken gekommen und mit viel Hoffnung wieder weggefahren. Die Menschen haben nach dem Anschlag gesagt: Jetzt erst
recht! Und die Gruppe der evangelischen Gemeinde, die sich um Flüchtlinge
kümmert, ist jetzt sogar noch größer geworden.

Durch unser ganzes Land geht eine Welle der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge, die
hier ankommen. Ich sehe an vielen Orten, dass wir den Geist der Jahreslosung schon
verinnerlicht haben. Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat! Das
heißt: Hört auf mit der Ausgrenzung! Und lasst alle an der Gesellschaft
teilhaben. Hört auf mit der Spaltung! Und sucht nach Orten der Begegnung, wo
Menschen einander kennen lernen können! Hört auf mit der Abwertung anderer! Und
behandelt sie schlicht und einfach wie Menschen, die Wertschätzung verdienen
wie du und ich! Öffnet Euch für die Schwachen! Sie haben das gleiche Recht zu
leben wie ihr! Gebt ihnen ihre Würde zurück anstatt diese Würde mit dumpfen
Sprüchen zu untergraben! Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat!


Viele Menschen, die ehrenamtlich ihre Zeit, Kraft und Phantasie zur Verfügung stellen
tun genau das: Der pensionierte KFZ-Meister, der in einem Projekt seiner
Kirchengemeinde, mit jungen Flüchtlingen zusammen, alte Fahrräder repariert,
die dann an die Asylbewerberfamilien weitergegeben werden können. Die
alleinstehende Mitt-Vierzigerin, die sich zweimal in der Woche von
Zweitklässlern, die Schwierigkeiten in der Schule haben, in der Gemeindebücherei aus Kinderbüchern vorlesen lässt. Die junge Mutter, die vor ihrem Wochenendeinkauf immer den Einkaufszettel der 90-jährigen Nachbarin mitnimmt, und für sie besorgt, was sie braucht - und die dazu nur sagt: „Ich bin so dankbar für das, was ich habe, dass ich gerne wenigstens ein bisschen davon weitergebe!"


Liebe Gemeinde,


„Nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob!"


Dieser Satz ist nicht
irgendein moralischer Ratschlag. Es ist der Wegweiser für ein erfülltes Leben
im Einklang mit Gott, im Einklang mit den anderen und im Einklang mit sich
selbst. Gerade weil wir selbst immer wieder daran scheitern, ist die Quelle für
dieses erfüllte Leben so wichtig. Diese Quelle ist Christus selbst. Nicht
unsere eigenen kommunikativen Fähigkeiten. Nicht ein Trainingsprogramm mit zehn
Schritten zu einem glücklichen Leben. Und auch nicht irgendeine psychologische
oder spirituelle Selbstoptimierungsmethode. Sondern Christus selbst. Der bei
uns ist im Leben und in Sterben. In dem die Liebe ihre Kraft entfaltet. Von dem
uns nichts trennen kann.

Man sollte sie sich wirklich auf den Schreibtisch oder ans Bett legen, die Jahreslosung.
Und immer wieder darauf schauen. Denn sie wird uns und unseren Beziehungen das
ganze Jahr über gut tun: „Nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen
hat zu Gottes Lob!"



Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen
und Sinne in Christus Jesus.


AMEN



Vorsitzender des Rates der EKD Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm
München
E-Mail: ruediger.glufke@elkb.de

(zurück zum Seitenanfang)