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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Paul Gerhardt, 2007

„Fröhlich soll mein Herze springen" EG 36, verfasst von Ulrike Voigt

Weihnachten ist nach der Passionszeit die von Gerhardt mit den meisten Liedern bedachte Kirchenjahreszeit. Für das mit vielen Gottesdiensten gefeierte Fest brauchte man viele Lieder. Die Vielfalt an Liedern zu diesem Fest hat auch sachliche Gründe: der dominierende Charakter ist die Freude. Darum war und ist es bis heute mit viel Musik und Singen verbunden. Der Gesang der Engel nach der Verkündigung an die Hirten (Lk 2,14) ist Ur- und Vorbild christlicher Musik und weihnachtlichen Singens.

So setzt denn auch die Strophe 1 dieses Weihnachtsliedes beim Gesang der Engel ein, und zwar mit einer Aufforderung an das eigene Herz, das Zentrum der Person. Das Erheben des Herzens zu Gott (affectus cordis) war im orthodoxen Luthertum das Ziel aller Theologie. Die Worte der Weihnachtsfreude über Christi Geburt, der Jubel der ganzen Welt (alle Luft) sind in Anlehnung an Lk 2,10-12 (Freude/ fröhlich, Engel, Christus, heut, geboren) gestaltet. Im Gegensatz zu Luthers direkt erzählender Haltung in seinen Liedern (z.B. „Vom Himmel hoch", EG 24) spricht Gerhardt hier aus persönlicher, affektiver Betroffenheit heraus und fordert sich stellvertretend für alle Sänger auf, der Weihnachtsfreude Ausdruck zu verleihen.

Strophe 2 präzisiert die Weihnachtsbotschaft und entfaltet sie, indem sie den Weg Christi aus seiner göttlichen Welt beschreibt. Kammer und Gottes Held beziehen sich auf Psalm 19,6, die Kammer kann auch als Hinweis auf den Mutterleib von Maria verstanden werden (vgl. Er ging aus der Kammer sein in „Nun kommt der Heiden Heiland", EG 4,2). Der Sohn wurde dem Menschen zugute Fleisch, ein Blutsverwandter. Sinn und Zweck seiner Sendung ist es, die die Welt aus allem Jammer zu reißen. Dass Gottes erlösendes Handeln als reißen bezeichnet wird, ist typisch für Gerhardts theologisch-poetische Sprache (vgl. „Auf, auf mein Herz..." EG 112,6 sowie Amos 4,11, Ps 116,8 Luther alt).

Strophe 3 bis Strophe 6 reden in der „uns-" und „wir-Form". Die Gemeinde betrachtet nun das Weihnachtsgeschehen in Form von Fragen und Betrachtungen. Christologische Kurzformeln werden genannt und in ihrer Bedeutung bedacht.

In Strophe 3 wird die rhetorische Frage gestellt, ob Gott denn etwa die Menschen hassen könne. Gerhardt spielt mit dem Gegensatzpaar Hass und Liebe, um Gottes große Tat der Liebe herauszustellen - seinen über alles geliebten Sohn zu geben. Weitere rhetorische Fragen zu Gottes Handeln stellen die weggelassenen Strophen 4-5 im Originaltext (Sollt uns Gottes Sohn nicht lieben / Der jetzt kömmt,/ Von uns nimmt,/ Was uns will betrüben?). Gott hat uns sein Reich und sich selbst geschenkt!

Strophe 4: Die Erniedrigung in der Passion und der Stellvertretertod des Gottessohnes als Lamm Gottes (Jes 53) werden beschrieben: er stirbt für uns, um Gnade und Frieden bei Gott zu erwerben. Weihnachten wird schon mit Karfreitag verknüpft.

Strophe 5: Das in der Krippe liegende Kind spricht mich und dich, also alle, mit persönlichem Zuspruch an, der an den Heilandsruf erinnert (vgl. Mt 11,25). Das Quälende, das die Menschen fahren lassen sollen, ist vermutlich die Last der Sünde, die verlorene Gerechtigkeit vor Gott, die Unfähigkeit zum Guten. Dies alles hat Christus wiedergebracht. Dietrich Bonhoeffer schreibt über diese Liedzeile aus dem Gefängnis: Es geht nichts verloren, in Christus ist alles aufgehoben, aufbewahrt, allerdings in verwandelter Gestalt, durchsichtig, klar,  befreit von der Qual des selbstsüchtigen Begehrens. Christus bringt dies alles wieder, und zwar so, wie es von Gott ursprünglich gemeint war, ohne die Entstellung durch unsere Sünde..." (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. von Christian Gremmels. Gütersloh 1998 = DBW 8).
Süße Lippen: Süßigkeit ist ein Begriff aus der Mystik. Der Begriff, mit dem auch in den Psalmen das Wort Gottes charakterisiert wird (z.B. Ps 119,103), hat (noch) nichts Kitschiges. Die Süßigkeit Gottes kommt bei Gerhardt oft vor, häufig in Kombination mit der Schönheit Gottes (vgl. Strophe 10: Süßes Heil und EG 449,10 „Die güldne Sonne") und beschreibt das Verhältnis zu Gott in der verzückten Sprache der Liebe und Nähe. Gott ist gewissermaßen so nahe gekommen, dass man ihn schmecken kann. Die von Christus gesprochenen Worte sind süß, weil sie Heil und Trost bewirken.

Strophe 6: Die im ganzen Lied häufigen Verben der Bewegung werden in dieser Strophe intensiviert. Wie die eilenden Hirten in der biblischen Weihnachtsgeschichte (Lk 2, 15.16.) sollen alle in Scharen zur Krippe eilen. Die brennende Liebe des Gottessohnes (siehe auch Strophe 3) ist auf Gegenseitigkeit angelegt und entzündet alle, die zur Krippe kommen: Liebt den, der vor Liebe brennet! Der Stern erinnert an das Kommen der Weisen (Mt 2), er ist das Symbol für Licht und Erquickung.

Strophe 7-9 (im Original plus weitere 2 Strophen): die Sprechhaltung wechselt zur direkten Anrede, das Christkind spricht die an die Krippe getretenen Glaubenden selbst an.

Strophe 7: Nach altprotestantischer lutherischer Lehre ist das irdische Leben des Menschen durch Kreuz und Leid bestimmt, es gehört notwendig zum Leben hinzu, ja es dient dazu, im Glauben zu wachsen. Für alle Leidtragenden (ein Bezug auf die Seligpreisungen, Mt 5,4, siehe Strophe 9) - von denen gab es in den Jahren nach dem Dreißigjährigen Krieg, als das Lied entstand, unendlich viele - ist aber Hoffnung und Trost vorhanden: es öffnet sich neuer Lebensraum. Das Wort „schweben" bringt die Haltlosigkeit zum Ausdruck, in der Menschen sich befinden, wenn sie Leid erfahren müssen. Der predigende Dichter zeigt den Ausweg aus der Haltlosigkeit: Christus, die Tür zu der wahren Freude (vgl. Joh 10,9).

Strophe 8: Ein beschwertes Herz kann nicht springen vor Freude. Trost und Hoffnung gibt es aber auch für die, die belastet sind, durch Schuld und Gewissensnöte. Sie erfahren durch Christus Heilung ihrer vergifteten Wunden (Originaltext). Das Christusgeschehen wird als Handeln eines Arztes ausgelegt (vgl. EG 320,4 „Ein Arzt ist uns gegeben...").

Viermal stehen an gleicher Stelle, nämlich in der Mitte der Strophen 5-8, seelsorgerliche Einladungen, durch die Melodie unterstützt: Lasset fahrn - liebt den - fasst ihn - seid getrost!
In Strophe 9 wird, wie schon in Strophe 7, eine Seligpreisung aufgenommen (Mt 5,3). Neben den geistlich Armen ist sicher auch an die sozial Schwachen, die keinen Besitz haben, gedacht. Die Alliteration der aneinandergereihten Gaben Glauben, gute Gaben, Gold - letzteres erinnert an die Geschenke der Heiligen drei Könige - malt den geistlichen Reichtum, mit dem Gott die Hände füllt, mit Worten nach.
Die bittend ausgestreckten „Hände des Glaubens" werden frei, umsonst, gefüllt. Die Bittenden erhalten mehr als materielle Hilfe: die Fülle des Lebens. Was an Weihnachten geschehen ist, bezieht Paul Gerhardt vor allem auf die Wirklichkeit von Armut, Schuld und Leid. Diese Lasten kann der Mensch nach Weihnachten abgeben und empfängt dafür wahre Freude.
Die Strophen 5-9 sind eine ständig wiederholte Einladung in vielen Variationen.

Strophe 10 bis 12 wechseln von der Anrede der Glaubenden zum direkten Gespräch mit Christus, zu Gebet und Bekenntnis. Mit der Zuwendung zu Christus kommt das Weihnachtsgeschehen zu seinem Ziel. Das ganze Lied ist Übung und Vollzug des Glaubens. Strophe 10 drückt dies mit Bildern des liebevollen Körperkontaktes (Süßes Heil, siehe Strophe 5, umfangen, anhangen) aus, diese liebende Sprache hat Gerhardt häufig verwendet (vgl. EG 11,5 Wie soll ich dich empfangen). Der Glaubende legt (mit den Worten eines Trauversprechens: unverrückt) einen Treueschwur ab und bekennt, dass allein Christus sein Leben ist. In den folgenden zwei Strophen des Originals (eine davon ist im EG weggelassen worden) wird die neue, gerechtfertigte Existenz des Christen mit Kategorien der Sündenvergebung (Reinheit) und des Schmucks mit neuen Kleidern ausgedrückt. Diese neue Existenz versteht Gerhardt auch als Genuss, der das Leben wirklich lebenswert macht.

Strophe 12: Der Treueschwur zu Christus wird wiederholt und bekräftigt, indem er nicht nur auf die irdische Existenz, sondern auf die Ewigkeit angewandt wird: Christus ist der, an dem sich Glaubende im Leben und im Sterben festhalten können.
Die vorletzte Verszeile des Liedes, Voller Freud ohne Zeit bildet einen Chiasmus (X-förmige Verschränkung) mit der zweiten Verszeile der ersten Strophe, wo es heißt: dieser Zeit, da vor Freud. Ist in der ersten Strophe die Gegenwart mit der Botschaft der Engel im Blick, so wird hier spiegelbildlich eine Aussage über die Ewigkeit gemacht - dort werden dann nicht nur die Engel, sondern auch die Glaubenden nahe bei Gott sein und ohne Zeitbegrenzung Gott loben.
Das belastete Schweben im Leid (Strophe 7) wird sich endgültig in ein frohes Schweben mit Christus verwandeln. In seiner Gemeinschaft ist das Leben leicht. Mit dem Motiv des Schwebens wird auch noch einmal an die erste Strophe angeknüpft, in der die Engel (schwebend) die Weihnachtsbotschaft verkünden. Irdische und nachirdische Existenz will der Gläubige mit Fleiß mit Christus leben.

Mit dem Aufbau des Liedes hat sich Paul Gerhardt an das damals übliche Predigtschema gehalten: Einleitung (Str. 1), Nennung des Textes/ Themas  (Weihnachten, Str. 2), Auslegung (Str. 3-5), Anwendung (Str. 6-9) und Gebet (Str. 10-12). Durch die Interaktion des Singens sollte sich das ereignen, was sich an Weihnachten ereignet hat: die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch! Die meisten Kirchenjahres-Lieder Gerhardts haben diese Struktur: Erzählung der Heilstat, dann Aneignung durch den Gläubigen. Das Heil, das Gott geschaffen hat, wird zuletzt persönlich angenommen. Singt der Glaubende in der letzten Strophe „Ich will...", dann ist die Botschaft im eigenen Herzen angekommen, dann hat er sich das Weihnachtsevangelium angeeignet und ist in Gemeinschaft mit Gott.

Die Strophenform des Liedes hat Paul Gerhardt eigens geschaffen, um die Freude auszudrücken. Er hat sie ansonsten nur noch einmal verwendet (EG 370 „Warum sollt ich mich denn grämen?"). Die kurzen sich reimenden Wortfolgen nach der ersten Zeile sowie in der zweiten Strophenhälfte kann man als einen Vers (mit Binnenreim) oder zwei kurze Verse verstehen. Auf jeden Fall hat dieser Strophentakt etwas freudig Hüpfendes und Singendes, so dass sich die inhaltliche Aussage der Dichtung in Text- wie auch Tongestaltung spiegelt.

Der Text Paul Gerhardts war von Anfang an mit der noch heute bekannten Melodie von Johann Crüger verbunden. Sie lebt von der Nachzeichnung des Springens. Der Wechsel von halben Noten und Viertelnoten ist entscheidend. Nach einem gleichmäßigen „Anlauf" wird auf der dritten Note plötzlich gestoppt, gewissermaßen abgehoben, die nächsten Töne folgen schnell, wie beim Auslaufen nach einem Sprung. Vor allem in Strophe 6: Ei, so komm... wird auf ruhige Halbe gesungen, und lasst uns laufen auf zu diesem Verb der Bewegung passenden Viertelnoten. Der Aufforderung stellt euch ein in langsamen Noten folgt wiederum das rhythmisch beschleunigte eilt mit großen Haufen. Modulationen der Tonart zeigen den Übergang in die Freude an. Der betonte Terzschritt im achten Takt ist ein auffordernder Ruf zum Hören (siehe Strophe 5-8 jeweils mit Imperativen, Hört, hört... Strophe 1).
Genauso legen die Tonhöhen der Melodie den Text aus: wo es in Strophe 1 alle Luft heißt, wird der höchste Ton erreicht, hingegen bei der Schlusszeile Christus ward geboren zeichnet eine Linie von abwärtslaufenden Noten den vom Himmel abwärts führenden Weg des Gottessohnes in die Welt nach.

Der Text der Schlussstrophe erklingt als Choral im Teil 3 des Weihnachtsoratoriums von Bach. Durch die lutherische Rechtfertigungsbotschaft in diesem Lied kam der spätere Liederdichter Carl Heinrich von Bogatzky 1715 am zweiten Weihnachtstag beim Singen zum Glauben. Neben Dietrich Bonhoeffer wurde auch Jochen Klepper durch dieses Weihnachtslied in seiner lebensbedrohenden Lage getröstet:
Es war das erschütterndste Abendmahl, dessen ich mich entsinnen kann, denn während wir unter dem Weihnachtsbaum am Altar knieten - ... sang die übrige Gemeinde die Strophen von „Fröhlich soll mein Herze springen" - „Gottes Kind, das verbind't sich mit unserm Blute" - Sollt uns Gott nun können hassen" - „Sollte von uns sein gekehret, der sein Reich und zugleich sich selbst uns verehret?" ... Die Weihnachtslieder gehen uns nicht aus dem Ohr, nicht aus dem Herzen... Das schwere Weihnachten der unterworfenen Völker. (zitiert bei: Bunners, Liederkunde, siehe unten, S. 27).

Literatur:
Bunners, Christian: Fröhlich soll mein Herze springen. In: Gerhard Hahn/ Jürgen Henkys: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 10, Göttingen 2004, S. 23-27 (mit weiteren Literaturangaben).
Derselbe: Paul Gerhardt. Weg - Werk - Wirkung. Göttingen 2006, besonders S. 146-148.
Deichgräber, Reinhard: Nichts nimmt mir meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst. Göttingen 2006, S. 57-61.



Dr. Ulrike Voigt
Stuttgart
E-Mail: dr.u.voigt@web.de

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