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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2015, 2015

Dies sind die heil´gen zehn Gebot (EG231), verfasst von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

Das gemeinsame Singen im Gottesdienst war nicht immer selbstverständlich. Martin Luther musste zunächst schlimmen Zuständen beim Opferkult wehren und unmissverständlich für die Priorität des biblischen Wortes eintreten. Dem Gemeindegesang wird bei den Reformen der Messe aber schrittweise mehr Aufmerksamkeit zuteil, und Luther will auch deutschsprachige Lieder integrieren. Doch fehle es an deutschen Dichtern, „die uns andächtige und geistliche Gesänge … möchten anrichten, die da würdig wären, dass man sie in der Kirche in gemeinem Gebrauch haben sollte“ (Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, hg.v. P. Bubmann/ K. Klek, 11-12). Ein Grund dafür, dass Luther selbst Liedtexte verfasste.

Luthers allererstes Lied war ein Protestlied gegen den ersten Märtyrertod der Reformation (1523): „Ein neues Lied wir heben an, das walt Gott, unser Herre, zu singen, was Gott hat getan, zu seinem Lob und Ehre“. Mutet dieser Einstieg auch zweideutig an, so entfaltet sein Duktus die Geschichte von zwei Märtyrern, die noch Angesichts des Todes den Inquisitoren widerstehen: „Mit Freuden sie sich gaben drein, / mit Gottes Lob und Singen. / Der Mut war den Sophisten (Luthers akademische, aufgeblasene Gegner) klein / für diesen neuen Dingen, / da sich Gott ließ so merken“ (Davon ich singen und sagen will, 12-13).

Der Reformator möchte, ungeachtet äußerer Anlässe, dass die Gemeinde mit Lust und Liebe singt, um die gute Botschaft, das Evangelium, zu verbreiten. Schließlich stellen Lieder auch ein wichtiges Ventil dar, um eigene oder fremde Not in der Gemeinschaft oder daheim zu beklagen. Gewisse Lieder mögen ebenso als „ein Appell zum Durchhalten“ dienen, so dass dem Einzelnen in der Gemeinde, in der Familie oder auch am Krankenbett Mut zugesprochen wird (Davon ich singen und sagen will, 14-21: 15).

Da man üblicherweise über den Katechismus predigt, entstehen auch Katechismuslieder, die mitunter Gegenstand sog. Liedpredigten werden. Katechismuspredigten stellen eine wichtige Vorstufe zur Liedpredigt über Katechismuslieder dar. Wo dann z.B. Luthers Zehngebotelied Gegenstand einer Predigt wird, durchzieht dieses Kirchenlied die Auslegung der Zehn Gebote durch den Prediger. Das Lied wird am Schluss in seiner poetisch-ästhetischen Form gewürdigt: von Luther „aufs schönste Gesang und Reimweise gegeben“, weshalb man es „mit Andacht singen“ solle. Nur wenige Beispiele sind überliefert, „in denen das Lied selbst zum Text der Katechismusauslegung wird“ (M. Rössler: Liedpredigt, 144-145).

Luthers Dekaloglied wurde nach der bekannten Melodie eines alten Kreuzfahrer-Pilgerliedes „In Gottes Namen fahren wir“ vor der Predigt im Katechismusgottesdienst, „unter dessen Gesang die Schüler aus dem Chorraum zur Kanzel zogen“, gesungen (W.v. Meding: Luthers Gesangbuch, 106).

Luther hat bereits 1516-1520 die Zehn Gebote (Dekalog) zur Beichtvorbereitung ausgelegt, womit auch eine Basis für seine Katechismen gelegt war. Das Dekaloglied als Bindeglied (1524) nimmt die Bedeutung des Dekalogs in Luthers Katechismen (1529) vorweg. Unter den drei Hauptstücken: Dekalog, Glaubensbekenntnis (Credo), Vaterunser wird dem Dekalog eine Priorität eingeräumt, indem ihm „Glaube“ und „Herrengebet“ zugeordnet werden; „sie helfen uns beide, den Dekalog zu erfüllen“ (A. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1: Die Zehn Gebote, 42-43).

1520 notiert Luther drei Dinge, die ein Mensch notwendig wissen müsse, dass er selig werden mag: a) Der Dekalog zeige ihm, dass er wisse, was er tun oder lassen soll. b) Das Credo zeige, wenn er nun sieht, dass er es weder tun noch lassen kann aus eigenen Kräften, dass er wisse, wo er’s nehmen und suchen und finden soll, damit er dasselbe tun oder lassen mag. c) Das Vaterunser lehrt, dass er wisse, wie er es suchen und holen soll (Meding: Luthers Gesangbuch, 107; Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1: Die Zehn Gebote, 42).

Widmen wir uns dem Dekaloglied Luthers zunächst im Groben, um es hernach im Detail zu beleuchten. Die erste Strophe dient als Einleitung, gefolgt von neun Gebotsauslegungen; den Abschluss bilden zwei Strophen, die „die Gebote prägnant ins reformatorische Verständnis des Gesetzes“ einordnen. Jede Strophe ist in vier Zeilen im paarigen, jeweils auf die Endsilbe ausgerichteten („männlichen“) Reim gestaltet und erläutert das jeweilige Gebot, mündend in den gottesdienstlichen Gebetsruf „Kyrieleis“.

Die letzte, gebetsartige Strophe verdeutlicht das „Kyrieleis“; hier steht dem in der 1. Strophe genannten Moses „der andere Moses“ gegenüber. Dem Geber der Gebote folgt der „Helfer“. Man beachte: Jesus Christus wird hier weder „Heiland“ (Retter) noch „Erlöser“, sondern „Mittler“ genannt (12. Str.). Mithin wird auch nicht behauptet, alles eigene Tun wäre unnütz, oder die Erfüllung der Gebote käme einer sog. „Werkgerechtigkeit“ gleich.

Allerdings wird ebenso die Verlorenheit menschlichen Handelns angesprochen, das „doch eitel Zorn“ verdient. Hier geht es um die verbindliche Ausrichtung an den Geboten und um ihre Einhaltung; scheitert der einzelne Mensch, zielt die Sündenerkenntnis „auf das erlernbare richtige Leben vor Gott“ (11. Str.), aber „auch nicht ansatzweise auf Vergebung“. Luthers Gebotelied erscheint nicht nur im Rahmen seines Verständnisses der Sicherung des äußeren, sozialen Friedens in der Gesellschaft; Beachtung und Einhaltung des „usus civilis legis“ bzw. des „primus usus legis“ (Meding: Luthers Gesangbuch, 107).

Indem Luther am göttlichen Ursprung des Dekalogs festhält (1. Str.) leitet er hin zu dessen tieferem Verständnis und knüpft bei der Polarisierung von Monotheismus und Polytheismus an (2. Str.): „Ich bin allein dein Gott, der Herr, / kein Götter sollst du haben mehr; /“

Das Wörtchen „allein“ ist nicht zufällig eingefügt; es fehlt in der hebräischen, griechischen und lateinischen Bibel. Es soll die monotheistische Position bekräftigen, mag aber ebenso gut Zweifel wecken: Wird der Gedanke des einzigen Gottes so betont, weil es durchaus möglich ist, auch andere Götter neben ihm zu haben? Es gibt auch Götter im existentiellen Sinne von Mächten, Götzen, Idolen. Deren Bedeutung und Effektivität unterschätze man nie!

Der Abgott ist nicht weniger lebendig als der Geber der Zehn Gebote. Luther geht dem 1. Gebot nach: „Du sollst mich alleine für deinen Gott halten“, stellt die wichtige Frage: „Was heißt, einen Gott haben?“ und gibt die berühmte Antwort: „Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“. Man mag einwenden, es käme auf Glauben und Vertrauen an (2. Str.): „du sollst mir ganz vertrauen dich, / von Herzensgrund lieben mich. / Kyrieleis.“

Doch Luthers Auslegung zum 1. Gebot entlarvt das mögliche Missverständnis: „Das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott.“ Was es mit der Abgötterei auf sich hat, „daran siehet und lernet man, daß die zwei, Vertrauen und Gott, zusammen gehören; wo ein Herz ist, das sich auf etwas vertröstet und verläßt, das ist gewißlich sein Gott, sollt es auch ein falscher Gott sein“ (Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1: Die Zehn Gebote, 110).

Wir können nicht gebührend darauf eingehen, welch zentrale Position Luthers Verständnis und Auslegung des 1. Gebotes innerhalb seiner Theologie und welch breiten Raum es auch für sein Predigen einnimmt: Der Glaube insgesamt habe es mit dem 1. Gebot zu tun. „Wird dieses bewahrt, so auch alle übrigen“ (U. Asendorf: Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, 305-314: 306; vgl. Martin Luthers Dekalogpredigten in der Übersetzung von Sebastian Münster, hg.v. Michael Basse, AWA 10 (2011): 1. Gebot, 13-54).

Der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth (1886-1968) gemahnt, wie der Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach (1804-1872) Luthers Anschauung missverstehen konnte: Wenn man sich Gott und Abgott gleichermaßen anvertrauen kann, dann sind beide im Grunde Konstrukt oder Projektion des Menschen (K. Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jh., §18: Feuerbach, 484-489; vgl. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1, 110f).

Es scheint mir auch nicht völlig verfehlt, grundsätzlich religiöses Vertrauen als kindliches Wunschdenken zu verstehen; alles, was wir als Menschen nicht vermögen, weil wir fehlbar, irrtumsfähig, schwach und schlicht begrenzt, sterblich sind, erwarten wir von einer „höheren Macht“, die wir uns als vollkommen und personifiziert denken: Sie soll Frieden schaffen, Gerechtigkeit üben, den Menschen vorbehaltlos annehmen, ihn lieben, seine Gebete erhören, in seine Geschicke eingreifen, Leid von ihm abwenden usw.

„Gott“ als Produkt oder Ergebnis menschlichen Wunschdenkens; insofern ist „Gott“ auch ein Abgott. Aber dennoch sehe ich einen entscheidenden Unterschied: Von einem Götzen geht keine ethische Forderung aus; ein Abgott formuliert keine Gebote. Die knallharten Gesetze des Marktes, die dem mächtigsten „Gott“ oder Götzen, nämlich dem Mammon, dem Gelde, dienen, stellen kein Gegenargument dar, sind sie doch allzumal vom Menschen geschaffen.

Kindliches Vertrauen als religiöse Grundhaltung vermag einen Menschen zu tragen, auch durch Krankheit, Leid und Schwierigkeiten hindurch. Es lässt sich aber nicht verallgemeinern, systematisch vermitteln oder fordern - etwa: Du musst nur glauben oder fest vertrauen! Es ist allerdings eine religionsgeschichtliche Tatsache, dass sich diese religiöse Gesinnung zutiefst im Gebet ausdrückt (Friedrich Heiler). Luther beschreibt im persönlichen, seelsorglichen, an einen Freund gerichteten Büchlein: „Eine einfältige Weise zu beten“ (1535), wie er beim Beten nicht nur zum Psalter, zum Credo oder auch zu Jesus- und Paulussprüchen, sondern zu den Zehn Geboten greift (M. Luther: Eine einfältige Weise zu beten, 25).

Aus dem innigen Gottesverhältnis folgt für Luther, dass er in allem Zuversicht haben und „auf nichts anderes bauen … soll, sei es Besitz, Ehre, Weisheit, Gewalt, Heiligkeit oder irgendeine Kreatur“ (M. Luther: Eine einfältige Weise zu beten, 43). Dem personalen Gottesverständnis entsprechend, stellt er sich „Gott“ als unerschöpflich barmherzigen Vater vor, der sich „zu mir verlorenem Menschen herunterbeugt und sich selbst ungebeten, ungesucht und unverdient anbietet, mein Gott zu sein, sich meiner anzunehmen, und in allen Nöten mein Trost und Schutz, meine Hilfe und Stärke sein will, obwohl wir armen, blinden Menschen doch sonst so mancherlei Götter gesucht haben und noch suchen müssten, wenn er sich nicht selbst so öffentlich hören ließe und uns nicht in unserer menschlichen Sprache anböte, unser Gott zu sein“ (M. Luther: Eine einfältige Weise zu beten, 43).

Für Luther ist „Gott“ weder unnahbar noch handelt er von oben herab; vielmehr sieht er „allein Gott“ als einen treuen, wahren Freund, der in äußerster Not helfen mag. Darum soll er auch in Lauterkeit des Herzens getreulich geehrt, angebetet und geliebt werden (vgl. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1, 100). Dazu gehört auch, „Gottes Namen“ nicht für pseudoreligiöse, etwa für politische Zwecke zu missbrauchen, ihn nicht auf die eigene Fahne zu schreiben oder ihn auch nur gedanken- oder belanglos zu verwenden (3. Str.).

Leben gestaltet sich nicht nur in der Dimension von Frömmigkeit und Glaube; als soziales Wesen bedarf der Mensch klarer Weisungen oder Gebote. Ich finde es auffällig, dass gerade am Anfang der Weisungen für das Leben in der Gemeinschaft weder Arbeit noch Fleiß noch Wirtschaftlichkeit noch sozialer Nutzen angesprochen werden, sondern die „Heiligung des Feiertages“ (3. Gebot; 4. Str.). Im Dekaloglied wird der Sinn der Feiertagsheiligung zu wenig transparent; aber die letzte Zeile weist darauf hin: „daß Gott sein Werk in dir hab“. Luther versteht es so, dass man „am Feiertag zuallererst Gottes Wort hören und bedenken, danach im gleichen Wort danken und Gott loben soll für alle Wohltaten, und für mich und die ganze Welt beten soll“ (M. Luther: Eine einfältige Weise zu beten, 46).

Die normalerweise natürliche Haltung und Pflicht: „Ehre Vater und Mutter“ (4. Gebot; 5. Str.) verbindet sich bei Luther mit Gehorsam - kein Kadavergehorsam, aber Gehorsam aus tiefer Dankbarkeit für das geschenkte Leben, für Bewahrung, Fürsorge, Liebe, Schutz. Für all dies nur scheinbar Selbstverständliche gebührt den Eltern Respekt, Ehrung, Würdigung ihres Tuns. Nach meiner Erfahrung gehorchen Kinder oder tun sogar von sich aus das Richtige, Passende, je mehr sie sich selbst akzeptiert und geliebt fühlen. Doch Kinder bleiben Kinder, sind noch keine Erwachsenen; wir sollten Kindern nicht zu viel abverlangen, sie nicht überfordern.

Das 5. Gebot (6. Str.) verbindet Luther mit einer Absage an das Töten im Zorn, aus Hass oder aus Rache; stattdessen solle man Geduld und Sanftmut walten lassen, dem Feind sogar Gutes tun. Andernorts sagt Luther, dass Überführung von Verbrechern sowie Strafverfolgung der von Gott autorisierten Obrigkeit obliegt. Nach der hebräischen Bibel (Ex 20,13) kann das 5. Gebot auch wie folgt übersetzt werden: „Du sollst nicht morden!“ Im modernen Hebräisch meint das Verb nur noch „morden“; das abgeleitete Substantiv bedeutet „Meuchelmörder“. Diese und noch genauere Differenzierungen liegen dem Strafrecht demokratischer Staaten wie auch Internationaler Rechtspraxis zugrunde.

Das 6. Gebot beginnt bei Luther mit einem positiv formulierten Anspruch (7. Str.): Man soll die Ehe bewahren rein, also nichts und niemand hineinlassen, was schaden könnte: „daß auch dein Herz kein‘ andern mein“. Er empfiehlt Keuschheit, Zucht und Mäßigkeit. Vielleicht gibt es heutzutage Erwartungen und Ansprüche gegenüber der Ehe, denen Luthers Maßstäbe nicht mehr genügen können. Die größte Verheißung hat offenbar eine Ehe als Zweckgemeinschaft, ob sie nun von Anfang an darauf ausgerichtet war oder sich erst dazu entwickelt hat. Eine Ehe als romantische oder gar symbiotische Beziehung ist in der Regel nicht von Dauer. Hilfreich hingegen ist eine Ehe zwischen gleichberechtigten Partnern, die verschieden genug sind, um für einander interessant zu bleiben und genügend autark, um noch individuelle Entwicklung zu ermöglichen. Erotik und Sex werden nicht überbewertet, aber gern phantasievoll gepflegt.

Das 7. Gebot: „Du sollst nicht stehlen!“ verbindet Luther mit der Achtung vor dem Gut des Nächsten, also mit dem Eigentumsrecht, aber auch mit einer Warnung vor Ausbeutung und Wucher. Vielmehr solle man freigiebig und großzügig sein. - Eins mag man kaum noch hören, weil wir längst darüber informiert sind. Ich meine den Diebstahl im großen Stil: Raubbau an der Natur, Nutzung natürlicher Ressourcen ohne Rücksicht auf die Folgewirkungen, selbst wo diese bekannt sind; mit dieser Mentalität eng verbunden ist die Vertreibung Einheimischer aus ihren Gebieten und Ländereien sowie ihre Ausbeutung zu Billigstlöhnen.

Einem Menschen vorzuenthalten, was ihm - moralisch oder rechtlich - grundsätzlich zusteht, ist auch Diebstahl. Wie leicht wird ein Mensch als Kind, als Jugendlicher in der Ausbildung oder später im Berufsleben seiner Zukunft beraubt. Individuelle Begabungen werden nicht erkannt oder ausgeblendet, weil die Verantwortlichen nicht genau hinschauen, oder weil übergeordnete Interessen eine weitaus größere Rolle spielen als das Schicksal Einzelner.

Das 9. und 10. Gebot (10. Str.) ist inhaltlich mit dem 7. Gebot verknüpft; Luther appelliert an den gesunden Egoismus, der es sich doch schließlich leisten könne, dem Mitmenschen all das zu gönnen, wessen man selbst gern teilhaftig wird.

Das 8. Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten!“ (9. Str.) bleibt stets aktuell: Falschaussage, Verleumdung, üble Nachrede, Rufmord, Meineid. Harmlos wirkt dagegen das Reden mit Dritten über jemanden, hinter dessen Rücken, was Luther Afterreden nennt. Anstatt ein direktes Gespräch oder eine persönliche Aussprache mit dem Betroffenen zu suchen, redet man lieber über ihn oder sie und zerreißt sich dabei womöglich das Maul! Methodisch und systematisch eingesetzt, dient dieses feige Verhalten am Arbeitsplatz bzw. im Berufsleben dem Mobbing. Im Interesse einer Gruppe, Abteilung oder eines ganzen Betriebes wird der Ruf eines Menschen - meist innerhalb eines hierarchischen Machtgefälles oder eines Abhängigkeitsverhältnisse - auf Dauer und überaus wirksam geschädigt. Anonym bleibende sog. Zeugen treffen bewusst falsche Aussagen.

Die Wahrheit wird verschleiert; Lügen werden verbreitet. Die Realität des Miteinanders in Kirchengemeinden bietet leider keine Ausnahme; die genannten hässlichen Entgleisungen menschlichen Sozialverhaltens haben sich hier im Gegenteil mit den Jahren noch potenziert. Man schaue sich nur die Internetseite des Vereins „D.A.V.I.D. gegen Mobbing“ an, der seit 10 Jahren auf EKD-Ebene tätig ist, indem er sich für kirchliche Mitarbeiter, im Schwerpunkt für Geistliche, engagiert. Wo Presbyterien bzw. Kirchenvorstände ohne gravierende Gründe gewissenhafte, aber unkonventionelle Pfarrer aus dem Dienst hinauskomplimentieren und Kollegen dies womöglich noch unterstützen oder vorantreiben, da gerinnen Verkündigung des Evangeliums und das Propagieren von christlicher Gemeinschaft zur unglaubwürdigen Farce.

Die Zehn Gebote sind wertvolle Weisungen, Maßstäbe für unser Leben als Individuen und als soziale Wesen. Sie lassen uns auch erkennen, wo wir das jeweilige Ziel verfehlt, wo wir uns versündigt haben. Und sie lehren uns, „wie man vor Gott leben soll“ (11. Str.). Es spräche für die Souveränität und Würde des einzelnen Menschen, wenn jeder jeweils ein Gebot entbehren könnte. Zur Erläuterung erzähle ich dazu ein kurzes Beispiel, eine wahre Begebenheit.

Als Student gehe ich mit einer älteren, rüstigen, strenggläubigen Dame spazieren; da wird sie in einem Garten einer schön blühenden Rose gewahr: „Die würde ich am liebsten pflücken und mit nach Hause nehmen; aber es steht geschrieben: Du sollst nicht stehlen!“ Ich sage dazu: Das käme mir gar nicht in den Sinn. Ich könne mich einfach so an der Rose erfreuen. Warum sollte ich sie einem anderen wegnehmen, wo sie doch sein Eigentum ist?! Die Dame meint, das Verhalten bliebe in beiden Fällen gleich. Ich widerspreche, weise auf die verschiedenen Motive hin: Sie akzeptiert das Eigentum des anderen und verzichtet, weil sie dem 7. Gebot gehorcht. Für mich ist es selbstverständlich, fremdes Eigentum zu achten und es von meinem eigenen zu unterscheiden. Beides kann mir zur Freude gereichen.

Mögen Lieder wie das Dekaloglied Luthers helfen, unsere doch oftmals in eine Schieflage geratenen Maßstäbe wieder zurechtzurücken; mögen uns die Zehn Gebote als wertvolle Weisungen so bedeutsam werden, das wir unser Leben privat und in der Gemeinde wieder danach zu ordnen vermögen. Mögen wir dazu „im Gottesdienst wie im Alltag“ singen, und mögen sich darin „der lebendige, gesungene Glaube, die theologische Lehre und emotionale Ausdrucksformen von christlicher Religion und Frömmigkeit“ verbinden (Lebendiger Glaube. Liedpredigten zu neuen und alten Liedern, hg.v. F. Wintzer/ H. Schröer, 9-12: 9).



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: bautzprivat@gmx.de

Zusätzliche Medien:
Martin Rössler: Die Liedpredigt. Geschichte einer Predigtgattung (1976).
Wichmann von Meding: Luthers Gesangbuch. Die gesungene Theologie eines christlichen Psalters (1998).
Martin Luther: Eine einfältige Weise zu beten. Einführung v. Martin H. Jung (2011).
Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, hg.v. Peter Bubmann/ Konrad Klek (2012).
Lebendiger Glaube. Liedpredigten, hg.v. Friedrich Wintzer/ Henning Schröer (1997).
Albrecht Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Band 1: Die Zehn Gebote (1990).
Ulrich Asendorf: Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten (1988).




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