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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2015, 2015

Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Ps. 130 / EG 299), verfasst von Claudia Krüger

Trauriger alter Mann. Er sitzt da, vornübergebeugt auf einem einfachen Holzstuhl vor dem Kaminfeuer in seiner Stube. Das kahle Haupt gesenkt, die Fäuste in den Augenhöhlen vergraben. „Trauriger alter Mann“, ein Gemälde von Vincent van Gogh. Man könnte auch an ein anderes Gemälde von ihm denken: „Weinende Frau“ und in ähnlicher Haltung: „Mann mit Kopf in den Händen“.

In tiefer Trauer versunken. Wir brauchen nicht zu wissen, wer da abgebildet ist oder was der zeitlebens schwer psychisch angeschlagene Maler sich beim Malen gedacht hat. Wir können uns nur zu gut in dieser Haltung auch selbst erkennen. Not und Verzweiflung, Schuld oder Trauer bleiben kaum einem Menschen im Leben erspart. „Unter jedem Dach ein Ach!“, pflegen manche zu sagen.

Und mitunter bedrückt uns nicht nur die Not, die von außen über uns oder uns liebe Menschen herein bricht. Genauso kann uns quälen, was in unserem Inneren rumort: Versagen, Selbstverursachtes Leid, Schuldgefühle, Gewissensbisse, Worte, die man gerne zurück nehmen würde, böse Gedanken, die plötzlich da sind. Nagende Zweifel.

Wie aber kann ich in tiefer Not wieder Trost finden? Für einen tief gläubigen Christenmenschen, wie Martin Luther, ist die Antwort zu ahnen. Freilich, auch er kennt Not und Schuld, angstvolle Zweifel, „Anfechtungen“, wie er sie nennt, Gewissensbisse, Depressionen und manchmal eine fast körperlich spürbare Bedrohung durch das Böse.

Und nicht selten wird er ähnlich verzweifelt und zusammengekauert auf einem einfachen Holzstuhl gesessen sein, das Gesicht tief in den Händen vergraben. Wir haben soeben Luthers Lied gesungen: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein Rufen!“ Wenigstens das ist ihm geblieben: eine Zielrichtung seines Schreies. Ein Adressat für seinen verzweifelten Hilferuf.

Manche Zeitgenossen tun sich damit schwer. Sie kennen keinen Gott, zu dem man in der Verzweiflung rufen kann. Kein Gegenüber, das einen vielleicht doch hört. Keiner, der uns in der tiefen Dunkelheit noch wahrnehmen könnte.

Anna Enquist, eine niederländische Schriftstellerin, ehemalige Konzertpianistin und Psychoanalytikerin, schreibt in ihrem Roman: „Kontrapunkt“ über eine Pianistin, die den Tod ihrer Tochter durch das Einstudieren der Goldbergvariationen von Bach zu bewältigen versucht. Im Kapitel über die 25. Variation schildert sie, wie die Pianistin den Verlauf der Melodie ausgestaltet:

„ Den großen, tollkühnen Sprüngen in der Melodie ließ sie jeweils einen langen Vorschlag vorangehen, als gäbe sie dem Lied einen Schubs, außer in der Wiederholung des zweiten Teils, gegen Ende, beim allerhöchsten Ton. Dort sprang sie ohne Vorbereitung, mit einer minimalen … Verzögerung, zum nackten hohen d, um von da aus, lauter und lauter werdend bis zu einem donnernden Forte, den Schluss anzusteuern. Wenn kein Hüter da ist, dachte sie, wenn ich mit dem knausrigen Liebhaber namens Ratio (Vernunft) auskommen muss, brülle ich eben aus voller Kehle, schreie ich gegen den Wind an, schreie mir die Lunge aus dem Leib.“ (Anna Enquist, Kontrapunkt, Verlag Luchterhand, Müchneh, 2008; S.168…….)

Kein Trost, weit und breit. Aber doch die Sprache der Musik, die im Verlauf ihres Übens und Musizierens ihrem Schmerz und endlich auch ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben vermag. Vielleicht ist auch für Ungläubige die Musik ein Geschenk Gottes.

Martin Luther hat einmal über die Musik geschrieben: „Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie. Musik ist eine Trösterin, weil sie die Seelen fröhlich macht, weil sie den Teufel verjagt, weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hochmut.“ (Martin Luther, Traktat über die Musik, 1530. M.Rößler, Liedermacher im Gesangbuch, Stuttgart 1990, Calwer Verlag , 40-41.)

Martin Luther hat in eine ganze Reihe von Psalmen vertont und damit deren Klagen und Not, aber auch deren tiefen Trost den Menschen seiner Zeit nahe bringen wollen.

In unserem Lied, das Luther gedichtet und auch komponiert hat, hat er den 130. Psalm thematisch aufgenommen: Hier vernehmen wir den verzweifelten menschlichen Schrei aus der Tiefe eines beinahe Ertrinkenden:

 

Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir.

HERR, höre meine Stimme!

Lass deine Ohren merken

auf die Stimme meines Flehens!

„Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ -

Ganz tief hinab geht die Melodie beim Wort „tief“. Musikalisch Geschulte erkennen einen doppelten Quintsprung am Anfang jeder Strophe. Und an jedem Versende hören wir in der Melodieführung eine klagende Wendung. Luther hat in einer sogenannten „Phrygischen Tonart“ komponiert, offenbar aber war das manchen Menschen zu düster, so dass schon im gleichen Jahr von Wolfgang Dachstein eine freundlichere Melodie komponiert wurde, die sich jedoch nie so richtig durchsetzen konnte.

Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Dein gnädig Ohren kehr zu mir und meiner Bitt sie öffne;

Es gibt Lebenssituationen, in denen wird ein Mensch zu einem einzigen Schrei. Sicher kennen Sie alle das Bild von Evard Munch, „Der Schrei“, in welchem er laut seinen Tagebuchaufzeichnungen eine schwere existentielle Not ausdrückt, die ihn beim Anblick eines Sonnenuntergangs ergriffen hat. Und für wie viele Menschen seiner Zeit und nachfolgender Generationen drückt dieses Bild einen Moment tiefster Verzweiflung aus, wie kein anderes.

„Die Leistung dieses Gemäldes ist es, in bedrückender Eindringlichkeit eine ganze Welt aus Verzweiflung geschaffen zu haben, eine Welt, die jeder von uns in mehr oder weniger hoher Intensität schon einmal kennengelernt hat. Eine Welt, aus der es im schlimmsten Fall ebenso wenig ein Entkommen gibt, wie aus dem eigenen Ich. Die diffusen Ängste und Alpträume der Zeit um 1900 wurden bekanntlich grausige Realität…“ (aus: Edvard Munch ‚Der Schrei' – eine Welt aus Wahnsinn, 1892 ...www.mahagoni-magazin.de/)

 

Ob einer den Schrei gehört hat? Ob die schreiende Gestalt hinter dem Horizont eine rettende Kraft noch ahnt? Ob sie noch glauben kann, dass nach dem Untergang und der Finsternis die Sonne wieder aufgeht?

Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. 

Trotz aller Not steckt eine enorme Kraft in diesen Zeilen: es ist einer da für uns schreienden Menschen, auch wenn er sich manchmal ganz und gar verborgen hält. Es macht trotz allem Sinn, seine letzte Kraft zu einem Hilfeschrei zusammen zu nehmen. Hier hofft einer auf die gnädigen Ohren eines treuen Gottes. Doch, es gibt einen, der jeden Laut wahrnehmen kann, und sei er auch nur noch gehaucht, einer, der uns auch dann noch hört, wenn wir längst schon verstummt sind.

 

HERR, höre meine Stimme!

Lass deine Ohren merken

auf die Stimme meines Flehens!(Ps 130, 1f)

 

Wohl dem, der in aller Verzweiflung noch einen Hauch, einen spärlichen Rest an Vertrauen spürt. Eine winzige Hoffnung, dass da dennoch ein Gott ist, der mich hören kann und endlich hören wird und mich am Ende errettet.

Gott wird sich uns zuwenden in Liebe, wird unser Flehen hören und uns erhören, auch wenn wir dies, wie Luther weiß, niemals verdient haben:

„…denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, vor dir bleiben?“

 

Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst,

HERR, wer wird bestehen? (Ps.130)

 

Aber wir Menschen können und müssen es uns auch nicht erarbeiten, dass Gott uns hört. Wir müssen uns nicht ängstlich fragen, ob wir gut genug sind, ob wir es verdienen, dass Gott uns hilft. Denn sei auch unsere Schuld oder unser Versagen noch so groß und unser Lebensweg noch so verworren und mitunter auch ganz und gar verkehrt, Gott hört uns dennoch und wendet sich uns wieder und wieder in Liebe und Gnade zu. Gnade kann ich mir nicht erarbeiten. Ich kann sie aber erbitten, und sie mir letztlich nur zusprechen lassen.

Lange hatte sich Luther verzweifelt gefragt: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“

Die Antwort darauf war dann seine große reformatorische Entdeckung:

Nicht aus eigener Kraft, aus eigenem Verdienst, aus eigener Gerechtigkeit. Sieht Gott auf unser menschliches Handeln, dann wird keiner bestehen können, dann werden wir immer wieder schuldig an ihm, an unseren Mitmenschen und an Gott selbst, wie Paulus schon sagte: „Es ist hier kein Unterschied: Wir sind allzumal Sünder und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Römer 3,23f)

Aber: es gibt diese vorausgehende, geschenkte Gnade, unermesslich ist sie und unverdient. Aus ihr heraus können wir Menschen dann auch wieder aufatmen und leben, können umkehren und uns dann in Liebe und Gerechtigkeit auch wieder einander zuwenden, dem Willen und Wort Gottes gemäß.

Vor Gottes Augen werden wir nicht aus uns selbst gerecht, das wird in den Liedstrophen mehr als deutlich. Seiner Gnade aber dürfen wir trauen, er wird sie uns immer wieder schenken. Sola gratia. Einfach so, aus reiner göttlicher Liebe zu uns Menschen.

Lassen Sie uns davon singen:

2) Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben; es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben. Vor dir niemand sich rühmen kann; des muss dich fürchten jedermann und deiner Gnade leben.

 

3) Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen. Auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen, die mir zusagt sein wertes Wort. Das ist mein Trost und treuer Hort; des will ich allzeit harren.

„Des will ich allzeit harren.“

Ein altmodisches Wort. Aber ein ausdruckstarkes Wort. Es geht um intensivstes Warten, um Beharrlichkeit auch, um die ganze verzweifelte glaubende Energie eines Menschen, der alles von Gott und nichts mehr von sich selbst erwartet.

In der nächsten Strophe hören wir es noch einmal:

4) Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen, doch soll mein Herz an Gottes Macht verzweifeln nicht noch sorgen. So tu Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward, und seines Gotts erharre.

Hier hören wir auch die Worte des 130. Psalms deutlich heraus:

 

Ich harre des HERRN; meine Seele harret,

und ich hoffe auf sein Wort.

Meine Seele wartet auf den HERRN,

mehr als die Wächter auf den Morgen;

mehr als die Wächter auf den Morgen

hoffe Israel auf den Herrn! (Ps 130, 5-7)

 

„Mehr als die Wächter auf den Morgen.“ Da haben sie nun die ganze Nacht gestanden und Wache gehalten. Und gefroren. Und gehofft, dass kein feindlicher Angriffsschrei die Nacht durchdringt und die Menschen in Gefahr bringt. Erschöpft mögen sie sein und am Ende ihrer Wachsamkeit. Die Augen müde. Die Herzen schläfrig.

Ach, dass doch endlich die Morgenröte nahte!

Doch die Seele harrt aus. Meine Seele harret und wartet und hofft. Meine Seele, deine Seele, die Seele der Maler, die Seele der Pianistin, die Seele des traurigen alten Mannes und der weinenden Frau, die Seele des Menschen in der Ukraine und in Syrien. Und weil wir alle Gottes Geschöpfe sind, hoffen unsere Seelen gemeinsam auf den nächsten Morgen, dass er endlich am Osten sich zeige mit seinem ersten zarten Licht. Auf dass die Gebeugten sich wieder aufrichten können und aufrecht dem neuen Morgen entgegen gehen können.

Die Morgenröte naht, anfangs kaum zu ahnen, aber dann bricht die Sonne sich unaufhaltsam Bahn. Mitunter zieht sie in faszinierenden Farben herauf am Horizont. Und endlich erstrahlt weiß und hell das Licht eines neuen Morgens. Dem Schöpfungsmorgen ähnlich. Erinnernd an die Ewigkeit des Ostermorgens, dessen strahlendes Licht einmal alles in unbeschreiblichem Glanz vollenden wird.

Möge die Hoffnung wieder spürbar werden, möge Gott das Elend und Leid sehen und uns Menschen heraus reißen aus der Not, so wie er es in der Geschichte seines Volkes wieder und immer wieder getan hat. So wie er schließlich in Christus die Macht des Bösen überwunden und dem Tod den letzten Sieg genommen hat. Möge der treue Gott uns wieder glaubwürdig werden, so dass wir endlich auch sagen können:

Auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen!

Und wenn er uns hört, uns endlich er-hört und hilft, dann mögen wir sogar einstimmen in das Lob des Beters im 28. Psalm:

Gelobt sei der HERR; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.

Der HERR ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn hofft mein Herz, und mir ist geholfen. Und mein Herz ist fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied. (Ps.28,6f)

 

Und das sollten wir nun auch gemeinsam tun und miteinander singen, laut, fröhlich und von Herzen, oder leise und mit harrendem hoffendem Herzen. Amen.



Pfarrerin Claudia Krüger
Stuttgart
E-Mail: claudia.krueger@elkw.de

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