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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2015, 2015

Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Psalm 130 / EG 299), verfasst von Wolfgang Petrak

 


1. Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohren kehr zu mir
Und meiner Bitt sie öffen.
Denn so du willst das sehen an,
Was Sünd und Unrecht ist getan,
Wer kann, Herr, vor dir bleiben?

2. Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gonst,
Die Sünden zu vergeben.
Es ist doch unser Tun umsonst
Auch in dem besten Leben.
Vor dir niemand sich rühmen kann,
Des muß dich fürchten jedermann
Und deiner Gnaden leben.

Liebe Gemeinde,

Aus tiefer Not. Leise haben wir eben das miteinander gesungen. Vielleicht weil unsere Orgel diese Melodie aus alter Zeit so verhalten eröffnet hat, um unsere Stimmen, unsere Gedanken hinein zu nehmen. So könnten sie den Worten und den Stimmen, die wir um uns und aus uns selbst hören, folgen und miteinander den hohen Raum des Kirchenschiffs unsichtbar zu füllen scheinen. Doch vielleicht ist es auch so, dass die Gedanken zunächst bei diesen drei Worten verharren, während unsere Augen und der Mund dem Text verlauf geradezu automatisch, also mechanisch folgen. Aber die Not…die Not, die so tief innen sitzt, dass sie sich nicht in Worte fassen lässt und deshalb auch nicht mitteilen lassen, sondern in der Stille verharren will- und dann die Not, die draußen ist, die wir zu sehen bekommen und von der wir hören, diese tiefe Not in der Welt, deren Gründe wir zu kennen meinen, deren Abgründe wir uns nähern, sodass man schreien möchte, aber still bleibt vor Ratlosigkeit und stumm, indem man sich dicht macht unter dicker Haut, um sich zu schützen und draußen zu lassen, was man selbst nicht bewältigen kann: Sünd’ und Unrecht. Ja, genau. Diese Not ist da, dehnt sich aus, überflutet wie Wassers Gewalt die Gedanken.

Aber genau so schnell, wie die zeitlichen Abläufe unserer Welt sind, genauso schnell, nämlich jäh, gehen die Worte des Liedes weiter -„weiter im Text“ pflegte früher unser Lateinlehrer zu sagen, wenn es darum gegangen war, das Fremde genau zu übersetzen und mühsam nachzubuchstabieren: also weiter . Wir können uns nicht einfach Zeit lassen. Wenn wir den Worten folgen, dann werden wir beim Benennen von „Sünd und Schuld“ nicht in irgendwelche weit- und weltläufige Erklärungsmuster entlassen, die uns zur Verfügung stehen. Sondern wir werden mit uns selbst konfrontiert, sollen wie in einem Spiegel sehen, was wir selbst getan und zu verantworten haben: die eigene Schuld, also das, was wir unseren Mitmenschen schuldig sind; die eigene Sünde: also wie wir uns gegenüber Gott verhalten, was ein Nichtverhalten meint. Wer kann bestehen? Das ist die Not, die der eigenen Stimme die Sicherheit und den Umfang nimmt. Und die Tiefe: dass es nichts gibt, was die eigene Existenz aus ihrem Bestand heraus sichert, ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben: was soll man da angesichts der Verunsicherung noch sagen? Brüchig und weich will im Wind der Orgel die Stimme werden. Obwohl: Man müsste schreien, um die Antwort einzufordern. Am Ufer müsste man stehen, um gegen den Sturm zu brüllen, auf dem Markt, um gegen das Getriebe der Zeit anzugehen. Wir aber haben still gesungen angesichts der Frage, wie meine, wie deine Existenz verbleiben kann. Also: Bleiben wir weiter und bleiben innen, drinnen? Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, im Meer der Zeit?

Übrigens: Als Martin Luther 1523 mit diesem Lied die Möglichkeit gab, auf Deutsch den 130. Psalm nachzusingen, wurde seine Nachdichtung veröffentlicht, zunächst in Nürnberg, dann in Erfurt und Wittenberg. Auf Marktplätzen wurden die Nachdrucke verteilt, wahrscheinlich auch verkauft, vor allem aber: gesungen. Laut. Nicht drinnen, sondern draußen. Muss man sich mal vorstellen: Ein Choral, ein Bußpsalm auf einem Flugblatt. Muss man sich auch hier in Göttingen vorstellen: Ein Flugblatt: Aus tiefer Not schrei ich zu Dir! Aber genau so ist es gewesen. Freilich hatte es bis zum Jahr 1529 gedauert. Es waren die Armen gewesen, Wollenweber, fremde Flandern, die um Arbeit und Wohnung nachgesucht hatten und die man draußen vor den Toren der Ackerbürgerstadt lassen, also auf keinen Fall die Mitgliedschaft in Zunft und Stadt hatte geben wollen Die waren also auf die Straße gegangen .Am Groner Tor hatten sie gesungen „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“, so laut, dass die Göttinger Geistlichkeit dieses zu hindern suchte, zunächst mit lateinisch-liturgischem Gesang wohl aus dem Paulinerkloster, dann, als das nichts bewirkte, mit Orgel- und mit Glockengedröhn aus dem Kirchenschiff von St.Marien. Doch der, der das Heil der Armen ist, weil er den Weg der Gerechtigkeit gegangen, lässt sich nicht verhindern. Schließlich führte der Rat, unter Anhörung der Bevölkerung, Bildung von Ausschüssen und nicht ganz freiwilliger Klausur im Rathaus die Reformation ein, indem den fremden Flandern die Bildung einer eigenen Gilde ermöglicht und ihnen Wohnraum im südlichen Teil der Stadt zur Verfügung gestellt wurden; dazu wurde ein Pfarrer der neuen Lehre, Heinrich Winkel, eingestellt. Der Schritt in die Reformation hatte bedeutet: Das, was in der Bibel gesagt ist zu verstehen und in das Leben hinzunehmen, auch nach außen. Die Sprache des Glaubens kennt keine Grenzen.

Weiß noch, wie 1968 in einer Vorlesung der Professor uns deutlich machte, dass die Klage Sprache des Glaubens ist. Sie besitzt nicht in sich die Antwort; es ist vielmehr der Herr, der antwortet. Die Antwort auf Gottes rettendes Handeln ist das Lob, sodass hieraus eine gottesdienstliche Struktur zu erkennen ist, die sich im Aufbau der biblischen Überlieferungen wieder findet und die immer den Zusammenhang von Gebet, also der Sprache des Glaubens, und der Erfahrung von Handeln und Geschichte und ihrer Zeit so erkennen lässt, dass am Ende die Hoffnung auf Gott möglich ist. Versuchen wir, vielleicht sogar laut nach draußen, die Verse 3-5 zu singen.


3. Darum auf Gott will hoffen ich
Auf mein Verdienst nicht bauen;
Auf ihn mein Herz soll lassen sich
Und seiner Güte trauen,
Die mir zusagt sein wertes Wort,
Das ist mein Trost und treuer Hort,
Des will ich allzeit harren.

4. Und ob es währt bis in die Nacht
Und wieder an den Morgen,
Doch soll mein Herz an Gottes Macht
Verzweifeln nicht noch sorgen.
So tu Israel rechter Art,
Der aus dem Geist erzeuget ward,
Und seines Gotts erharre.


5. Ob bei uns ist der Sünden viel,
Bei Gott ist viel mehr Gnaden;
Sein Hand zu helfen hat kein Ziel
Wie groß auch sei der Schaden.
Er ist allein der gute Hirt,
Der Israel erlösen wird
Aus seinen Sünden allen
.

Dieses Lied mündet in der Sicherheit, dass am Ende der da ist, der durch sein Handeln rettet. Schnell sind wir gewohnt, dieses als Rechtfertigung des Einzelnen zu verstehen und so das Schiff, das sich Gemeinde nennt, auf sicherem Kurs zu wissen. Und so haben wir es mit einander gesungen, vielleicht sogar, entgegen unseren Gewohnheit, lauter als sonst. Doch man es auch anders singen. Zufällig entdeckte ich die Tagebucheintragungen von Hildegard Schulz, wie sie als Vierzehnjährige ihre Flucht aus Ostpreußen beschreibt. Die entsetzliche Fahrt mit dem Frachter Andros von Pillau nach Swinemünde. Tagelanger Hunger und Entbehrungen. Die Zahl der Kranken wurde immer größer. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung griffen um sich. Sie schreibt: „Ich erinnere mich an laute Gebete der Flüchtlinge. Plötzlich stimmte irgendjemand unter uns das Lied an: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir!“ Viele sangen mit. Der Gesang klang dumpf und verzweifelt – ich werde ihn in meinem ganzen Leben nicht vergessen können, so schauerlich, Herz und Seele durchdringend, erklang dieses Lied. Mir lief es dabei kalt über den Rücken, obwohl ich fast noch ein Kind war. Vielleicht hat sich mir deshalb dieses Lied so tief in die Erinnerung eingebrannt. Wir dankten alle Gott, als wir am 12. März 1945 bei klarem Himmel und Sonnenschein gegen 11.00 Uhr in den Swinemünder Hafen einliefen. Um 11.20 Uhr wurden die Seitenpforten geöffnet, die Gangway wurde hinausgeschoben – die Ausschiffung begann. Die ersten Flüchtlinge hatten gerade die Gangway betreten, da gab es Fliegeralarm. Ehe die Menschen überhaupt wussten, wo sie Schutz suchen sollten, fielen schon Bomben auf den Swinemünder Hafen, die Schiffe, die Stadt und die Menschen. Eine der ersten Bomben fiel auf die Gangway des Dampfers. Die darauf stehenden Menschen wurden in Stücke gerissen und durch die Luft geschleudert. Kurz darauf traf eine zweite Bombe das Achterschiff; im Nu brannte es. Wir, die wir uns vor wenigen Augenblicken auf den Weg gemacht hatten, um von Bord zu gehen, erschraken fast zu Tode, als wir ein furchtbares Heulen, Krachen und Bersten hörten und ein Geschrei begann, als würde die ganze Welt untergehen“.

In den folgenden Tagebucheintragungen beschreibt Hildegard Schulz die weiteren verworrenen, gefährlichen Wege der Flucht. Es fällt auf, dass sie nicht nach Ursachen fragt, aber auch nicht die Frage nach Gott stellt. So tief können die Erfahrungen des Leidens sein, dass sie Überlegungen zur Schuld und Rechtfertigung nicht stellen. Dass der Höchste in seiner Existenz rechtfertigen müsste, hat angesichts der durchmessenen Tiefe keinen Raum. Dankbarkeit, die aus dem gemeinhin angenommenen Beziehungsgeflecht von Geben und Nehmen als Antwort auf erfahrene Rettung zu erwarten wäre, wird nicht laut und öffentlich geäußert, vielleicht auch überhaupt nicht. Es gehört zu der Stille, dass sie nicht von außen durchdrungen werden kann und darf. Das, was innen ist, ist das Eigene im Ich. „Das Binnen ist dunkel“: so hat es Ernst Bloch einmal gesagt. Was sich äußert, ist die Sozialgestalt, die im Wir liegt. So betont Hildegard Schulz rückblickend, das Wichtigste, was sie ihren Töchtern neben der Ausbildung auf den Wege gegeben haben, ist: „Versucht alles, mitzuhelfen, Krieg zu verhindern.!"

Nein, es ist nicht so, dass sie laut in alle Welt schreit. Aber es war so, dass eines Morgens eines dieser kleinen Schiffe am Strand Siziliens bei Donalucata lag. Nicht alle hatten überlebt. Aber es war auch so, dass drei Jugendliche aus Somalia und die syrische Familie mit drei Kindern bei „Casa delle Culture“, in Scicli aufgenommen wurden, aufgenommen worden sind. Ohne zu fragen, ohne zu prüfen. „Alles geht hier ‚piano piano’ schrieb die junge Abiturientin, die als FSJlerin bei „mediterranean hope“, einem Projekt evangelischer Kirchen in Italien arbeitet, ihren Freunden in Deutschland. Die Jungens aus Somalia können ein bisschen Englisch, die Familie aus Syrien spricht nur arabisch. Aber es geht. Sie können sich irgendwie verständigen, gemeinsame Arbeiten verrichten, sich orientieren. Klar, es hatte auch ein verletzende Graffitti bei Casa delle Culture gegeben, aber auch genauso Leute aus diesem kleinen sizilianischen Dorf, die vorbehaltlos den Flüchtlingen begegnen und ihnen helfen, den Alltag zu bewältigen. Wer weiß, wie die Flüchtlingen auf hoher See gebetet und was sie geschrieen haben. Aber nun sind sie da und wissen sich angenommen. Ihr Hoffen und Harren und das Starren auf den offenen Horizont ist zum Ziel gekommen und hat für sie menschliche Gestalt gewonnen. Gott sei Dank.

Man kann laut sagen, dass Europa so sein kann, kann auch leise hinzufügen, dass das Hoffen und Harren durch Nacht und Morgen so recht nach Israels Art ist, ja noch mehr: Dass sein Recht zu tun uns an ihn bindet.

 



Pastor in Ruhe Wolfgang Petrak
37077 Göttingen
E-Mail: w.petrak@gmx.de

Zusätzliche Medien:
Literatur: Heinz Schön, Pommern auf der Flucht, Berlin 2013


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