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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2015, 2015

Jesus Christus, unser Heiland (Jesus Christus Nostra salus EG 215), verfasst von Rainer Stahl

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

liebe Schwestern und Brüder,

dieses Lied ist „starker Tobak“. Es stellt unsere Abendmahlsfrömmigkeit auf den Prüfstand. Warum feiern wir Abendmahl? Warum gehen wir hin und nehmen teil? Wenn wir auf unser bisheriges Glaubensleben zurücksehen: Was war uns bisher wichtig? War es immer dasselbe? Gab es da Veränderungen?

Vielleicht haben Sie auch die großen Veränderungen in unserer kirchlichen Praxis miterlebt – und treten diese wieder in Ihr Bewusstsein? Vor Jahrzehnten vielleicht nur dreimal im Jahr

Abendmahlsfeiern – am Karfreitag, zum Konfirmationsgottesdienst[1] und am Totensonntag. Ganz im Vordergrund war das Verständnis der Feier als persönlicher Zuwendung des Heils, als Überwindung der eigenen Gottesferne, weshalb Buße, Ernst, Nüchternheit (bis dahin, dass wirklich nüchtern zum Abendmahl gegangen wurde) im Vordergrund standen.

Und dann in den ausgehenden 70-iger und in den 80-iger Jahren des vorigen Jahrhunderts diese große Entdeckung des Abendmahls – jedenfalls war das für mich als Christ und Theologe in der DDR wichtig. Die Erkenntnis, dass es gut ist, viel häufiger Abendmahl anzubieten. In meiner Gemeinde in Altenburg war das in der zweiten Hälfte der 80-iger Jahre über die Adventszeit, in der gesamten Passionszeit, natürlich zum Konfirmationsgottesdienst, auf jeden Fall einmal im Monat.

Was hatte sich inhaltlich verändert? Was war im Denken und Empfinden anders geworden, das diese häufigen Feiern möglich gemacht hatte? Die Zerknirschtheit war gewichen. Die Empfindung der Gottesferne war in den Hintergrund getreten. Die Bedeutung der Buße wurde kaum noch verstanden. Im Mittelpunkt stand die Feier der Gemeinschaft des Glaubens, der Gemeinschaft der Kirche. Vielleicht war auch ein wichtiger Faktor, dass diese Gemeinschaft der Kirche klein geworden war, viele auf Distanz zur Kirche gegangen waren, der Kreis der Treuen wirkliche Erfahrungen der Glaubensgemeinschaft brauchte und braucht.

Stellen Sie sich bitte vor Augen, wie die Situation in Ihrer Gemeinde heute ist. In der in Erlangen, zu der ich gehöre, ist weiterhin mindestens einmal im Monat Abendmahl (am dritten Sonntag des Monats) und natürlich zu den Festtagen. Am Sonntag Invokavit, am 22. Februar dieses Jahres, habe ich mit der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Basel Gottesdienst gefeiert: Dort wird jeden Sonntag Abendmahl angeboten.

Auf jeden Fall lohnt es sich, immer wieder neu die eigene Haltung zum Abendmahl zu reflektieren. Dies geschieht heute dadurch, dass uns das zweite große Lied zum Abendmahl von Martin Luther aufgegeben ist, das aber nach meinem Eindruck sehr selten gesungen wird. Wir müssen es zuerst in Ruhe lesen:

 

            „Jesus Christus, unser Heiland,

            der von uns den Gotteszorn wandt,[2]

            durch das bittere Leiden sein

            half er uns aus der Höllen Pein.

 

            Dass wir nimmer des vergessen,

            gab er uns sein’ Leib zu essen,

            verborgen im Brot so klein,

            und zu trinken sein Blut im Wein.

 

            Du sollst Gott den Vater preisen,

            dass er dich so wohl wollt speisen

            und für deine Missetat

            in den Tod sein’ Sohn geben hat.

 

            Du sollst glauben und nicht wanken,

            dass’s ein Speise sei den Kranken,

            den’ ihr Herz von Sünden schwer

            und vor Angst ist betrübet sehr.

 

            Er spricht selber: »Kommt, ihr Armen,

            lasst mich über euch erbarmen;

            kein Arzt ist dem Starken not,

            sein Kunst wird an ihm gar ein Spott.

 

            Hättst du dir was ’konnt erwerben,

            was braucht ich für dich zu sterben?

            Dieser Tisch auch dir nicht gilt,

            so du selber dir helfen willt.«

 

            Glaubst du das von Herzensgrunde

            und bekennest mit dem Munde,

            so du bist recht wohlgeschickt,

            und die Speise dein Seel erquickt.

 

            Die Frucht soll auch nicht ausbleiben:

            deinen Nächsten sollst du lieben,

            dass er dein genießen kann,

            wie dein Gott hat an dir getan“ (Evangelisches Gesangbuch 215).

Zum Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin hörte ich einen Kommentar, in dem behauptet wurde, dass die römischen Katholiken glauben, dass beim Abendmahl Brot und Wein Leib und Blut Christi seien, die Evangelischen aber glauben, dass sie das nur bedeuten. Das ist natürlich falsch. Denn damit hat der Kommentator den Unterschied zwischen zwei evangelischen Konfessionen benannt – zwischen den Lutheranern und den Reformierten. Es geht also um einen Unterschied, der quer durch die Gemeinschaft von uns Evangelischen geht. Ist uns das bewusst? Was bedeutet das?

1529 hat Martin Luther um dieses Unterschieds willen – und nur um dieses Unterschieds willen; sonst wurde völlige Übereinstimmung erreicht – beim Religionsgespräch in Marburg die Möglichkeit einer Verständigung mit Huldrich Zwingli und den Schweizern und einigen Süddeutschen abgelehnt! Erst im 20. Jahrhundert wurden Formeln gefunden, die den Unterschied aushalten lassen und doch Gemeinschaft möglich machen – gerade auch beim Abendmahl.

 

1524 hatte Martin Luther diesen entscheidenden Punkt großartig ausgedrückt:

            „[…] gab er uns sein’ Leib zu essen,

            verborgen im Brot so klein,

            und zu trinken sein Blut im Wein.“

Um dieses Geheimnis geht es! Dürfen wir es zu erläutern versuchen? Dürfen wir es zu verstehen versuchen?

Eine ganz alte Kirche sagt: „Nein!“ Am Sonntag, dem 4. Februar 1990, hatte ich in Kottayam in Südindien die Gelegenheit, die Ordination eines Priesters der Syrischen Orthodoxen Kirche mitzuerleben. Natürlich habe ich nichts verstanden. Dort wird Malayalam geredet. Aber ein Kollege hat mir übersetzt. Dem Priesteramtskandidaten werden Fragen gestellt. Eine lautet: „Kann man verstehen, was beim Abendmahl geschieht?“ Als Antwort muss gesagt werden: „Nein!“ Das Geheimnis wird nicht erläutert. Es wird offen gehalten!

Wäre das nicht auch für uns gut? Wir wissen doch gar nicht im Voraus, mit welchen Erwartungen, Sorgen und Ängsten wir zum Abendmahl gehen. Was uns gewiss ist am Glauben, was uns zweifelhaft ist. Aber doch dürfen wir mitfeiern und teilnehmen. Unverstandene, geheime Kräfte, die wir nicht rational ausleuchten können, werden sich uns erschließen. Und was wären das für Kräfte, wenn sie sich uns rational erschlössen?

            „Er spricht selber: »Kommt, ihr Armen,

            lasst mich über euch erbarmen […]«

[…]

            Glaubst du das von Herzensgrunde

            und bekennest mit dem Munde,

            so du bist recht wohlgeschickt,

            und die Speise dein Seel erquickt.“

Sie merken etwas: Eine Dimension rezipiere ich nicht. Eine Dimension im Text Martin Luthers halte ich für unerträglich – das muss ich ehrlich zugeben:

 

            „[…] »kein Arzt ist dem Starken not,

            sein Kunst wird an ihm gar ein Spott.

 

            Hättst du dir was ’konnt erwerben,

            was braucht ich für dich zu sterben?

            Dieser Tisch auch dir nicht gilt,

            so du selber dir helfen willt.«“

Das kann Martin Luther auch nur schreiben, weil er so tut, als rede Christus selber. Wir als Menschen, wir als Christen und Gemeindeglieder können das nie über Mitchristen sagen. Können wir denn in ihre Seele schauen? Dürfen wir über sie in geistlichen Dingen richten? Ich würde sagen: Nein. Christus selbst hat festgehalten, dass auch das „Unkraut“ – was ist „Unkraut“? – bis zur letzten Ernte mitwachsen soll (Matthäus 13,29). Gerade beim Abendmahl dürfen wir also in unseren Gemeinden keine Unterschiede machen.

Deshalb – wenn ich theologisch ganz ehrlich sein will – finde ich es gut, dass Landeskirchen bei uns die Disziplinierung von Gemeindegliedern im Zusammenhang mit dem Abendmahl abgeschafft haben. Dieses große Angebot der Nähe Christi dürfen wir nicht verweigern. Es gilt allen Mitchristen, die es wünschen. Gerade darin zeigt sich, was Martin Luther als Folge der Gemeinschaft mit Christus im Abendmahl beschreibt:

            „[…] deinen Nächsten sollst du lieben,

            dass er dein genießen kann,

            wie dein Gott hat an dir getan.“

Wie Gott, wie Christus an mir getan haben, getan hat! Was gibt es Größeres?

Kirche als Gemeinschaft, die in ihren Aktivitäten lebt, was sie in der Abendmahlsfeier erlebt hat! Christinnen und Christen, die in ihrem Leben Gestalt werden lassen, was sie in der

Abendmahlsfeier gewonnen haben! Das wird uns heute bewusst gemacht!

Aber eine Dimension des Liedes gilt es noch, hervorgehoben zu werden: Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen mir und dem Opfer Christi, auch zwischen jedem und jeder von Ihnen und dem Opfer Christi. Aber jetzt kann ich nur im Blick auf mich selbst reden und schreiben. Und Sie müssen prüfen, ob Sie dies dann auch auf sich beziehen können!

 

            „Jesus Christus, unser Heiland,

            der von uns den Gotteszorn wandt

            durch das bittere Leiden sein

            half er uns aus der Höllen Pein.

 

[…]

            Du sollst Gott den Vater preisen,

            dass er dich so wohl wollt speisen

            und für deine Missetat

            in den Tod sein’ Sohn geben hat.“

Kann ich ungebrochen in diese Sätze einstimmen? Hier hat Martin Luther ganz traditionell gedichtet. Solche Gedanken gehören durchaus zu unserer christlichen Tradition. Aber sie dürfen nicht allein stehen. Sie müssen ergänzt werden. Nur zusammen mit einer anderen Gewichtung ergeben sie die Wahrheit. Allein führen sie in die Irre!

Ich meine die Unterscheidung zwischen Christus und Gott. Ich meine diese traditionellen Sätze, die den Eindruck erwecken, als sei Christus gegenüber seinem zornigen Vater zum Opfer geworden. Das allein zu sagen, ist unerträglich. Das geht nicht. Wir müssen immer hinzusagen, immer mit sehen, dass es Gott selbst ist, der sich in Christus für uns geopfert hat.[3]

Wir müssen hier Martin Luther mit Martin Luther widersprechen. 1539 wird er schreiben: „Wir Christen müssen das wissen: Wo Gott nicht mit in der Waage ist und das Gewicht gibt, so sinken wir mit unserer Schüssel zu Grunde. Das meine ich also: wo es nicht sollt heißen, Gott ist für uns gestorben, sondern allein ein Mensch, so sind wir verloren. Aber wenn Gottes Tod und Gott gestorben in der Waagschüssel liegt, so sinket er unter und wir fahren empor als eine leichte, leere Schüssel. Aber er kann wohl auch wieder empor fahren oder aus seiner Schüssel springen. Er kann aber nur in der Schüssel sitzen, weil er uns gleich ein Mensch geworden ist, dass es heißen kann: Gott gestorben, Gottes Marter, Gottes Blut, Gottes Tod. Denn Gott in seiner Natur kann nicht sterben. Aber wenn Gott und Mensch vereinigt sind in einer Person, da heißt es recht Gottes Tod, wenn der Mensch stirbt, der mit Gott ein Ding oder eine Person ist.“[4]

Tief bin ich überzeugt – und diese Überzeugung darf ich Ihnen gegenüber bezeugen –, dass hier Gott selbst handelt. So wie er sich in einer für mich nicht verstehbaren Weise mir im Abendmahl in, mit und unter Brot und Wein anbietet, so hat er sich in, mit und unter Christi Leidensweg für mich geopfert, mir Leben eröffnet.

So können wir – so meine ich – sagen:

 

            „Du sollst Gott den Vater preisen,

            dass er dich so wohl wollt speisen

            und für deine Missetat

            in den Tod sich selbst geben hat“.

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“


 

[1]   Bewusst nenne ich diesen Gottesdienst an zweiter Stelle. Denn in der DDR war wegen der Auseinandersetzung um die Jugendweihe der liturgisch unverständliche Konfirmationstermin zum Sonntag Palmarum, dem Sonntag der Karwoche, längst aufgegeben. So bin ich im Jahr 1965 am Sonntag Exaudi konfirmiert worden.

[2]   Auch wenn im Gesangbuch an dieser Stelle kein Komma gedruckt ist, füge ich es doch ein.

[3]   Ausführlich habe ich über dieses Thema unter dem Titel „Wie können wir heute vom Opfer Christi reden?“ in V Službe Evanjelia, Festschrift für Generalbischof Dr. Miloš Klátik, hrg. von Milan Krivda, Juraj Bándy und Rudolf Keller, Liptovský Mikuláš 2013, S. 225-233, nachgedacht.

[4]   Martin Luther: Von den Konziliis und Kirchen, 1539, WA 50, Seiten 509-653, Zitat: Seite 590.



Pfarrer Dr Rainer Stahl
Erlangen
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de

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