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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2015, 2015

Wir glauben all an einen Gott / Credo (EG 183), verfasst von Anton Tichomirov

Ja, genau deshalb scheint das Christentum unglaubwürdig zu sein. Man kann sich gleich an Orwells doublethink erinnern. Wie kann man überhaupt beides zusammendenken? Einerseits die wunderbare Güte des himmlischen Vaters, der so großartig für uns sorgt. Andererseits, „dieses Elend“, aus dem wir erlöst werden sollen. Eigentlich ist nur entweder das Eine, oder das Andere denkbar.

Das ist ein Problem nicht nur dieses Liedes. Beide Aussagen sind allgemein-christliche Floskeln. Wenn wir eine Umfrage starten würden, bei der wir erfahren wollten, woran die Christen glauben, würden wir höchstwahrscheinlich sehr oft eine solche Antwort bekommen: Ich glaube, dass Gott für mich sorgt, dass er alles zum Guten lenkt, dass er mir keine allzu schwere Last auflegen wird, oder – etwas allgemeiner – dass alles in meinem Leben einen Sinn hat. Glaube als dankbares Vertrauen. Eine andere Variante (vielleicht öfter bei den sogenannten „konservativen“ oder „Evangelikalen“) wäre: Ich glaube daran, dass dieses Leben „ein Jammertal“ ist, dass es nur Vorbereitung auf die wunderschöne Ewigkeit ist, dass man diese Welt nicht lieben soll. In manchen Kreisen, besonders hier in Russland, wird man sogar hören, dass man sich der Seligkeit im Himmel umso sicherer sein kann, je mehr man auf Erden leidet.

Also, woran glauben wir denn nun? Was gilt, die erste oder die dritte Strophe? Aber klar, diese Frage ist falsch. Wir können, wir dürfen keine Strophe streichen, keine wegdenken. In Russland gibt es ein Sprichwort: „Aus einem Lied kann man kein Wort rausnehmen“. Das bedeutet: Manche komplexe Dinge darf man nicht auseinandernehmen. In unserem Fall passt es sogar wörtlich. Aus diesem Lied kann man (schon aus Ehrfurcht vor Luther) wirklich kein Wort rausnehmen.

Die „Kinder dieser Welt“ scheinen – wie immer! – doch ausgewogener und klüger zu sein. Sie würden bestimmt sagen: Wozu diese Extreme!? Wozu diese künstlichen, unrealistischen Gedanken, diese krankhaften Fantasien!? In der Welt ist doch alles gemischt: Es gibt Freude und Schmerz, Glück und Unglück, Vergnügen und Leiden. Alles ist relativ. Manchmal geht es einem besser, manchmal schlechter. Ja, klar, ab und zu gibt es auch extreme Situationen, aber eben nur selten. Man soll die Welt in ihrer Komplexität betrachten, nicht bloß schwarz-weiß, geschweige denn nur schwarz oder nur weiß. Aber gleichzeitig absolut schwarz und absolut weiß ist einfach schizophren.

Wenn man ehrlich ist, ist dagegen nicht viel einzuwenden. Das menschliche Leben ist normalerweise tatsächlich vielschichtig und gemäßigt. Keine Pest, sondern Schnupfen, keine Ekstase, sondern gute Unterhaltung. Der christliche Glaube übertreibt alles. Und – was noch schlimmer ist – übertreibt gleichzeitig in die zwei entgegengesetzten Richtungen. Und deshalb scheint das Christentum unglaubwürdig zu sein. Die erste und die dritte Strophe unseres Liedes passen nicht zusammen.

Oder doch?

Wir haben bisher die zweite Strophe vergessen. Die Christus-Strophe. Und die soll unsere Gedanken auf ein bestimmtes Ereignis lenken. Besonders heute. Denn wir denken heute nicht nur an Text dieses Liedes, sondern auch an der Stiftung des heiligen Abendmahls. „Das Abendmahl feiern“, sagt man auf Deutsch. Wir sammeln uns an einem Tisch, wir essen Brot und trinken Wein, wir hören die Worte der Vergebung und der Liebe, wir genießen schöne Musik, wir grüßen einander mit einem Friedenswunsch. Wir haben den Vorgeschmack der ewigen Freude im himmlischen Reich. Eigentlich soll diese Freude über alle Maßen gehen. Aber gleichzeitig geht es um die Erinnerung an den schrecklichen Tod Jesu. Es geht um seinen gemarterten Leib und sein vergossenes Blut. Es geht um das Kreuz. Wir sollen zutiefst traurig sein.

Ungefähr in einem Monat wird man in Russland mit großem Pomp den „Tag des Sieges“ feiern. Über eine politische Ausnutzung dieses Tages lässt sich streiten. Für mich jetzt geht es um die Gefühle der normalen Menschen. Seit längerer Zeit ist ein Lied zu diesem Feiertag sehr populär. In diesem Lied wird er „ein Fest mit Tränen in den Augen“ genannt. Man kann das auf doppelte Weise deuten. Eine Möglichkeit wäre, dass es sich um eine freudige Feier handelt, die aber eine ein bisschen traurige Note hat, durch die sie sogar „veredelt“ oder “verfeinert” wird. Aber ich denke, der Dichter hat es anders gemeint. Wir freuen uns und trauern: zutiefst und zugleich. Es gibt in der Geschichte der Menschheit und in jedem einzelnen menschlichen Leben solche Risse, bei denen es anders nicht geht. Das sind besonders wichtige Momente, in die wir die ganze Tiefe des Seins zu spüren bekommen.

Das Kreuz Christi, an das wir uns beim Abendmahl erinnern, ist einer dieser Momente, - man könnte sagen: ihre Quintessenz. Ein Brennpunkt: meines Lebens, der Geschichte, der Welt. Und das ist keine Übertreibung. „Einige Momente“, „einige Risse“, habe ich gesagt. Das stimmt aber nicht ganz. Nicht „einige“. Durch das Kreuz Christi erkennen wir, dass die ganze Welt so ist!

Der „gesunde Menschenverstand“ leugnet das, weigert sich, es zu akzeptieren. Aber die Poesie weiß davon, Verliebte kennen das und, ja, wir Christen sollten es auch wissen. Diese Welt ist überaus schön. „Wonderful world“. Mit welchem Maß kann man die Schönheit der Liebe messen? Oder die Wärme der ersten Frühlingstage? Oder sogar – um nicht zu jugendlich-romantisch  zu werden – eines guten Essen in einem guten Restaurant? Es gibt eigentlich keine Skala. Die Schönheit von alldem reicht bis ins Unendliche, ja bis in die Ewigkeit. Und das dürfen wir getrost bekennen. Dafür dürfen wir getrost dankbar sein. Und zwar über alle Maßen.

Und (ich wollte an der Stelle zunächst „aber“ schreiben, - und das wäre gerade falsch!) unsere Welt ist entsetzlich. Eine Liste von schrecklichen Dingen, die in ihr passieren, kann ich ruhig weglassen. Alle kennen sie. Es gibt Dinge, für es kein Verzeihen gibt, für die es kein Verzeihen geben darf.

Das Gute und das Böse gut miteinander zu vermischen, damit das Eine das Andere abmildern kann, damit ein Gleichgewicht entsteht, wäre durchaus vernünftig und realistisch. Aber das wäre ein Verrat. Ein Verrat an der ewigen Schönheit und ein Verrat an denen, die unter unmenschlichen Bedingungen leiden. Ich habe z.B. vorher über das Abendmahl und unsere Gefühle dabei gesprochen. In Wirklichkeit sind sie aber anders. Keine übermäßige Freude und keine allzu tiefe Trauer. Sondern ein bisschen von Beidem. Gut gemischt und wohl temperiert. Dafür sollten wir uns eigentlich schämen.

Wir müssen beides auseinanderhalten und doch gleichzeitig zusammendenken. Erst dann werden wir diese Welt und unser Leben so sehen, wie sie wirklich sind. Das ist bestimmt nicht leicht. Da entsteht ein Riss in uns, da bekommen wir kein einheitliches Bild von der Welt mehr. Aber das ist der Preis für die Wahrheit.

Die zweite Strophe des Liedes dürfen wir auf keinen Fall vergessen. Sie ist die Schlüsselstrophe. Sie verbindet die erste und die dritte Strophe des Liedes, die erste und die letzte Aussage. Aber nicht so, dass eine Harmonie zwischen beiden entsteht, sondern so, dass die beiden in ihrer Extremität und Widersprüchlichkeit betont werden. Durch das Kreuz erleben wir den Riss, der durch unsere Welt, durch das Universum und durch unser eigenes Herz geht. Heilsame Zerrissenheit. In den schönen Dingen im Leben die ewige Güte des Vaters erkennen und sich um keinen Preis mit dem Bösen abfinden. Das, genau das ist der christliche Glaube. Und wir können es aus unserem Lied und aus jeder Abendmahlsfeier lernen.



Anton Tichomirov

E-Mail: atikhomirov@web.de

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