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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2015, 2015

Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen (EG 518), verfasst von Wolfgang Winter

Liebe Gemeinde,

 

uns alle beschäftigt wohl in diesen Tagen die Flugzeugkatastrophe in den französischen Alpen. Unsere Gedanken und Gefühle sind bei den hundertfünfzig Menschen, die am Dienstag so plötzlich aus dem Leben gerissen wurden - bei den Kindern, den Jugendlichen, den Erwachsenen. Unsere Gedanken und Gefühle sind auch bei den Angehörigen, den Freunden, den Kollegen und Bekannten. Sie sind jetzt gezwungen, schmerzlichen Abschied zu nehmen von geliebten und vertrauten Menschen.

Aber all dies Leid ist schwer in Worte zu fassen. Die Gedanken kreisen unstet, die Gefühle schwanken hin und her auf der Suche nach Ausdruck und Fassung. Eigentlich sind wir fassungslos - so sagen Viele.

 

Es gibt von alters her in der Christenheit Lieder, die das Vermögen haben, all dies in uns Ungeklärte und Schwankende in sich aufzunehmen und ihm - wie ein Behälter - eine Fassung zu geben. So haben die Lieder oft über Jahrhunderte hin Menschen geholfen, ihr Leid in ihnen unterzubringen.

Eins dieser Lieder - es ist mehr als tausend Jahre alt und später von Martin Luther um zwei Strophen erweitert - beginnt mit den Worten:

„Mitten wir im Leben sind

Von dem Tod umfangen“. (EG 518)

Diese Erfahrung haben jetzt die vielen Gestorbenen und ihre nahen und nächsten Menschen ebenfalls machen müssen: dass mitten im Leben der Tod uns umfangen kann.

 

- Mitten im Leben:

plötzlich und unerwartet bricht der Tod ins Leben ein. Eine Vorbereitung, geschweige denn eine Gegenwehr ist verwehrt. Gewaltsam und ausweglos bricht der Tod herein und - eine letzte Zuspitzung - der Tod ist von jemandem gewollt. Ein Täter hat ihn über seine Opfer verhängt.

Inzwischen ist es schreckliche Gewissheit, dass der offenbar psychisch kranke Copilot des Flugzeugs alle anderen 149 Mitreisenden in seinen Suicid mit hineingerissen hat. In voller Absicht.

Das ist eine ungeheuerliche Tat, die uns vielleicht auch deswegen so erschüttert, weil sie unser Grundvertrauen in andere Menschen, in die Welt, ja auch in uns selbst angreift. Ohne dies ganz alltägliche Vertrauen, dass wir Menschen einigermaßen zuverlässig sind, könnten wir angstfrei wohl keinen Bus besteigen und keine Strasse überqueren.

Die Traumatherapeuten sagen uns, dass dies Grundvertrauen in einem traumatischen Erlebnis wie dem plötzlichen gewaltsamen Verlust naher Menschen verloren geht. Der bisher tragende Grund bricht ein, und auch wir ferner Stehenden spüren noch die Erschütterung.

 

- Mitten im Leben:

Mitgefühl, Schmerz, Trauer - gewiß sind solche Gefühle auch in uns, die wir innerlich bei den hinterbliebenen Menschen sind. Aber wohl auch Zorn und Wut auf den Täter. Vielleicht auch Rachegefühle. Es ist allerdings eine ohnmächtige Aggression, die ja das Geschehene nicht mehr ändern kann. Sie ist aber doch in Vielen da und treibt um.

Wohin mit dem quälenden Schmerz und der bohrenden Aggression?

 

Liebe Gemeinde,

der gewaltsame Tod von 150 Menschen, die Erschütterung des Urvertrauens bei den Nächsten und bei Manchen unter uns Mitfühlenden, und die unerledigten Gefühle von Schmerz und Aggression -   all das ist in wenige Worte und Noten gefasst und doch Ausdruck für unendliches Leid:

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“.

 

Das Lied geht aber noch darüber hinaus:

„Wer ist, der uns Hilfe bringt, dass wir Gnad erlangen?

Das bist Du, Herr, alleine“.

Hier bekommt das Lied eine Richtung auf ein Gegenüber. Unsere Gefühle und Gedanken können wir so vor Gott bringen, können sie sozusagen vor ihm ausschütten. Gott allein kann helfen.

 

Da ist der Schmerz um die Toten:

Aber sie sind im Buch des Lebens aufgeschrieben. Sie leben mit Gott. Was heißt das? Ganz mit Gott verbunden sein. In seiner Liebe und Wahrheit leben und darin die Erfüllung des so jäh abgebrochenen Lebens finden. Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Und in ihm sind und bleiben auch wir mit ihnen verbunden, in allem irdischen Getrenntsein.

Da ist die Erschütterung des bisher selbstverständlichen Vertrauens:

Aber wir haben eine Zuflucht bei Gott. Eine unzerstörbare Zuflucht, wenn alles Tragende schwankt und bricht. „Das bist Du, Herr, alleine“.

Die Gewißheit einer auch durch den Tod nicht zerstörbaren Verbundenheit spricht sich immer wieder in der Bibel aus. So etwa bei Paulus (Rö 8, 38f.): „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben...noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

 

Und da sind auch die unerledigten Aggressionen auf den Täter:

Aber bei Gott sind auch die Täter nicht vergessen. Auch sie müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. Darin liegt ja der Sinn der Vorstellung vom Jüngsten Gericht: dass alles, was jemand in seinem Leben erlebt und getan hat, noch einmal vor Gott kommt und von ihm, dem Gerechten und noch viel mehr Barmherzigen, zur Vollendung gebracht wird. So können wir auch diesen unglücklichen und zugleich schuldigen 27jährigen Menschen Andreas L. in Gottes Hand geben und so unsere Aggression ein wenig mildern. Wir brauchen nicht selber Gott zu spielen und ein endgültiges Urteil über ihn zu fällen.

 

Lassen Sie uns das Lied gemeinsam singen und teilhaben an seiner Bewegung zu Gott hin:

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.

Wer ist, der uns Hilfe bringt, dass wir Gnad erlangen?

Das bist du, Herr, alleine.

Uns reuet unsre Missetat,

Die dich, Herr, erzürnet hat.

Heiliger Herre Gott, heiliger starker Gott,

Heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott:

Lass uns nicht versinken

In des bittern Todes Not. Kyrieleison.

 

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus

Amen



Supervisor, Pastor Wolfgang Winter
Göttingen
E-Mail: wolfgang-winter@gmx.de

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