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ISSN 2195-3171

Adventszeit, 2015

Andacht im Advent 2015 über Lukas 1,46-55, verfasst von Florian Wilk

Liebe Gemeinde,

dass der Advent Deutsche in Hektik und Stress versetzt – das wird seit langem jedes Jahr aufs Neue in den Medien berichtet, persönlich beobachtet und vielfach beklagt. Vermutlich können auch wir uns davon nicht ganz frei halten. Freilich war vor kurzem zu lesen, dass Christinnen und Christen solcher Hektik seltener erliegen als Men­schen, die in dieser Zeit kaum etwas anderes im Sinn haben als die Weihnachtsgeschenke, die sie besorgen müssen.

In der Tat gibt es für eine adventliche Gelassenheit gute Gründe – und nicht zuletzt ein biblisches Vorbild. Denn nachdem Maria seinerzeit von ihrer wundersamen Schwan­gerschaft erfahren und daraufhin „eilends“ ihre Verwandte Elisabeth aufgesucht hatte, blieb sie ganze drei Monate lang bei ihr … Wir erfahren nicht, was Maria veranlasste, diese Ruhepause einzulegen. Vielleicht genoss sie die Zuversicht, die ihr, wie Lukas erzählt, die ebenfalls schwan­gere Elisabeth zusprach. Doch womit diese gute Zeit für Maria begann, das sagt der Evangelist. Sie kommt zur Ruhe durch ein Lied; ein Loblied auf die große Freude, die Gott ihr und allen Gottesfürchtigen bereitet hat …

Musik: „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich (EG 27)“

Dass ein Lied mich aufatmen lässt – das kenne ich gut. Gerade in der Adventszeit begegnen mir Gesänge, die das vermögen.
Es tröstet mein Gemüt, zu hören, was Jochen Klepper gedichtet und Johannes Petzold komponiert haben: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern …“. – Meine Seele findet Ruhe, wenn es bei mir anlandet, das „Schiff, geladen bis an sein’ höchsten Bord“ … – Und Händels Vertonung der „Tochter Zion“ lässt mir das Herz im Leibe lachen … Oft hängt es natürlich von den jeweiligen Umständen ab, ob ein Lied mich wirklich erreicht. Aber die Arie „Großer Herr und starker König“ aus Bachs Weihnachtsoratorium rührt mich stets aufs Neue an …

Ich bin mir gar nicht sicher, woran das eigentlich liegt. Offenbar gibt es Worte und Melodien, denen eine besondere Macht eignet – die Macht, jedwede Rüstung, die ich mir im Alltag anlege, damit mir ja niemand zu nahe kommt, zu durchdringen, die Macht, in mein Innerstes vorzudringen – und mich so zu öffnen für die Güte, die sie, diese Worte und Melodien, mir zutragen.

Allerdings: Mit dem Lied der Maria hat es eine besondere Bewandtnis. Ruhe verschafft es ihr nicht, weil sie es hört; Ruhe stiftet es, indem sie es selbst anstimmt …

Musik: „Nun singet und seid froh (EG 35)“

Maria singt. Sie singt dem Herrn. Ja, noch mehr: Sie singt dem Herrn ein neues Lied. Ganz so, wie es die Bibel empfiehlt: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“

Damit scheint sie als Vorbild für uns freilich in weite Ferne zu rücken. Schon die Gabe, ein Lied anstimmen zu können, ist nicht jedem zu Eigen. Und ein neues Lied zu ersinnen, sei es in Worten oder in Tönen, ist nun wirklich eine Kunst.

Doch was Lukas der Maria zuschreibt, soll uns nicht in den Schatten stellen. Im Gegenteil! Ihr Gesang führt uns in hinein in den Sprach- und Klangraum, der das Gottesvolk seit alters singen lehrt: den Raum der Psalmen. Zeile um Zeile bedient sich Maria des Schatzes, der hier bereit liegt und nur darauf wartet, geborgen zu werden. „Meine Seele erhebt den Herrn“, sagt Maria – und folgt dem Aufruf von Psalm 34: „Meine Seele soll sich rühmen des Herrn …“ „…mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes“, fährt sie fort – und greift damit auf den Psalm Habakuks zurück, wo es heißt: „Ich will … fröhlich sein in Gott, meinem Heil.“

Das Lied der Maria ist wie eine Collage. Vertraute Sätze und Wendungen werden zusammengestellt, um den Gott zu loben, der sich selbst und uns treu bleibt im Wandel der Zeit. Man muss also weder Dichterin noch Komponist sein, um dem Herrn ein Lied singen zu können. Es braucht nichts anderes als die Bereitschaft, sich vertraut zu machen mit den Schätzen der Tradition. Dann kommen einem bei­zeiten die rechten Worte ganz von alleine in den Sinn.

Ist es dann überhaupt ein neues Lied? Durchaus. Die alten Sätze werden ja neu gemischt. Und nicht nur das. Sie werden vor allem neu angeeignet – im Kontext einer nun wirklich wunderbaren Erfahrung …

Musik: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen (EG 40)“

„Gott … hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“, singt Maria, „er hat große Dinge an mir getan“. Im Zuge der Weihnachtsgeschichte drängen sich solche Sätze geradezu auf. Immerhin wird Maria aus Gottes heiterem Himmel ein Kind geschenkt. Es fällt nicht leicht, den Evangelisten hier beim Wort zu nehmen; „wie“, so mag man mit Maria fragen, „sollte das zugehen?“ Vermutlich hat Lukas das Motiv der wunderbaren Geburt aus antiken Helden- und Herrschererzählungen übernommen, um die besondere Würde Jesu anzuzeigen. Entscheidend ist aber etwas anderes:

Das Lied der Maria erwächst nicht aus einer besonderen Leistung. Kein „We are the champions“ ist hier zu hören. Es hat überhaupt nichts mit ihren Taten, ihren Fähigkeiten oder ihren Charakterzügen zu tun. Ihr Gesang geht aus einem schlichten Empfangen hervor. Sie kann singen, weil sie weder sich noch anderen etwas beweisen musste. Sie findet in diesem Lied zur Ruhe, weil sie in der Begegnung, von der es erzählt, Freiheit erlebte. In dieser Begegnung durfte Maria sie selbst sein – ohne den Zwang, sich neu zu erfinden, sich zu präsentieren und sich dem Gegenüber als angenehm und beachtenswert zu erweisen.

Gott hat sie in ihrer Niedrigkeit angesehen – das lässt sie jubeln. Sie erfährt uneingeschränkte Zuwendung – und indem sie das zulässt, dringt das Loblied auf ihre Lippen. Darin geht es nun freilich nicht nur um sie, sondern um die Elenden überhaupt …

Musik: „Jauchzet, ihr Himmel (EG 41)“

‚Sehet doch da: Gott will so freundlich und nah zu den Verlor’nen sich kehren!‘ – so beschrieb es Gerhard Tersteegen in dem Weihnachtslied, das gerade angespielt wurde. Drastischer klingt es bei Maria: „Seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Drastischer und realistischer – denn wie sonst soll den Notleidenden geholfen werden, wenn nicht durch eine Entmachtung der Unterdrücker?

Das Lied der Maria ist also hoch politisch. Die Ruhe, die es stiftet, entsteht nicht aus einer Abkehr vom Elend der Welt, nicht aus einem Rückzug in die Innerlichkeit. Dieses Lied stiftet Gelassenheit, weil es daran erinnert, dass Gott selbst den Niedrigen aufhilft.

Das ist nur scheinbar eine Utopie. Wer vergeblich darauf wartet, dass Gott den Übeltätern die Waffen aus den Händen schlägt, hat Maria gründlich missverstanden. Denn Gottes Umsturz vollzieht sich in den Herzen. Wo Gottes Gnade Menschen von innen her füllt, da schwindet die Angst, aus der Hass und Gewalt hervorsprossen …

Musik: „Es ist ein Ros entsprungen (EG 30)“

Nicht die Gewalttäter machen Geschichte, so schrecklich ihr Tun auch ist, und so sehr ihr Werk die Medien und die Geschichtsbücher auch bestimmt. Gott macht Geschichte, und zwar durch Menschen wie Maria: Menschen, die sich anrühren lassen von Gottes Zuwendung; die darin Freiheit erfahren; die deshalb dem Herrn ein neues Lied singen; die mit diesem Lied zur Ruhe kommen; die sich in diesem Lied zum Sprachrohr der Elenden dieser Welt machen; und die eben dadurch den hellen Schein der Weihnacht in die Welt tragen, der die Finsternis vertreibt.

Amen.



Prof. Dr. Florian Wilk
Göttingen
E-Mail: Florian.Wilk@theologie.uni-goettingen.de

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