Jes. 66,13 – Jahreslosung 2016
Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Liebe Gemeinde,
was prägt eigentlich unser Leben? Wer prägt unser Leben? Woher beziehen wir unsere Anschauungen von gut und böse, richtig und falsch, wichtig oder nebensächlich?
Ein kleiner Ausflug ins Familienleben zu Beginn. Die Spiegelausgabe vom 19. Dezember 2015 trug den schönen Titel: „Sind Väter die besseren Mütter?“ Der Artikel zum Thema[1] ging der Frage nach, wie sich Väter in ihrem Umgang mit Kindern von Müttern unterscheiden. Wenn die Autorin recht hat, unterscheiden sich Väter und Mütter in einem Aspekt gar nicht: nämlich der Zuwendung und Zuneigung zum Kind. Aber einen interessanten Unterschied machte sie schon fest: Wenn sich in einer Kleinkindergruppe Mütter treffen, dann sprudeln aus ihnen „die Ideen, was ihre Kinder jetzt noch alles brauchen könnten: Schluck Tee? Stück Apfel? Windel voll? Mal laufen üben? Achtung, die Tischkante!“ Und dann erzählt sie von einer Vater-Kind-Krabbelgruppe, die sie in Berlin besucht hat: Papaladen heißt sie. „Drei Väter sind heute da. Sie haben ihre Schuhe ausgezogen und sitzen neben ihren Kindern am Boden. Eine Kiste Legosteine wird ausgekippt. Die Babys robben, nuckeln an dem Spielzeug.
Und dann fällt etwas Sonderbares auf: kein Lärm, kein Quengeln, kein Gezeter. Eine Stunde lang weint kein Kind. Die Männer unterhalten sich miteinander. In Ruhe.“
Woran liegt das, fragt die Autorin. Sie bringt die Vermutung eines Experten: „'Mutter sein heißt heute, sich ständig fragen zu müssen: Bin ich gerade gut genug? Was kann jetzt noch besser sein? Ist die Babyjacke zu dünn? Das Brötchen auch gesund? Soll ich noch schnell was singen?' Viel Druck, hohe Ansprüche.
Und die Väter? 'An die stellt niemand so hohe Erwartungen', sagt der Experte. 'Man ist froh, wenn sie überhaupt etwas tun.' Er sehe (in seinem Papaladen) Woche für Woche Männer, die ihrem Kind aus der Kleidung hülfen, kurz an der Windel röchen, ein Schlückchen Tee anböten. Und es dann, spielte es glücklich, auch zufrieden ließen.“
Mütter wollten eher alles gut geordnet haben, meint die Autorin, Väter seien eher risikobereit und ließen den Dingen auch mal ihren Gang. Was nicht heißt, dass sie weniger sorgsam aufpassen oder weniger aufmerksam für ihr Kind da sind. Beide – Vater und Mutter – sind für das Heranwachsen eines Kindes wichtig. Wie sich das im Einzelfall darstellt und organisiert, hängt unter anderem davon ab, wer mehr Zeit mit den Kindern verbringt.
Sie alle haben Ihre Erfahrungen mit Vater und Mutter. Kinder waren und sind wir alle. Kinder bleiben wir unser ganzes Leben – selbst wenn wir schon lange erwachsen sind, vielleicht schon alt und selbst dann, wenn unsere Eltern schon gestorben sind. Viele von uns sind selbst Vater oder Mutter. Wir wissen, was das heißt: ein Kind will ein eigener Mensch werden. Es soll etwas von dem mitbekommen, was uns wichtig ist. Wir wollen unsere Kinder auf das selbständige Leben vorbereiten. Behutsam, aber so, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen können. Immer wieder gibt es dabei Konflikte, manchmal heftige, wenn die nicht so wollen wie wir. Aber aufs Ganze gesehen ist es in den meisten Fällen doch so: Wir wollen für unsere Kinder da sein, ihnen Rat und Orientierung geben. Und wir freuen uns, wenn sie später wiederkommen und unseren Rat oder unsere Meinung hören wollen. So wie wir – wenn es gut gelaufen ist – zu unseren Eltern um Rat gegangen sind, als wir schon groß waren.
Es gibt vielleicht nichts Prägenderes in unserem Leben als die Beziehung zu unseren Eltern. Wenn die Wörter „Vater“ oder „Mutter“ fallen, dann sind sie sofort präsent: die Bilder vom Vater, der entweder da war oder ständig abwesend, der sich um uns gekümmert hat oder nichts mit uns anzufangen wusste. Oder eben die Mutter, die sich sorgte und uns half, die ein Pflaster aufgeklebt hat, wenn das Knie aufgeschürft war und die vielleicht manchmal enttäuscht war, wenn das Essen uns nicht geschmeckt hat. Und wenn wir krank waren, haben sich vielleicht beide abgewechselt und am Bett Wache gehalten. Wohl dem Kind, das sich so auf seine Eltern verlassen konnte.
Denn sie sind da, die Bilder aus der Kindheit. Und sie bestimmen bis ins Altwerden unsere Wahrnehmungen und Gefühle, unser Hören und unser Reagieren – bis hinein in unseren Glauben, unsere Gottesbilder. Wenn ich in unser Glaubensbuch schaue, die Bibel, dann finde ich im ganzen Alten Testament alle möglichen Gottesbezeichnungen: der Allmächtige, der Retter, der Schöpfer, der König, der Richter und so weiter. Nicht aber: der Vater, nicht wirklich in dieser Form, höchstens indirekt, wenn nämlich über den König von Israel gesagt wird, er sie der Sohn Gottes. „Abba, lieber Vater“, das hat erst viel später Jesus gesagt. Und hat damit eine ganz neue Qualität in die Rede mit Gott gebracht. Da war nicht mehr die entfernte Macht, dieses Wissen um die große Distanz zwischen Gott und Mensch, sondern es kam eine Nähe, ja eine Vertrautheit in die Sprache, die es so vorher nicht gegeben hatte. Gott – ein guter Vater, ein liebender Vater, einer, an den du dich wenden kannst mit dem, was dich bewegt oder gar belastet: Das war neu. Aber folgen können wir einem solchen Bild nur, wenn wir selbst ein positives Bild vom Vater mitbringen. Unsere Wörter spiegeln unsere Erfahrungen wider.
Und nun, unerwartet und überraschend, finden wir eine ganz andere Bezeichnung für Gott, und das im Alten Testament. Er ist auch hier nicht mehr nur der Mächtige, der kommt, um die Gefangenen Israels zu befreien. Er ist nicht mehr nur der, dem alle Wege begradigt und alle Berge eingeebnet werden müssen – weil er der König aller Könige ist. Nein, da klingen ganz andere Töne an. Hören Sie: „Gott spricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,13).
Auch das ist neu – ganz neu. Vor diesem Gott musst du keine Furcht haben, vor ihm musst du dein Haupt nicht verbergen. Vielmehr kannst du deinen Kopf in seinem Schoß bergen. Nicht Gott der König, nicht der Herr der Heerscharen, nicht einmal der Vater – wie gesagt, dieser Gedanke wurde erst viel, viel später bedeutsam. Nein, tatsächlich und auch wenn das in unser gelerntes Bild vielleicht nur schwer hineinpasst: Gott die Mutter, Gott der oder die tröstet. Gott, der oder die reagiert: auf Schmerz, auf Trauer, auf Einsamkeit, wenn wir nicht verstanden werden, oder wenn wir verspottet werden, oder wenn uns ein großer Plan misslingt und wir enttäuscht oder traurig sind. Gott, der oder die reagiert mit nähe, mit gutem Wort, mit einer sanften Berührung, mit einer Perspektive, die wir nicht gesehen haben.
„Gott spricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,13). Das ist die Jahreslosung für das heraufziehende Jahr 2016. Und wenn wir uns umschauen nach hinten und nach vorn, dann hat die Welt viel Trost nötig: die, die einen Menschen aus ihrem engen Lebensraum verloren haben. Die, gesundheitlich so sehr beeinträchtigt wurden, dass sie ihr Leben, wie sie es kannten, nicht mehr weiterführen können. Die, denen mit der Arbeitsstelle auch die soziale und wirtschaftliche Grundlage für sich und die Familie genommen wurde. Die, die vor Krieg und Gewalt fliehen und ihre Heimat verlassen und auf ungesicherten Wegen in eine unbekannte Zukunft ziehen müssen. Die, deren Seelen Angst quält – egal woher die kommt. Trost haben viele, viele unter uns nötig, noch viel mehr Menschen und aus noch viel mehr Gründen als ich hier nennen kann.
Gut, wenn dann solche da sind, die sich kümmern. Freunde, die zuhören und nicht gleich alles wegreden wollen, weil sie selbst das Elend nicht aushalten. Geschwister, die die Tür aufmachen. Eltern für ihre Kinder oder Kinder für ihre Eltern. Väter anders als Mütter. Alte Menschen mit ihrer Lebenserfahrung und Weisheit anders als Kleinkinder, die sehr genau spüren, wo Trost nottut.
Und dann eben Gott: so überraschend damals, dass mit Gott das feine Gespür für Trostsituationen verbunden wurde. Die mütterliche Seite Gottes ist hier die Trostseite. Die behutsame, ja die zärtliche Seite Gottes, die wir so oft verschweigen und verdrängen. Gott die Trösterin will gar nicht mehr alles erklären. Sie weiß, dass wir Menschen manches nicht erklären und nicht verstehen können – auch nicht erklären oder verstehen müssen. Aber sie weiß um unseren Schmerz, unseren Kummer, unsere Ängste angesichts von Verlusten oder übergroß unsicher scheinender Zukunft. Denn echter Trost heißt ja nicht: „alles nicht so schlimm“, sondern: „du wirst weiterleben können.“
So ist er, unser Gott. So ist sie. Und ich sage das mit „er“ oder „sie“ nicht, weil es modern wäre oder weil ich damit an liebgewordenen Sprachregeln kratzen wollte – einfach so, zum Spaß. Ich sage es deshalb, weil mir immer wichtiger wird: Wir können Gott nie ganz erfassen. Wir werden mit Gott immer wieder aufs Neue vor Überraschungen erleben – Unerwartetes. Gut wenn wir das erkennen und in unseren Glauben hineinlassen, so wie es zum Beispiel Johann Jakob Schütz getan hat. Der hat schon 1675 das Lied „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ (EG 326) geschrieben. Und darin redet er sowohl vom „Vater aller Güte“ als auch davon, dass Gott „mit Mutterhänden“ die seinen auf ihren Wegen leitet.
Ja, Gott ist Vater und Mutter, Schöpfer und Vollender, allmächtiger Herr und schutzbedürftiges Kind, gerecht und barmherzig, mahnend und trostreich. Und noch viel mehr.
Gott will in unser Leben hinein. Zu den Zeiten, in denen es uns gut geht und wir voller Lebenskraft und Selbstvertrauen sind. Aber eben genau so – und vielleicht sogar noch mehr – wenn wir Trost brauchen, guten Zuspruch, die mütterliche Seite Gottes. Gott zeigt sie uns, diese mütterliche Seite. Wir dürfen sie von Gott erwarten. Und wir dürfen uns darauf verlassen, dass uns als Kindern Gottes auch diese mütterliche Seite zugesprochen ist. Im alten wie im neuen Jahr.
Amen.
[1] DER SPIEGEL 52/19.12.2015; Art. Kerstin Kullmann „Lasst die Väter ran“, S. 106-112