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ISSN 2195-3171

kirchenjahreszeitlich, 2015

Jahreslosung 2016, verfasst von Sibylle Rolf

Liebe Gemeinde,

„Ich habe das schon oft gehört. Leidige Tröster seid ihr alle!“ Er schlägt mit seiner Faust auf den Boden. Er ist geschunden an Körper und Seele. Stinkende Wunden und Geschwüre bedecken seinen Leib. Seine Kleider sind zerrissen und staubig. Er hockt vor dem, was von seinem Haus übrig geblieben ist. Seine Kinder, sein Vieh, seine Knechte und Mägde sind durch verschiedene schreckliche Umstände ums Leben gekommen. Er ist ganz allein. Nein, nicht ganz. Seine Frau steht noch in der Tür und wartet darauf, dass er endlich alles hinschmeißt und Gott verflucht, der ihm dieses Schicksal aufgebürdet hat. Seine Frau steht da und lauert.

Und im Halbkreis vor ihm stehen seine Freunde. Sie waren gekommen, als sie von seinem Schicksal gehört hatten. Alle Kinder tot. Alles Vieh verloren. Der ganze Reichtum weg. Erst einmal setzen sie sich zu ihm und schweigen. Die Last ist so schwer, dass es nicht sofort Worte gibt. Eine ganze Woche lang schweigen sie mit ihrem Freund. Sie halten aus. Sie nehmen ihn in den Arm. Der Schmerz ist zu groß für Worte, das wissen sie ganz genau. Sie verhalten sich wirklich vorbildlich.

Doch dann ertragen sie es nicht mehr. Ihre Gedanken fangen an sich zu überschlagen. Es muss doch einen Grund haben, dass er so leiden muss. Niemandem bürdet Gott so eine schwere Last einfach so auf, ohne Grund. Erforsche dein Herz, sagen sie ihm. Gibt es nicht doch irgendwas, das du vor uns oder gar vor dir selbst verbirgst? Und sie reden sich richtig in Schwung. Einer nach dem anderen. Das kann doch gar nicht sein. So viel Leid muss einen Grund haben. Sonst könnten sie es sich ja auch zuziehen. Erklärungen sind gut. Mit denen kann man sich den Schmerz wieder ein Stück vom Leib schaffen. Und sie bedrängen ihren Freund. Schau doch noch mal genau hin, sagen sie. Dann weißt du auch, wie es beim nächsten Mal besser werden kann. Wie du in Zukunft ein solches Leid vermeidest.

Bis es ihrem Freund zu viel wird und er sich wehrt. „Ich habe das schon so oft gehört“, bricht es aus ihm heraus. „Leidige Tröster seid ihr allzumal! Wollen denn die leeren Worte kein Ende haben?“

Die Rede ist von Hiob. Gott und der Teufel hatten vereinbart, dass sie seinen Glauben prüfen wollen. Und dem Hiob widerfahren furchtbare Dinge. Viel mehr, als ein Mensch auf einmal ertragen kann. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen erhält er. Wer kann mich jetzt noch trösten?, muss er sich gefragt haben. Wo finde ich Trost? Wie komme ich mit meinem Leben wieder zurecht? Und nachdem seine Freunde Elifas, Zofar und Bildad ihrem Freund Hiob zunächst vorbildlich zur Seite stehen – indem sie gar nichts tun, sondern einfach für ihn da sind – erliegen sie nach einiger Zeit der Versuchung, doch nach Erklärungen zu suchen. Und Hiob fühlt sich nicht getröstet, sondern trostloser denn je. Und vielleicht erst jetzt so richtig allein.

Es ist nicht so einfach mit dem Trost. Was ist Trost, und wie fühle ich mich getröstet? Was macht den Unterschied zwischen dem echten, wohltuenden Trost und der Vertröstung aus, nach der ich mich noch viel trostloser fühle als zuvor? Warum sind Hiobs Freunde, die doch zuerst so gut, so vorbildlich für ihren Freund gesorgt und ihn getröstet haben, „leidige Tröster“? Wenn Gott uns zuspricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet – und wir in diesem Jahr dieses Wort vor Augen und im Herzen haben dürfen: wie fühlt sich dieser Trost an, und wie tröstet eine Mutter?

Adam ist zwei Jahre alt. Nicht so einfach für seine Eltern. Die Engländer nennen dieses Alter „the terrible twos“, die schrecklichen zwei. Schrecklich fühlt es sich für Martina, seine Mutter manchmal wirklich an. Es gibt Momente, da ist für Adam das Leben zu groß, und er kann nicht anders als mit aller Kraft zu schreien. Er fühlt sich überfordert, möchte ausbrechen. Ihm ist irgendwie nicht zu helfen, es ist, als sei er aus seiner Welt irgendwie herausgefallen. Nicht mehr im Reinen mit sich selbst. Adam brüllt. Wie am Spieß. Und schon nach kurzer Zeit wird es anstrengend. In solchen Momenten sagt Martinas Mann: gib ihm etwas zu trinken, damit er endlich Ruhe gibt. Und ihre Schwiegermutter sagt: lenk ihn ab, damit er seinen Kummer vergisst. Und Adams großer Bruder macht sich auf dem Weg, ein Spielzeugauto zu holen.

Manchmal hilft das. Aber Martina ahnt, dass Ablenkung für Adam noch kein echter Trost ist. Es gibt Momente, da lässt er sich kurzzeitig beruhigen, aber fängt gleich darauf wieder an. Alles ist ihm zu viel. Er will alles auf einmal haben. Oder gar nichts. Nichts ist recht. So als wäre die ganze Welt nicht recht. In solchen Momenten nimmt Martina Adam auf den Schoß. Häufig wehrt er sich aus Leibeskräften. Aber sie lässt sich nicht beirren. Adam, flüstert sie ihm zu, ich bin für dich da. Und sie nimmt ihn in den Arm.

Und dann lässt Adam endlich alles aus sich heraus. Seine Fassungslosigkeit. Seine Unsicherheit. Seinen Zorn und seinen Schmerz. Martina spürt, wie viel Energie sich entlädt. Sie geht mit in Adams Schmerz. Und sie hält ihn fest, solange er Halt braucht. Irgendwann, einige Tränen und einiges Geschrei später, kann er entspannen und loslassen. Tief atmet er einmal durch, und manchmal schläft er ein, getröstet.

 

Nicht immer schaffen Mütter es, ihre Kinder wirklich zu trösten und nicht zu vertrösten. Es gibt Situationen, da muss man sich mit Ablenkungen behelfen. An der Supermarktkasse, Sie haben die Situation lebhaft vor Augen. Aber Mütter halten aus, immer wieder. Sie sind da. Auch wenn die Kinder älter werden. Als Adam mit 14 zum ersten Mal unglücklich verliebt ist und sich zurückzieht und mit niemandem mehr sprechen will. Martina klopft immer wieder an seine Zimmertür. Immer wieder setzt sie sich an sein Bett und fragt nach. Sagt gar nicht viel, sondern hört zu. Und zeichnet ihrem Sohn vielleicht am Ende ein kleines Kreuz auf die Stirn.

Und auch später noch, bei den großen und kleineren Sorgen, ist Martina da und steht neben ihrem Sohn und hinter ihm, stärkt ihm den Rücken. Bleibt bei ihm. Hält aus. Und gibt nur einen Rat, wenn er sie darum fragt.

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, spricht Gott. Echter Trost ist keine Vertröstung. Er lenkt nicht ab mit einem Trostpflaster, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Er geht hinein in den Schmerz. Hält mit aus. Macht den anderen gewiss: du bist nicht allein. Echter Trost geschieht in einer Beziehung, in der zwei einander vertrauen. Sich einander anvertrauen.

Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Mit dem Trost wird nicht alles sofort wieder gut. Die Menschen, an die diese Worte zum ersten Mal gerichtet waren, haben die babylonische Gefangenschaft hinter sich. Sie waren nach Israel, nach Jerusalem zurückgekehrt, an die Orte, die ursprünglich ihre Heimatorte waren. Aber nichts mehr ist dasselbe. Alles ist in Trümmern, das Leben hat sich verändert, die Straßen, die Häuser sind trostlos geworden.

Man kann nicht einfach weitermachen nach einem Bruch. Das Leben muss sich neu ordnen. Wenn alles auf den Kopf gestellt und durcheinander gewirbelt wird, braucht die Seele Zeit, um zu heilen. Und alles ist zu viel. Nicht nur für Zweijährige wie Adam. Oder für 14jährige, die zum ersten Mal unglücklich verliebt wird. Immer, wenn wir vor Scherben stehen, braucht es Zeit. Wir erleben widersprüchliche Gefühle. Die Welt ist zu groß, Worte sind zu klein. Auch geringe Anstrengungen sind zu viel. Und Trost muss nicht darin liegen, sofort wieder alles in seinen Ursprungszustand zu verwandeln. Manchmal muss man einfach aushalten.

Und der Tröster geht mit. Wenn Gott seinem Volk und uns zuspricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, dann sagt er uns auch: Es wird dauern, bis dein Leben wieder rund läuft. Bis dein Haus wieder schön und dein Feld wieder bestellt ist. Und du wirst vielleicht weiterhin die Menschen vermissen, die mit dir vormals hier zusammengelebt haben. Dein Leben wird nicht einfach wieder dasselbe werden. Es wird nicht einfach alles wieder gut. Aber in dem ganzen Prozess, wenn du dein Leben ordnest und alles von Grund auf wieder neu aufrichtest, bist du nicht allein.

Gott sagt es den Zurückgekehrten und uns zu: Ich gehe mit dir. Ich tröste dich, wie einen seine Mutter tröstet. Ich halte es mit dir aus, in den Trümmern Jerusalems und in den Trümmern deines Lebens. Ich sitze nicht ein paar Tage, sondern dein Leben lang mit dir, wenn es sein muss. So lange, bis du den Mut und die Kraft findest, wieder aufzustehen und aus den Trümmern wieder etwas aufzubauen. Oder bis zu loslassen und entspannen kannst. Der Trost menschlicher Mütter und menschlicher Freunde ist irgendwann aufgebraucht. Weil auch sie irgendwann nicht mehr bei Trost sind und selbst Trost brauchen. So geht es Hiobs Freunden, und auch Martina wird diese Erfahrung machen: sie kann Adam nicht an allen Tagen den Trost spenden, den er braucht. Aber das ist kein Grund zum Verzagen.

Gott verspricht uns echten Trost, der nicht ausweicht, sondern mitten in den Schmerz hineingeht. Gott hat den Schmerz und den Tod selbst erlitten, damit kein menschlicher Schmerz gottlos und gottverlassen sein muss. Und Gottes Trost ist nicht nach sieben Tagen aufgebraucht. Darauf können wir uns verlassen.

Machen wir uns nichts vor. Auch im Jahr 2016 wird es trostlose Momente geben. Auch im Jahr 2016 leben wir in einer unerlösten Welt. Es werden Kriege geführt, Menschen müssen ihre Heimat verlassen, Kinder hungern und schlafen nachts mit Angst ein. Mit Gottes Zuspruch wird nicht sofort alles gut. Aber wir dürfen getrost, getröstet und behütet in das neue Jahr aufbrechen. Gott spricht es jedem von uns zu: ich lasse dich nicht allein. Ich halte mit dir aus. Ich halte dich und stärke dich. Ich gebe dir Kraft, wenn alles zu Ende scheint. Und ich helfe dir, auch aus den Trümmern deines Lebens etwas neues zu bauen.

Amen.



Pfrin. Pd Dr. Sibylle Rolf
Oftersheim
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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