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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

, verfasst von Andrea Schmolke

Liebe Gemeinde,

Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern. Sie sitzen beim Essen zusammen und Jesus kündigt ihnen an: „Einer von euch wird mich verraten.“ Als dann Judas den Raum verlassen hatte und Jesus wusste, dass es von nun an kein zurück mehr geben wird, setzt er zu seiner Abschiedsrede an, die er den zurückgebliebenen Jüngern hält. Ein Abschnitt daraus im 14. Kapitel des Johannesevangelium ist unser Predigttext:

Textlesung

Jesus kündigt an, dass er weggehen und wiederkommen wird. Würden sie ihn lieben, würden sie sich darüber freuen. Denn Jesus geht ja zum Vater – und nicht verloren. Jesus geht seinen Weg.

Und noch einmal schärft Jesus seinen Jüngern ein: [...] (J)etzt habe ich's euch gesagt, ehe es geschieht, damit ihr glaubt, wenn es nun geschehen wird.

„Ich hab‘s euch ja gesagt! Aber Ihr wolltet mir ja nicht glauben!“ - Oh, wer kennt nicht diesen Satz, wer hat diese Rechthaberei nicht schon einmal gehört?

Ja, es kann ganz altklug sein, wenn jemand so redet, wenn jemand auf seine Rechthaberei pocht. Wer aber so altklug daher kommt, wird bei seinem Gegenüber nichts erreichen - außer Blockade.

Und dennoch gibt es Menschen mit einer prophetischen Gabe, die schon lange etwas voraussagen können, bevor die „Ottonormalos“ auch nur etwas ahnen. Die Propheten im Alten Testament waren solche Leute. Sie wurden deshalb auch als Seher bezeichnet. Jesus hatte auch diese Gabe zu sehen, bevor etwas eingetreten ist. Er sah seinen Tod voraus.

 

Und heute? Wer sind unsere Seher?

Wer sieht, was geschehen wird? Wer bereitet uns auf das Kommende vor?

Diejenigen, die ihr Gegenüber sehen,

ansehen – ihm ein Ansehen geben – ihm sein Ansehen wieder zurück geben,

Diejenigen sind unsere Seher, die ihr Gegenüber annehmen und wahrnehmen, wie sie in Wahrheit sind.

Wer gesehen wird, wird nicht verloren gehen,

kann seinen Weg gehen.

Gesehen werden ist notwendig.

Andere Menschen zu sehen, wie sie wirklich sind, können die Schwächsten unter uns:

Kinder haben ein feines Gespür für andere.

Aber auch Kranke, Alte, Trauernde, die vom Leben Zerbrochenen.

Diese Menschen haben oft vielmehr den Blick für das Wesentliche eines anderen Menschen. Die Gesunden und Erfolgreichen lassen sich allzu oft nur auf die äußeren Kennzeichen ihres Gegenübers ein. Sie sehen, was der andere nach außen hin von sich preisgibt. Das innere des Menschen nehmen sie meist gar nicht wahr.

Die verstorbene Frau aus dem Altenheim hatte kein leichtes Leben hinter sich. Sie war die älteste Tochter, die immer im Schatten ihrer Schwester stand. Ihre Schwester war eine Schönheit, so wurde erzählt, und sie selbst von einem schweren Sturz beim Reiten gezeichnet. Sie musste aus Ostpreußen fliehen, verlor sehr früh ihren Ehemann und wurde in den letzten Jahren ihres Lebens immer einsamer.

Sie war ein schwieriger Mensch, bestätigten mir alle, die beim Leichenschmaus zusammen saßen. Da erzählte ein junger Mann: „Ja, die Verstorbene war schwierig. Ihr selbst wurde es ja auch nicht leicht gemacht. Aber sie war die einzige, die mich als Kind gesehen und erkannt hat, dass ich krank bin. Nur weil sie meine Eltern darauf aufmerksam gemacht hatte, konnte mir geholfen werden. Wäre sie nicht gewesen, wäre mein Leben anders geworden. Deswegen habe ich in den vergangenen Jahren einmal im Jahr den weiten Weg auf mich genommen und sie besucht und bin heute noch einmal hierher gekommen, um bei ihrer Beerdigung dabei zu sein. Aus Dankbarkeit.“

Die vom Leben Gezeichneten haben oft ein feineres Gespür für die Not der anderen. Sie sehen die Menschen, wie sie wirklich sind.

 

Das schwierigste ist das Sehen - Erkennen - Benennen und nicht zuletzt auch Bekennen.

Der schwierigste Schritt bei der Genesung einer Suchterkrankung ist das Bekennen der eigenen Sucht. Daher lautet der erste von zwölf Schritten bei den Anonymen Alkoholikern: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“[1]

Der zweite Schritt ist die Erkenntnis, dass sie alleine den Weg nicht aus der Sucht herausfinden werden: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“

Für die Anonymen Alkoholiker sind beide Schritte NOT-wendig. Diesen Weg gehen, wird ihre Not wenden.

Jesus hat keine Zeit mehr, der Fürst der Welt kommt und wird ihm ein Ende bereiten - zumindest ein weltliches. Der Jesus im Johannesevangelium weiß: „Nein, mein Ende wird dies nicht sein. Denn der Fürst der Welt hat keine Macht mehr über mich, weil mein himmlischer Vater größer ist als alle Mächte und Fürsten dieser Welt.“

Wie aber kommt es eigentlich zu einer Sucht? Wie lange kann man noch miteinander reden, in einer Beziehung bleiben, bis der Fürst der Welt, der Alkohol, die Macht über einen gewonnen hat?

Das Gedicht „Was man so sagt“ von Kristiane Allert-Wybranietz beschreibt den Weg in die Sucht.

 

Was man so sagt


Als sie lachte,
sagte man ihr, sie sei kindisch.
Also machte sie fortan ein ernstes Gesicht.
Das Kind in ihr blieb,
aber es durfte nicht mehr lachen.

Als sie liebte,
sagte man ihr, sie sei zu romantisch.
Also lernte sie, sich realistisch zu zeigen.
Und verdrängte
so manche Liebe.

Als sie reden wollte,
sagte man ihr, darüber spreche man nicht.
Also lernte sie zu schweigen.
Die Fragen, die in ihr brannten,
blieben ohne Antwort.

Als sie weinte,
sagte man ihr, sie sei einfach zu weich.
Also lernte sie die Tränen zu unterdrücken.
Sie weinte zwar nicht mehr,
doch hart wurde sie nicht.

Als sie schrie,
sagte man ihr, sie sei hysterisch.
Also lernte sie, nur noch zu schreien,
wenn niemand es hören konnte,
oder sie schrie lautlos in sich hinein

Als sie zu trinken begann,
sagte man ihr, das löse ihre Probleme nicht.
Sie solle eine Entziehungskur machen.
Es war ihr egal, weil ihr
schon so viel entzogen worden war.

Als sie wieder draußen war,
sagte man, sie könne jetzt von vorn anfangen.
Also tat sie, als begänne sie ein neues Leben.
Aber wirklich leben konnte sie nicht mehr,
sie hatte es verlernt.

Als sie ein Jahr später
sich versteckt zu Tode gefixt hatte,
sagte man gar nichts mehr.
Und jeder für sich versuchte,
leise das Unbehagen mit den Blumen
ins Grab zu werfen.

Keiner hat diese Frau gesehen. Keiner hat ihre Not wahrgenommen. Keiner hat sie angenommen, so wie sie war, wie sie sein wollte. Sie hat nach einen Weg für sich gesucht und hat ihn im Alkohol gefunden. Und später in den harten Drogen. Es war eine Suche ohne Ende. Die Suche wurde zur Sucht.

Der Fürst der Welt konnte die Macht über sie ergreifen und riss sie in den Tod.

Steht auf und lasst uns von hier weggehen. Jesus appelliert an seine Jünger. Sie werden hinaus gehen in den Garten, wo sich die Jünger immer trafen. Dort wird Judas die Soldaten hinführen. Jesus fordert seine Jünger auf, sich dem Schicksal auszusetzen.

Die Anonymen Alkoholiker wollen Betroffenen helfen von ihrer Sucht loszukommen. Allerdings wer Hilfe von den Anonymen Alkoholikern erwartet, muss selbst aktiv werden. Er muss selbst in sich den Wunsch spüren, mit dem Trinken aufzuhören. Er muss selbst aufstehen und zu einem Treffen hingehen. Er muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.

In den Gruppen der Anonymen Alkoholiker werden die Suchtkranken gesehen, weil sie sich dort vorbehaltlos zu erkennen geben können. Alle dort kennen ihre Not. Sie werden nicht beschämt wegen ihrer Abhängigkeit. Sie werden wahrgenommen und angenommen, so wie sie dort ankommen.

Das Ziel der Anonymen Alkoholiker ist, dass keiner an den Fürst der Welt, dem Alkohol, verloren gehen soll. Deshalb übergeben sich die Anonymen Alkoholiker einer höheren Macht. Das ist NOT-wendig. Diese Macht hilft ihnen, ihre Not zu wenden.

 

Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.

 

Liebe Gemeinde,

den Frieden, den wir schon haben mit uns selbst und mit anderen, möchte Christus uns nicht nehmen. Diesen Frieden lässt er uns.

Seinen Frieden aber gibt er uns. Er hat ihn seinen Jüngern gegeben, weil er sich nicht dem Fürst der Welt gebeugt hat, sondern bis zum bitteren Ende getan hat, was sein Vater ihm geboten hat. Er hat es aus Liebe zu seinem Vater getan.

Aus Liebe zu seinen Menschen hat Gott seinen Sohn von den Toten erweckt und gezeigt, dass seine Macht größer ist als alle anderen Mächte dieser Welt.

Nur durch das Kreuz wurde die Macht Gottes sichtbar. Nur in ihrem eigenen Leid haben die Jünger die Macht Gottes wahrgenommen. Nur durch Kreuz und Auferstehung erkannten sie die Wahrheit Gottes.

Den Friede Christi bekommt, wer durch Kreuz und Leid hindurchgehen musste. Das ist das erschreckende und fürchterliche am christlichen Glauben. 

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

 

 

 

[1]     https://www.anonyme-alkoholiker.de/download/00texte_kompl.pdf [abgerufen am 18. 2. 2016]

 

 [1]



Pfarrerin Andrea Schmolke
D-91207 Lauf
E-Mail: schmolke.andrea@web.de

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