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ISSN 2195-3171

Predigtreihe: Passionszeit / Lent 2016, 2016

------------------------2.3.2016, verfasst von Thomas Bautz

Liebe Gemeinde!

Von allen Schriften des Neuen Testaments sind das JohEv und die JohBriefe im einfachsten Griechisch verfasst. Die verwendeten Metaphern und Symbole sind im Vergleich zu den synoptischen Evangelien (Mk, Mt, Lk) sehr auffällig, weil sie einem Denken in Gegensätzen dienen, einem Dualismus, der mich an den Binärcode der Maschinensprachen für Computer erinnert: „1/0“ oder „wahr/falsch“ oder „an/aus“. Bei Joh heißt das: „Licht/Finsternis“, „Jesus und die Jünger“/„die Welt und Sünde“, „Wahrheit/Lüge“, „Liebe/Hass“, „Geist/Fleisch“, „glauben und gerettet/nicht glauben und verloren“ usw.

Der Dualismus glaubt an „zwei Prinzipien als deutlich unterscheidbare Ursachen zweier verschiedenartiger Bereiche der vom Menschen wahrgenommenen Wirklichkeit“; er ist eine „Antwort auf die grundsätzliche Antinomie (logischer Widerspruch) jeder Weltanschauung, die von der Existenz eines Schöpfergottes ausgeht“ (RGG 2, 4. Aufl., Dualismus, Sp. 1005).

Im Denken, Glauben und Reden haben wir es stets mit einer Konstruktion der Wirklichkeit zu tun; demzufolge konstruieren Menschen auch Gegensätze, stellen Polaritäten auf, die dann weit reichende Konsequenzen nach sich ziehen. Es ist offensichtlich ein zutiefst menschliches Bedürfnis, die dunklen Seiten unserer Spezies eher beim anderen zu sehen; Bedrohliches eher beim Fremden zu erkennen; Feindseliges bei den Anhängern einer anderen Religion pauschal zu unterstellen. Es ist ein verdammt einfaches Denken, womöglich „die ganze Welt“ als böse anzusehen, dem eine relativ kleine Schar Auserwählter gegenübersteht.

Solches Denken löst Hass auf beiden Seiten aus, wie der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Manfred Kock, in einer Predigt zum gleichen Text (Joh 15,18-21) 30. Okt. 2005 unterstrichen hat, worin er auch vom „Hass der Glaubenden gegen die Welt“ spricht. Das antagonistische Denken - beide Lager als Gegenspieler - führt bei geschickter Manipulation zu Verfolgungen, wenn erst einmal durch Demagogie und Machtmissbrauch die Gemüter aufgeheizt worden sind. Natürlich kann man Böses oft eindeutig identifizieren, beim Namen nennen und Täter vor Gericht bringen. Aber darum geht es beim Dualismus gar nicht.

Beim Denken in Gegensätzen oder beim „Schwarz-weiß-Malen“ dominiert die Fiktion: Man zeichnet oder entwirft unvereinbare Diskrepanzen, Kontraste, Differenzen - zwei Welten, die einander widersprechen: entweder - oder, tertium non datur (ein Drittes ist nicht gegeben). Gut oder böse, Licht oder Finsternis, glaubend oder nicht glaubend, gerettet oder verloren; für sich genommen, als Denk- und Glaubenssystem, ist der Dualismus konsequent logisch, aber er geht an der Wirklichkeit und an der Natur des Menschen vorbei.

Zur Verdeutlichung greife ich Metaphern auf, die wir bei Jesus von Nazareth (Mt 7,15-21) finden. Bin ich ein „guter“ Baum, bringe gute Früchte, bin ich ein „fauler, schlechter“ Baum und bringe demzufolge schlechte Früchte? Werde ich auf Grund meines Glaubens immer „gute“ Früchte hervorbringen? Jeder Obstbauer, jeder von uns weiß: Obstbäume werfen nicht jedes Jahr gleich viel Obst ab, und es gibt Jahre, da ist die Ernte gleich null. Doch deswegen wird kein Obstbauer den betreffenden Baum fällen. Diese Metaphorik lässt sich nicht direkt auf Menschen übertragen; der Zusammenhang aber lehrt, dass der Nazarener vor falschen Propheten, Scharlatanen und Fanatikern warnt, die im frommen Gewande daherschreiten.

Man solle sie nach ihrem Tun kritisch beurteilen. Es genügt keineswegs, sich pietätvoll auf Jesus zu berufen. Vielmehr gilt: Wenn ich mich womöglich für einen guten Baum halte, der gute Früchte bringt, dann soll ich auch „vollkommen“ sein („wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“), oder ich soll dazu stehen, dass ich nicht permanent „gut“ sein kann. Der Gründer der Tiefenpsychologie und Arzt Carl Gustav Jung bezeichnet dies als Akzeptieren des eigenen Schattens. Ich darf dazu stehen, dass ich schlechte Seiten an mir habe. Das dualistische Denken aber vereitelt diesen gesunden Realismus (1 Joh 3,8a.9):

„Wer Sünde tut, der ist vom Teufel. (…) Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Kinder bleiben in ihm und können nicht sündigen; denn sie sind von Gott geboren.“ In der Auffassung von „Sünde“ gibt es deutliche Parallelen zwischen 1 JohBrief und JohEv (s. R. Metzner: Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, 287ff). Dualistisches Denken ist beiden Schriften zu eigen: z.B. „Licht/Finsternis und Wandel in der Finsternis“, „Wahrheit und die Wahrheit tun/Lüge“. Der Dualismus verschärft sich noch in der pauschal wirkenden Konfrontation Jesu mit „den“ Juden, wo bei den synoptischen Evangelien klar unterschieden wird: der Nazarener führt dort Streitgespräche mit Pharisäern, Schriftgelehrten, Sadduzäern.

Im JohEv gewinnt man den Eindruck, dass „die Juden“ mit „der Welt“ als Gegenpol zu Gott und Jesus symbolisch gleichgestellt oder zumindest als Teil „der Welt“ im negativen Sinne dargestellt werden (cf. L. Kierspel: The Jews and the World in the Fourth Gospel, 161-181). Diese Perspektive kulminiert im ungeheuerlichen Vorwurf, „die Juden“ (die an ihn glaubten) hätten „den Teufel zum Vater“, den „Mörder von Anfang an“, den „Vater der Lüge“ (Joh 8,31a.44). Nicht umsonst hat man im JohEv (zum Teil auch bei Paulus) Tendenzen zu einem Antijudaismus erkannt. Er bildet fortan immer wieder eine Quelle für weitere Ausformungen und Fundierungen antijudaistischen Denkens. Die auffälligsten Erscheinungen muss man bei Martin Luther, in der Luther-Renaissance (1917-1937) und im Nationalsozialismus sehen.

Antijudaismus ist vermutlich ein Symptom eines tiefer liegenden, vielschichtigen Problems. Ich möchte kurz andere Dualismen ansprechen. Es geht darum, Unterschiede zu akzeptieren, aber zu vermeiden, sie als Polaritäten aufzufassen. Wir werden keine Gegensätze nivellieren oder aufheben, wenn sie der von uns wahrgenommenen Wirklichkeit entsprechen. Aber wir sollten uns dessen bewusst werden, wo wir Gegensätze künstlich aufbauen und pflegen.

  1. a) Außen und Innen: Die Außenwelt - dazu gehören unsere Mitmenschen, soziale Bindungen, Geschäftsbeziehungen, Arrangements, Situationen, Ereignisse -, wie wir sie wahrnehmen, wird von uns (meist unbewusst) gefiltert. Wir bilden Muster, Schemata, „Schubladen“ und Vorurteile, um uns „die Welt“ einfacher, gefügiger zu gestalten, damit wir unseren optimalen Nutzen aus allem und von jedem ziehen können. Ich vermute, dass nur wenige es wagen, die Anstrengung unternehmen, nach innen zu schauen.

Dies wird erschwert in einer Gesellschaft, die sehr vom Konkurrenzdenken und -verhalten, von Leistungsdruck und vom Materialismus oder Wohlstandsdenken geprägt ist. Einzelne Menschen oder Gruppen werden mit Etiketten versehen, die antagonistisch geprägt sind: „strebsam/faul“, „untätig, arbeitslos/erfolgreich“, „einfach strukturiert/gebildet, intellektuell“, „kirchlich/nicht kirchlich“, „fromm/ungläubig“, „religiös/nicht religiös“, „Christen/Muslime“, „Deutsche/‘Ausländer‘, Asylanten“, „Deutsche, Europäer/Flüchtlinge“.

Der oder das Andere und der oder das Fremde werden oftmals als Störfaktoren empfunden, wobei man sich meist der eigenen, tief innen sitzenden Ängste gar nicht bewusst sein mag. Man fürchtet erhebliche wirtschaftliche Einschränkungen, soziale Nöte wie Probleme bei der Verständigung - falls man überhaupt ein kommunikatives Verhalten anstrebt. Man befürchtet eine kulturelle und religiöse Überfremdung und sieht in dem bereits konstruierten Feindbild einer schleichenden Islamisierung eine Bedrohung. Ironischer- und tragischerweise müssen wir faktische und potentielle Gewalttaten aus dem komplexen rechtsextremistischen Lager wie auch terroristische Akte aus islamistischen Kreisen verzeichnen.

Plakatives und dualistisches Denken wäre fatal: Es sind keineswegs „die“ Deutschen gegen Ausländer oder gegen Asylanten oder gegen Flüchtlinge oder gegen Muslime; vielmehr ist es noch eine Minderheit in Deutschland, die allerdings auf verschiedene Weise versucht, so viele Menschen wie möglich zu indoktrinieren: einmal lautstark mit demagogischen Parolen, die zum Aufwiegeln einer Menschenmenge geeignet sind; ein anderes Mal auf subtile Weise, die sich nicht scheut, nationalsozialistisches Gedankengut einfließen zu lassen. Abgesehen von einer gewissen nationalistischen Haltung: mein Land, meine Kultur, meine Religion, mein Wohlstand usw. gibt es außer Angst vor dem Fremden m.E. noch ein Einfallstor für eine mögliche Affinität zum Rechtsradikalismus, nämlich die eigene Unzufriedenheit. Wenn sie nicht durch eine hilfreiche „Innenschau“ erkannt und verarbeitet wird, kann sie ungeahnte Aggressionen und unter entsprechenden Umständen sogar Gewalthandlungen hervorbringen.

  1. b) Liebe und Hass:

Aus der Sicht des Nazareners ist es nichts besonderes, nur die Menschen zu lieben, deren Gegenliebe uns sicher ist oder nur denjenigen wohlgesonnen zu sein, die uns sympathisch sind. In der Bergpredigt (Mt 5,43-48) findet sich eine entsprechende Zuspitzung:

„Ihr habt gehört, daß geboten worden ist (cf. Lev19,18): ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen!‘ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger, damit ihr euch als Söhne (bzw. Kinder) eures himmlischen Vaters erweist. Denn er läßt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und läßt regnen auf Gerechte und Ungerechte. (…) Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Ein Gebot zum „Feindeshass“ findet sich so nicht im Alten Testament; Mt will hier nur klar stellen, dass Nächstenliebe nicht exklusiv praktiziert werden darf; niemand ist von der Liebe auszuschließen. In dieser Hinsicht sollen diejenigen, die Liebe oder Nächstenliebe „auf ihre Fahnen schreiben“, tatsächlich vollkommen sein. Diesen Anspruch zu erfüllen, ist sicher als Ganzes kaum möglich. Doch ist m.E. die gesamte Bergpredigt ein hilfreicher Maßstab für alle, die ein „Gott wohlgefälliges“ und Menschen hilfreich dienendes Leben führen wollen: ein Korrektiv, an dem man sich orientieren kann.

Wenn dort von Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten die Rede ist, denke ich an das Bildwort von den Obstbäumen und bilde diese Analogie: Kaum jemand ist nur gut oder nur böse; niemand ist nur gerecht oder nur ungerecht. Ich meine, dass Jesus von Nazareth, anders als Joh, das Denken in Gegensätzen, die Dualismen, ad absurdum geführt hat. Zumindest hat er angemahnt, erst einmal in den Spiegel zu schauen und sich selbst kritisch zu betrachten, bevor man anderen Menschen mit Vorurteilen begegnet und mit ihnen hart ins Gericht geht. Das bedeutet natürlich nicht, die Augen vor offenkundiger, spürbarer Feindschaft zu schließen.

Im Gegenteil: Akzeptanz, Liebe und Toleranz betreiben keine Augenwischerei; die Blicke sind geschärft, der Verstand bleibt nüchtern und sachlich, wodurch das Urteilsvermögen nicht getrübt wird. Ein Blick in die Geschichte des Frühchristentums zeigt, dass es im 1. Jh. kaum Verfolgungen gibt; dass man den Christen weitgehend mit Toleranz begegnet, auch deshalb, weil sie für die Anfangszeit dem Judentum subsumiert werden. Ebenso müssen sich Christen noch nicht dem Kaiserkult fügen. Schließlich ist Rom nur eingeschritten, wo die politische und gesellschaftliche, öffentliche Ordnung aus römischer Perspektive gestört schien.

Die sehr komplexe römische Religion war überaus tolerant und hätte das Christentum ohne weiteres integrieren können; allein der monotheistische Absolutheitsanspruch der Christen kollidierte mit dem offeneren römischen Polytheismus bzw. religiösen Pluralismus. Ein weiterer, scheinbar neuer Dualismus war geboren: „Christus/Caesar“, „Gott/Kaiserkult“, „Christus/die Welt“, „Licht/Finsternis“, „Wahrheit/Lüge“, „Liebe/Hass“ usw.

Gestatten Sie noch ein Wort zum Dualismus „Liebe/Hass“. Es gibt berechtigten Hass, den ich z.B. einem Überlebenden von Auschwitz zubillige, oder den Eltern eines ermordeten Kindes, oder den Opfern eines unverschuldeten Unfalls u.va. Da ist Hass ein unerlässliches Ventil. Hass kann aber auch eine Macht verkörpern, die man sich im Grunde gar nicht wünscht, die schleichend übermächtig zu werden droht. Dann muss ich mit Menschen meines Vertrauens dringend ins Gespräch kommen, um diesen Hass in eine neutrale Energie umzuwandeln. Aber wir sollten keine Angst haben vor diesem starken Gefühl.

Amen.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

Bemerkung:
Rainer Metzner: Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122 (2000);
Lars Kierspel: The Jews and the World in the Fourth Gospel, WUNT 220 (2006);
Takashi Onuki: Gemeinde und Welt im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur Frage nach der theol. und pragmatischen Funktion des johanneischen „Dualismus“, WMANT 56 (1984); Luise Schottroff: Der Glaubende und die feindliche Welt. Beobachtungen zum gnostischen Dualismus u. seiner Bedeutung für Paulus und das Johannesevangelium, WMANT 37 (1970); Otto Böcher: Der johanneische Dualismus im Zusammenhang des nachbiblischen Judentums (1965).


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